Dossenheim/Heidelberg/Rhein-Neckar, 21. August 2013. (red) Das Motiv für den Doppelmord von Dossenheim soll ein jahreslanger Streit über Nebenkostenabrechnungen einer Hausverwaltung gewesen sein. Der Täter erschoss sich selbst, nachdem er zwei Personen tödlich getroffen und fünf andere schwer verletzt hatte. Der 71-jährige Todesschütze hat gezielt die Teilnehmer einer Eigentümerversammlung unter Beschuss genommen – andere Personen hatte er nicht im Visier. Staatsanwaltschaft und Polizei haben heute umfangreich über die bisherigen Ermittlungen informiert. Der Fall scheint geklärt. Der Täter ist tot. Deshalb wird es auch keine Anzeige und kein Ermittlungsverfahren geben. Ist damit alles geklärt?
Von Hardy Prothmann
Dossenheims Bürgermeister Hans Lorenz (CDU) ist fassungslos:
Ich kann Ihnen ehrlich nur sagen, dass ich sprachlos bin. Mein Beileid gilt den Hinterbliebenen.
Bis gestern war Dossenheim ein Ort ohne besondere Vorkommnisse. Eine ruhige, fast verschlafene Gemeinde. Seit gestern ist sie bundesweit bekannt. „Blutbad im Tennisclub“, „Amoklauf im Vereinsheim“ titeln Zeitungen. Der Medienauftrieb ist gigantisch. Es ist Sommerloch und eine solche Bluttat ein abend- und seitenfüllendes Topthema.
Vor dem Vereinsheim treffe ich Willi Ortlipp, Vereinspräsident der TSG Germania 1889. Dem Verein gehört die Gaststätte „Ambiente“. Gehobener Standard. Sehr gepflegt. Mit Sonnenterrasse. Herr Ortlipp sagt:
Ich war bis kurz nach 18 Uhr vor Ort. Es war gerammelt voll, weil Herr Dr. Lamers hier eine Veranstaltung hatte. Um 19:15 Uhr habe ich von der Schießerei gehört und bin sofort zurückgekommen.
Auch er ist erschüttert. Denkt an die Angehörigen. Aber auch an den Verein:
Es ist schrecklich, was hier passiert ist. Für alle. Aber es ist auch sehr wichtig zu wissen, dass das alles nichts mit unserem Verein und dem Lokal zu tun hat. Es ist hier nur passiert. Schlimm.
Der Bundestagsabgeordnete Dr. Karl A. Lamers (CDU) war noch am Nachmittag mit Maria Böhmer, Staatsministerin im Kanzleramt, im Lokal. Wahlkampf in der Provinz. Wie viele Menschen waren da?
Es war sehr gut besucht, fast voll,
sagt Herr Ortlipp. Wieviele Menschen das gewesen sein könnten, kann er gerade nicht sagen. Er ist sehr konzentriert, aber sein Blick geht auch immer nach innen. So wie bei einem Vereinskollegen und dessen Frau.
Immer wieder haben alle Tränen in den Augen. Zwischendurch umarmt man sich spontan. Kraft geben. Schmerz teilen.
Kurz nach 18 Uhr habe sich die Gesellschaft dann aufgelöst, schildert Herr Ortlipp alles so präzise, wie es ihm möglich ist. Zum Tatzeitpunkt seien schätzungsweise noch rund 50 Menschen im Lokal gewesen, auf der Terrasse oder auf den Tennisplätzen davor. Darunter ein knappes Dutzend Kinder.

Mitten in Dossenheim wohnte der Todesschütze. Seine Waffen durfte er legal besitzen. Zwei Pistolen und fünf Gewehre. Filip N. war 71 Jahre alt, vorher nicht auffällig. Jetzt ist er der Mörder von zwei Menschen und hat fünf weitere versucht zu töten. Dutzende Anwesende sind geschockt.
Das Nebenzimmer im ersten Stock ist für eine Eigentümerversammlung reserviert. 25-30 Personen passen an die Tische, die in U-Form aufgestellt sind. Neun Personen, darunter der spätere Täter, Filip N. (71) und dessen 70-jährige Frau, sind anwesend. Acht Eigentümer und der Hausverwalter. Wie so oft gibt es Streit.
Der Rentner bezichtigt andere des Betrugs und wird schließlich aufgefordert, die Versammlung zu verlassen.
Er geht und fährt nach Hause. Von seiner Wohnung aus bis zur Gaststätte sind es drei Minuten mit dem Auto. Das Haus nahe der OEG ist sichtbar in die Jahre gekommen, wirkt abgewirtschaftet.
Eine Viertelstunde später kehrt er zurück. Am Tresen trinkt er eine Cola, bezahlt, geht in das Zimmer und ruft:
Ich bringe euch alle um.
Dann eröffnet er das Feuer aus seiner großkalibrigen halbautomatischen Pistole Ceska 75, neun Millimeter Luger. Die Pistole lädt nach jedem Schuss automatisch nach. Ein geübter Schütze verfeuert in Sekunden ein Magazin. Für die Pistole gibt es Magazine von 10-16 Schuss. Filip N. wird ein Magazin abfeuern und nachladen. Er schießt weiter. Gibt auf. Und schießt sich in den Kopf. Nach dem letzten, tödlichen Schuss stecken noch neun Patronen im zweiten Magazin.
Einen 82-jährigen und einen 54-jährigen trifft er tödlich. Die Kugeln durchschlagen den Brustkorb der Opfer, eines trifft er zusätzlich im Oberschenkel. Weitere vier Personen verletzt er (59, 70 und 81 Jahre alt), darunter die eigene Ehefrau (70), die unter einem Tisch mit einer weiteren Eigentümerin Schutz sucht, die unverletzt bleibt. Eine weitere Person entkommt unverletzt und sucht das Weite. Zwei weitere Personen fliehen verletzt aus dem Raum.
13 Mal hat er die Waffe im Versammlungsraum abgefeuert, zwei weitere Schüsse fallen in der Gaststätte, als er die Flüchtenden verfolgt. Dabei wird eine Frau auf der Terrasse durch einen Streifschutz am Kopf lebensgefährlich verletzt. Auf der Terrasse schießt er einmal in die Luft. Der Koch hat sich ins Freie geflüchtet, zwei Kinder angetroffen und diese sowie sich hinter einem anderen Gebäude in Sicherheit gebracht, erzählt Herr Ortlipp.
Als der Schütze aus dem Raum ist, kümmern sich Gäste und Angestellte um die Verletzten. Machen Druck-Bandagen. Ein Opfer verstirbt.
Filip N. begegnet einem Kellner:
Geh aus dem Weg. Ich will Dir nichts tun,
soll er gesagt haben.
Im Eingangsbereich der Gaststätte richtet er dann die Waffe gegen sich selbst und schießt sich in die rechte Schläfe.
Hier findet ihn die Polizei, die um 18:51 Uhr alarmiert worden ist und um 18:57 Uhr eintrifft.
Filip N. ist in einer großen Blutlache zusammengesackt. Er lebt noch, verstirbt aber innerhalb von Minuten.
Das ist extrem schnell abgelaufen,
fasst der Heidelberger Kriminaldirektor Siegfried Kolmar den Ablauf der Tat zusammen. Wie genau die Tat ablief, rekonstruieren zur Zeit noch die Kriminaltechniker. Über das Ziel von Filip N. hat Kriminaldirektor Kolmar keinen Zweifel:
Er hat alles getan, um die Personen der Versammlung zu töten. Die Verletzten hatten einfach nur Glück, nicht tödlich getroffen zu werden.
Unklar ist, was den Ausschlag zur Eskalation der Gewalt gegeben hat. Filip N. galt als Nörgler und „streitbar“ – vielleicht hatte er auch nur einen notorischen „Gerechtigkeitssinn“. Im Dezember 2012 hatte er die Hausverwaltung wegen Betrugs bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Die prüfte und informierte den Eigentümer, dass die Hausverwaltung einen Posten korrigiert habe und der Fall nicht von öffentlichem Interesse sei, sagte Staatsanwalt Florian Pistor. Der private Klageweg sei offen. Es kam zu keinem Prozess:
Die Anzeige war knapp und sachlich formuliert. Er verwendete keine Drohungen oder Schmähungen.
Reicht aber ein Streit über Nebenkosten aus, um zwei Menschen zu töten, es bei sechs anderen zu versuchen und sich dann selbst zu töten?
Staatsanwaltschaft und Polizei haben keine anderen Erkenntnisse, was eine solche Wuttötigkeit ausgelöst haben könnte.
War es ein Kurzschluss? Hinweise auf einen Plan, eine Vorbereitung, eine nachvollziehbare Aneinanderkettung von Gründen gibt es keine. Staatsanwaltschaft und Polizei erteilen offen Auskunft. An dieser Stelle hat man den Eindruck, sie zucken mit den Schultern. „Keine Ahnung“, könnte das heißen und weiter: „Wir können uns das auch nicht richtig erklären.“
Denn bislang war der Rentner behördlich nie aufgefallen, sagen Staatsanwaltschaft und Polizei bei der heutigen Pressekonferenz. Nach den Ermittlungen lagen weder schwierige finanzielle Verhältnisse vor noch sonstige „problematischen“ Lebensumstände, sondern „geordnete Verhältnisse“. Es gibt auch keine Hinweise auf eine schwere Erkrankung. Ebensowenig Hinweise auf einen Plan für die Tat. Kein Abschiedsbrief, keine Andeutungen, keine Drohungen im Vorfeld. Es gab öfter Streit. Sonst nichts.

(von links) Alexander Schwarz, Leiter der Staatsanwaltschaft, Siegfried Kollmar, Leiter der Kriminalpolizei Heidelberg, Kriminalrat Marcus Winter, Ermittlungsleiter
Vielleicht gab es mehr Streit als sonst und in Filip N. hat sich etwas zusammengebraut.
Wir erfahren über unsere Recherchen, dass es vor zwei Tagen ein kurzes Handgemenge zwischen Filip N. und dem 54-jährigen Todesopfer im Treppenhaus gegeben haben soll.
Eine erste Gewalthandlung also. Aber unangezeigt. Kein Anlass, sich Sorgen zu machen. Filip N. hatte zuvor nur genörgelt oder angezeigt. Warum wurde er handgreiflich?
Seit 1979 besaß der frühere Arbeiter die Wohnung. Die Tatwaffe kaufte er 1992. Er besaß zudem eine kleinkalibrige Sportpistole sowie fünf Langwaffen. Sieben insgesamt. Alle legal. Alle auf ihn eingetragen. Zuletzt wurde die ordnungsgemäße Lagerung der Waffen vor zwei Jahren behördlich überprüft. Keine Beanstandungen.
Ob alle Waffen vorhanden sind oder vielleicht sogar noch mehr, ist noch unklar – die Polizei hat den Waffenschrank gesichert, aber bislang noch nicht geöffnet bekommen.
Filip N. war ein geübter Sportschütze, der bis zuletzt trainierte und an Wettbewerben teilnahm. In mindestens zwei Sportschützenvereinen war er Mitglied. Sehr erfolgreich. Dutzende Pokale und Medaillen fand die Polizei in der Wohnung. Bis auf die nachbarschaftlichen Streitigkeiten war der Mann „unauffällig“.
Die Staatsanwaltschaft wird die Akten vermutlich bald schließen. Der Fall ist „klar“.
„Politische Antworten“ auf Fragen wie: „Wofür brauchen Sportschützen großkalibrige Waffen“, wird keiner der Anwesenden beantworten. Vollkommen zu recht. Denn das ist eine politische Frage.
„Warum?“ werden sich die Hinterbliebenen fragen. Auf diese Frage wird es vermutlich keine Antwort geben. „Wie?“ Die Antwort ist klar. Der Sportschütze Filip N. hat seine „Sport“waffe zum Killerinstrument gemacht. Die Überlebenden hatten Glück. Mehr nicht.
Die Medien (wir gehören auch dazu) berichten solange es einigermaßen „interessant“ ist. Dann ziehen sie weiter (wir nicht, wir sind von hier und berichten weiter). Ob Amoklauf, Mord – wie man das einordnet, ist fast egal und doch nicht. Man muss es einordnen, verstehen können.
Herr Kolmar sagt:
Der Fall ist sehr ungewöhnlich. Die typische Klientel in so einem Fall ist zwischen 20 und 40 Jahre alt, männlich.
Filip N. war kein typischer Fall. 71 Jahre alt. Unauffällig. Sportschütze. Aber im Stress.
War er ein Amokläufer? Dafür spricht wenig. Er hatte vielleicht einfach nur die Schnauze voll. Und er hatte ein Waffe. Vielleicht hatte er auf alles einfach „keinen Bock“ mehr und einen „erweiterten Suizid“ begangen. Zum ersten Mal in seinem Leben auffällig.
Bürgermeister Lorenz, Vereinspräsident Ortlipp und weitere Personen in Dossenheim machen sich Gedanken, wie der Ort darüber hinwegkommt. Über diese schreckliche Bluttat, die so überhaupt nicht nach Dossenheim passt. Verübt von einem Rentner. In einer Vereinsgaststätte. An einem Dienstagabend. Wie geht man damit um? Was muss man tun, damit das Leben wieder im Ort so einfach wie immer sein kann?
Es war so ein schöner Tag. Und er endete schrecklich.
Drei Tote. Fünf Schwerverletzte. Geschockte Menschen. Trauernde Angehörige.
Wegen eines Streits um eine Nebenkostenabrechnung?
Kein Wunder, dass die Menschen fassungslos sind.