Rhein-Neckar, 23. Juni 2016. (red/pro) Heute ist ein Mensch erschossen worden. Dieser soll zuvor nach ersten Informationen bewaffnet und maskiert das Kinopolis in Viernheim „gestürmt“ haben. Noch gibt es keine validen Informationen zum mutmaßlichen Täter, dessen Motiv und was eigentlich genau passiert ist. Aber die „mediale Öffentlichkeit“ überschlägt sich. War es ein terroristischer Anschlag? Es gibt keine Hinweise darauf, aber Hauptsache, die Frage ist gestellt.
Von Hardy Prothmann
Was ist heute eigentlich passiert und wie ordnet man das ein? Wir geben Ihnen einen Einblick darauf, wie wir das machen.
Der Tag begann sonnig – am Nachmittag war ein Mensch tot
Es ist der 23. Juni, ein Donnerstag und der Tag dautet nicht darauf hin, besonders spannend zu werden. Gegen 15: 30 Uhr bekommen wir Hinweise auf einen Großeinsatz der Polizei in Viernheim. Von Lesern. Wir bemerken das allerdings erst kurz vor 16 Uhr. Wir checken sofort alle verfügbaren Quellen. Was wir finden, klingt nach „Horror“ – 25, möglicherweise 50 Verletzte. Ein verschanzter Geiselnehmer. Schwer bewaffnet. Schießt um sich. Großaufgebot. SEK im Einsatz. Die Bild-Zeitung nennt es „Amoklauf“.
Wir checken weiter unsere Kontakte und Kanäle. Irgendwas stimmt nicht – bei einer solchen „Schadenslage“ müsste sehr viel mehr los sein. Am „Desk“, also Schreibtisch in der Redaktion beobachtet eine Mitarbeiterin die Meldungen anderer Medien und checkt unsere Quellen. Ich fahre raus.
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Vor Ort ist die Lage schnell klar – ein Mann wurde erschossen, der zuvor angeblich maskiert und angeblich mit einer „Langwaffe“, also einem Gewehr „Geiseln“ genommen haben soll. Wir berichten das im „Konjunktiv“. Vor Ort kann die Polizeisprecherin nicht bestätigen, dass es eine Langwaffe war. Sie kann auch nicht bestätigen, dass es zu einer Geiselnahme gekommen ist. Sie kann lediglich bestätigen, dass ein Mann erschossen worden ist.
Auch die Staatsanwaltschaft Darmstadt, die die Presseauskünfte an sich gezogen hat, kann nicht viel mehr sagen – wie auch? Können wir Journalisten wirklich kurz nach dem Geschehen einen detaillierten Lagebericht erwarten? Ganz sicher nicht.
Bedrohungslage geklärt
Die wichtigste Botschaft ist: Die offensichtliche Bedrohungslage ist „geklärt“. Es gibt Lokalzeitungen, die tatsächlich über Leute berichten, die mal eben einen Kaffee trinken wollten und dann stundenlang warten mussten. Und sogar sauer sind deswegen.
Das sind Momente, in denen ich mich für meinen Berufsstand schäme. Ich muss mich nicht schämen, ich bin ja nicht verantwortlich für den Quatsch, den andere als Journalismus verbreiten. Aber mal im Ernst: Es ist mir scheißegal, ob sich jemand beim Kaffeetrinken gestört fühlt oder sich ärgert, dass er nicht an sein Auto kommt, wenn gerade Menschen in Gefahr waren und ein Mensch erschossen worden ist. Gehts noch?
Ich stelle mir ganz andere Fragen. Der oder die Beamten, die den Mann erschossen haben, hatten auch einen normalen Donnerstag. Dann ist plötzlich ein Mensch tot. Ich hoffe, dass die Beamten richtig gehandelt haben. Sie müssen in absoluten Ausnahmesituationen Entscheidungen über Leben und Tod treffen. Das ist hart. Ganz hart. Auch, wenn andere Medien sich lieber um verärgerte Café-Besucher kümmern.
„Informationen“ gehen durcheinander
Die Informationen zum Vorfall gehen durcheinander. War es ein Schuss, den die Person abgegeben hat, waren es vier, waren es Salven? Das muss man in Frage stellen. Schließlich gibt es auch keine Dutzende von Verletzten – es gibt genau keine Verletzten. Gab es die Schüsse überhaupt? Ist die „Waffe“ echt oder nicht?
Der Tatverdächtige soll jung sein, maskiert gewesen sein und „verwirrt“ – was heißt das? Er soll akzentfrei deutsch gesprochen haben und soll laut Medien zwischen 18-22 Jahre alt sein. Wer sagt das? Wie glaubwürdig sind „Augenzeugen“? Für uns sind Augenzeugen eine mögliche Quelle und erstmal nie glaubwürdig. Unserer Erfahrung nach. Wir ziehen immer alles in Zweifel – und das ist gut so. An dieser Stelle erinnern wir nur an die „Augenzeugen“ beim Tötungsdelikt vor der H4-Wache in Mannheim, wo gewisse Medien alles Mögliche verbreitet haben, was sich hinterher als kompletter Blödsinn herausgestellt hat.
Es gibt Leute, die vermuten sofort eine „Verschwörung“, weil sechs Stunden nach dem Vorfall noch nicht „alles auf dem Tisch“ liegt. Hier werde die Öffentlichkeit doch getäuscht. Nochmal die Frage: Gehts noch?
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Die Umstände, was genau zwischen 14:40 Uhr und dem Tod (Zeit der Schussabgabe unklar) des mutmaßlichen Geiselnehmers passiert ist, werden die Behörden gerichtsfest zusammentragen müssen. Da es offenbar keine Geiselnahme gab und der Täter möglicherweise alleine war, als er möglicherweise im Foyer des Kinopolis erschossen worden ist, wird dies eine diffizile Arbeit sein.
Wie eklig
Es wird festgestellt werden müssen, ob die Schussabgabe gerechtfertigt war oder nicht. Vielleicht war die Person tatsächlich verwirrt und hat mit einem Spielzeuggewehr einen auf Rambo gemacht – wissen Sie das? Wir wissen es nicht. Polizei und Staatsanwaltschaft auch noch nicht.
Am späten Nachmittag war die Identität laut Staatsanwaltschaft Darmstadt noch unklar – klar war aber, dass es eben kein „Terrorakt“ war. Handgranaten, Sprengstoffgürtel? Alles Nonsens. Trotzdem wurde in manchen Medien weiter darüber spekuliert. Sogar weltweit. Über Twitter ging es um die Welt. Warum? Ganz ehrlich? Weil das einfach „geil“ wäre – da steigt die Aufmerksamkeit sprunghaft. Wie eklig.
Ich mag solche Einsätze überhaupt nicht – klar, auch ich weiß, wie hoch die Aufmerksamkeit ist. Aber das ist nichts, was mich als leitender Redakteur antreibt. Mir ist es lieber, wenn unsere Hintergrundberichte und Analysen gut gelesen werden und nicht „Tiere, Titten, Tote“, die Erfolgsformel aller Boulevard-Medien und solcher, die diesen nacheifern und nicht mit Inhalten, sondern nur mit „blutigen Schicksalen“ ihr Geld machen wollen.
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Lesetipp – Beobachtungen am Tatort nach einer Schießerei – 120.000 Mal aufgerufen
Ich bin fassungslos – krass geht anders
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Ich hoffe sehr für den oder die Beamten, dass sie richtig gehandelt haben in der Situation, als ein Mensch erschossen worden ist. Ich habe sehr hohen Respekt vor dem selbstlosen Einsatz der Polizeibeamten und der Rettungskräfte. Und ich hoffe, dass der Schütze im Kreis der Familie oder von Freunden und natürlich Experten gut aufgehoben ist, denn niemand steht an einem Donnerstag auf und findet es vollkommen normal, dass er im Lauf des Tages jemanden töten musste.
Wie ernst die Polizei und andere Behörden mögliche Bedrohungslagen nehmen, hat sich heute gezeigt – vielleicht nimmt man sie aber auch zu ernst? Als Jugendlicher hatte ich einen Schüler in einer Parallelklasse, der vollkommen harmlos war. Ab und an schlich der mit einer Spielzeugwaffe durch die Stadt und mimte einen Einzelkämpfer. Wir haben den armen Kerl belächelt – heute wäre er möglicherweise tot.
Umgekehrt gab es damals keine terroristischen Bedrohungslagen und überhaupt viel weniger „Schreckschuss“-Waffen als heute. Und jeder Beamte ist in höchster Not, wenn jemand mit einer Waffe vor ihm steht – wie soll man wissen, ob diese gefährlich ist oder nicht?
Ich hoffe ebenfalls, dass die Kinopolis-Besucher und die Angestellten den Schrecken über die Bedrohung gut verarbeiten können.
Für Leute, die sich darüber aufregen, dass ihr Café-Nachmittag gestört worden ist und Medien, die sowas „ernsthaft“ berichten, habe ich hingegen genau nur eins übrig: Verachtung.
Schämt Euch.
Update vom 24. Juni: Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Täter um einen 19-Jährigen Deutschen, noch immer gibt es keine Hinweise auf einen politischen oder terroristischen Hintergrund.
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