Rhein-Neckar, 16. Januar 2017. (red/pro) Muss man dankbar sein, dass es die AfD gibt? Das ist die falsche Frage. „Was ist passiert, seit es die AfD gibt?“, ist die interessante Frage. Kaum eine Partei hat seit ihrer Gründung 2013 für mehr Wirbel gesorgt als diese Rechtskonservativen – und die Wahlerfolge sind atemberaubend. Sie ist Oppositionspartei und wird das auf geraume Zeit auch bleiben. Und sie ist der natürliche Gegner oder Partner der CDU – auch, wenn diese These noch kaum einer wahrhaben will. Die AfD scheint von anderen Parteien getrieben zu werden – andersherum wird ein Schuh draus. Dabei bietet die AfD den „etablierten“ Parteien jede Menge Chancen – die muss man nur ergreifen.
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Von Hardy Prothmann
Ein erfolgreicher Boxer wartet auf den Fehler des Gegners, um entscheidende Schläge zu setzen und zu gewinnen. Ein solcher Boxer muss gut trainiert haben. Immer besser als der Gegner – denn Fehler macht man dann, wenn einem die Kondition ausgeht. Die meisten Kämpfe werden durch technisches K.O durch die Kämpfer gewonnen, die technisch und konditionell am besten sind.
Den etablierten Parteien – so meine steile These – ist seit vielen Jahren die Kondition ausgegangen und auch die Technik hat enorm gelitten. Weil die Haltung fehlt. Der Boxring ist kein Ponyhof. Statt „entscheidenden“ Kämpfen lieferte man sich nur noch Schau-Boxen. Und alle wollten in die Mitte, denn das ist in der Politik wie im Boxen, wer die Mitte beherrscht, ist Chef im Ring. Soweit die Theorie.
Kommt jemand, der die langen Wege gehen muss und so viel Kondition hat, dass er nicht müde wird, ist alle Theorie dahin. Auch wenn der, der in der Mitte steht, die Arme hängen lässt und Chancen zum Angriff bietet, weil er selbstgefällig geworden ist. Dann kann es unerwartete Überraschungen geben – die AfD ist eine solche Überraschung.
Erinnern Sie sich noch an die Anfänge der CDU? Ich auch nicht. Da war ich nämlich noch nicht mal geboren. Aber ich weiß durch meine Arbeit, meine Recherchen, wie das damals war.
Die CDU ist nach dem Krieg im wesentlichen aus der Zentrumspartei entstanden. Katholisches Milieu. Sehr konservativ. Die CDU brauchte gut fünf Jahre, um sich aus vielen Konservativen als CDU zu finden und gewann die erste demokratische Wahl 1949 zusammen mit der CSU mit 31 Prozent. Konrad Adenauer, früherer Oberbürgermeister von Köln, wurde am 15. September 1949 zum ersten Bundeskanzler gewählt. Mit einer Stimme Mehrheit. 1950 wurde er der erste Bundesvorsitzende der CDU.
Die CDU wirkte wie ein Schwamm auf Nationale, Nationalkonservative und Rechtskonservative – also Menschen mit einer politischen Haltung, die auch die CDU der AfD heute vorwirft. Bis in die 50er Jahre hinein koalierte sie mit der Deutschen Partei. Wer heute als CDU-Mitglied eine Koalition mit der AfD ausschließt, darf sich setzen. Note: 6. Keine Ahnung von der Geschichte der eigenen Partei. Ein Großteil der deutschen Journalisten darf sich auch setzen und mit einer 6 begnügen, denn die haben nicht nur keine Ahnung von Geschichte, sondern sich auch unfähig zur Recherche.
Kurzum: Die bislang erfolgreichste Partei der Nachkriegsgeschichte, die CDU und ihre bayerische Schwester CSU, waren in den Anfangsjahren immer wieder ein Sammelbecken für hart rechtskonservative Menschen. Und das ging lange so. Achtung: Es geht um die Bundespolitik – landes- und kommunalpolitisch baut die CDU über die Jahre seit der Wiedervereinigung massiv ab. Im Ergebnis bis hin zur ersten „Juniorpartnerschaft“ mit den deutlich stärkeren Grünen in Baden-Württemberg.
Besonders dramatisch ist die Entwicklung der ältesten deutschen demokratischen Partei – der SPD. Sowohl bundes- als auch landes- und kommunalpolitisch. Die SPD war Anfang der 90er Jahre mit fast einer Million Mitgliedern die größte Partei aller Zeiten und hat jetzt gerade mal noch 442.000 Mitglieder – etwa gleichauf mit der CDU mit 434.000 Mitgliedern (wobei der Stand SPD ein Jahr alt ist).
Die SPD war 22 Jahre im Bund stärkste Kraft – die anderen 44 Jahre war es die CDU. Seit 2005 regiert Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel. Zunächst mit der SPD in einer großen Koalition, dann mit der FDP und aktuell wieder mit der SPD. Die FDP ist aktuell nicht vertreten. Weder den Grünen noch Die Linke ist es gelungen, eine überzeugende Oppositionsarbeit zu leisten. Beide Parteien spekulieren nämlich auf eine Regierungsbeteiligung, schwarz-grün oder rot-rot-grün. Es könnte aber so kommen, dass es keine regierungsfähige Mehrheit gibt – dann braucht es Neuwahlen. Eine neue Variante des „Misstrauensvotums“, von dem sich die Altkanzler Kohl und Schröder Vorteile versprachen, möglicherweise auch Merkel.
Dass die AfD den Einzug in den Bundestag schafft, gilt als gesichert. Vermutlich sogar zweistellig. Gehandelt werden 12-15 Prozent, der Trend zeigt möglicherweise noch weiter nach oben. CDU und SPD könnten es gerade so auf rund 53 Prozent schaffen. Schwarz-grün darf ebenso wie rot-rot-grün als illusorisch gelten. Sollte die SPD noch mehr verlieren, wird es kniffelig. Klarer Gewinner als „Newcomer“ wird, egal wie, die AfD sein.
Was hat das nun alles mit der Überschrift zu tun? Wieso sollte man die AfD als „Chance“ begreifen? Die Antwort ist einfach, aber dann komplex. Man kann sich entscheiden, ob man die AfD als „Sparringspartner“ definiert oder als ernst zu nehmenden Gegner, der einen K.O. schlagen kann.
Der einfache Teil: Nicht die AfD ist der Fehler im System, sondern das testierte Ergebnis, dass das bisherige Parteiensystem Fehler hat und Räume aufmacht, die die AfD in atemberaubender Geschwindigkeit besetzen kann. Ok, das klang einfach, ist aber komplex, denn es gibt keine einfachen Antworten.
Der komplexe Teil ist harte Arbeit: Was läuft schief, wenn eine Partei „quasi aus dem Nichts“ und anders als in einer niedergeschlagenen Nachkriegszeit nach Jahrzehnten „stabiler“ Demokratie derart steile Erfolge verzeichnen kann? Warum ist das Vertrauen der Wähler in „etablierte“ Parteien – der überwiegende Teil kommt von CDU, SPD, FDP, aber auch von den Grünen und Die Linke – so dermaßen erschüttert? Weshalb gelingt dieser neuen Partei Nicht-Wähler zu mobilisieren, die die anderen Parteien erst erzeugt haben? Ist das allein der „Flüchtlingskrise“ geschuldet? Hat jemand die Zahlen im Blick? Die AfD hat am 22. September 2013, gerade mal ein halbes Jahr alt, bei der Bundestagswahl mit 4,7 Prozent knapp den Einzug verpasst – von „Flüchtlingskrise“ war da noch keine Rede. Wer diese Mär politisch oder journalistisch weiterverbreitet, handelt grob fahrlässig.
Die Übernahme von AfD-Positionen innerhalb der großen Koalition in Sachen „Flüchtlingspolitik“ konnte die AfD nicht erschüttern. Sie hat weiterhin enorme Erfolge und die Menschen wissen, wer zuerst die Schließung der Grenzen gefordert hat. Die massiven Angriffe durch die „etablierte“ Politik und den überwiegenden Teil der „etablierten“ Medien konnte der neuen Partei nicht schaden – ganz im Gegenteil. Insbesondere die massive Kritik machte die AfD populär – als „Alternative“ zu den „Grün-alternativen“ und zu den anderen Parteien sowieso.
Aktuell hat Erika Steinbach – 40 Jahre lang CDU-Mitglied – die Partei verlassen. Viele werden das als „Erleichterung“ begreifen, doch das ist falsch gedacht. Erika Steinbach ist nicht alleine, sondern hat viel Aufmerksamkeit und sie ist nur die Spitze eines sehr konservativen Eisbergs, der sich wie eine Kappe am Nordpol fühlt. Die „Umgebung“ wird immer instabiler, es geht an die eigene Substanz.
Was aktuell passiert, ist, dass die CDU ihre „Saugfähigkeit“ verliert. Sie kann sehr konservative Menschen immer weniger halten. Und konservative Menschen fallen eher nicht durch gescheiterte Lebensläufe auf. Sie mögen nicht die angenehmsten Zeitgenossen sein, weil sie, statt beweglich, eher beharrlich sind. Weil sie Entwicklungen mit großer Skepsis sehen. Zur Erinnerung – die Bundesrepublik wurde in den Nachkriegsjahren maßgeblich durch die konservative Mehrheit geprägt. Hier wurden Grundlagen für eine „soziale Marktwirtschaft“ gelegt, die nicht umfassend gerecht ist, aber der überwiegenden Mehrheit ein gutes Leben und ordentliche öffentliche Verhältnisse gebracht hat.
Die erste große terroristische Bedrohung war die RAF – die man bis heute fälschlicherweise als „linksextremistisch“ einstuft. Das waren Mörder und Verbrecher mit einer „Pseudo-Haltung“. Übrigens teils ausgebildet in Terror-Camps der PLO, unterstützt durch die DDR. Ulrike Meinhof war Journalistin – aber keine Intellektuelle. Sie wurde von linken Medien wie die RAF „ideologisch“ hochgeschrieben. Frau Meinhof hatte verschrobene Ideen, hat sich verwickelt und kam nicht mehr aus der Sache raus. Mindestens 34 Menschen hat die Bande ermordet.
Die zweite große terroristische Bedrohung war der NSU (Nationalsozialistische Untergrund). Mindestens zehn Morde hat diese kleine Zelle auf der Rechnung. Der NSU hatte aber kein politisches Sendungsbewusstsein. Es waren ebenfalls Bankräuber und Mörder, dazu Rassisten. Vom NSU sind die Täter sonstiger rechter Gewalt zu trennen. Es gibt viele Rassisten, fremdenfeindliche Gewalttäter. Die sind zum Teil sogar gut vernetzt. Aber sie bilden keine ideologische Gemeinschaft, sondern sind einfach nur Kriminelle.
Die staatlichen Überwachungsorgane haben in Sachen NSU komplett versagt, während auf die RAF eine Hatz ohne gleichen gemacht wurde – mit ebenfalls zweifelhaftem Erfolg. Möglicherweise züchteten sich die Verfassungsschutzämter ihre bösen Buben selbst, um ihre Existenzberechtigung zu gewährleisten. Aktuell geht aber eine neue Saat auf.
Eine viel größere Bedrohung ist der islamistisch geprägte Terror – innerhalb kurzer Zeit summiert sich die Zahl der Opfer und wird binnen kurzem den Terror von „rechts“ und „links“ nach „klassischer“ Definition übertreffen. Weltweit gesehen ist das längst der Fall.
Die aktuell vom Bundesinnenminister vorgeschlagenen Maßnahmen erzeugen nur einen Eindruck – nämlich den vom Versagen in der Vergangenheit. Er steht in der Mitte des Rings und fordert zusätzliche Waffen gegen einen Gegner, der schneller ist als er. Der ausweicht, der unfair ist, der sich an keine Regeln hält. Dabei hätten er und seine Kollegen in den Ländern den Gegner Anis Amri bereits in der Ecke und hätten ihn ausschalten können. Mit regelkonformen Mitteln.
Wer sich nicht von der AfD treiben lassen will, macht Sit-ups. Nimmt das Sprungseil. Macht Liegestütze. Geht laufen. Und guckt sich das Handbuch des politischen Kraftaufbaus an. Das ist unser Grundgesetz und die anderen Gesetze. Die AfD bietet die einzigartige Chance, sich neu zu konditionieren, sich fit zu machen, um die Ringmitte zu verteidigen. Auch, wenn dazu gehört, viele Runden um die Mitte zu laufen und oft in den Seilen außen zu landen.
In Branchenkreisen wird seit einiger Zeit „konstruktiver“ Journalismus gefordert. Sprich: Journalisten sollten nicht nur kritisieren, sondern Lösungen vorschlagen. Was für ein Blödsinn – Lösungen schlagen Unternehmensberater für sehr viel mehr Geld vor, als Journalisten bekommen. Journalisten sollten nicht Image-Berater sein, sondern harte Box-Sparringspartner. Jeder Fehler soll weh tun. Das macht aufmerksam und fit.
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Wer den politischen Gegner im Ring stellen will, muss ins Training und den Gegner studieren. Man muss bereit sein, Schläge einzustecken. Ein Profi-Boxkampf ist nach spätestens 12 Runden vorbei. Aber das ist Sport und Show. Politik ist Gesellschaft und deren Zukunft. Es geht um mehr als die eigene Gage.
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