Rhein-Neckar, 14. August 2017. (red/pro) In der Debatte um Fake-News, Wahrheit, Lüge, korrekte und unkorrekte Sichtweisen und Haltungen geht es teils drunter und drüber. Das betrifft auch unsere Berichterstattung. Die Beurteilung läuft von ganz hervorragend bis vollständig unprofessionell. Wer hat Recht? Im Zweifel immer der mit den besseren Argumente, die auch belegt werden können. Doch ist eine vermeintliche Eindeutigkeit immer eindeutig? Meistens nicht – nur wer das versteht, versteht mehr als andere.
Von Hardy Prothmann
Unsere Gesellschaft ist in keiner guten Verfassung. Warum? Weil leider in weiten Teilen der Gesellschaft ganz wesentliche Kenntnisse zur Verfasstheit unserer Gesellschaft entweder nicht bekannt oder geleugnet oder instrumentalisiert werden.
Sind Sie Experte?
Es gibt viele Menschen, die sich mit unserem System, das in Wirklichkeit aus einer Vielzahl von Systemen und Untersystemen besteht, ganz gut bis sehr gut auskennen. Das sind die Experten – ob in Verwaltungen, der Wirtschaft, der Rechtssprechung.
Was ist mit Ihnen, wenn Sie kein solcher Experte sind. Haben Sie schon mal die Gemeindeordnung gelesen und sich mit dieser auseinandergesetzt? Nein? Ein wenig? Ist schon lange her? Die Gemeindeordnung regelt die Verfasstheit unseres Zusammenlebens in den Kommunen des Landes. Es ist die kleinste staatliche Verwaltungsorganisation, die Grundsätzlichkeiten festlegt. Und ob Sie wollen oder nicht – die gelten auch für sie.
Ich habe während meines Studiums 1991-1994 lokal berichtet und mache das nun seit 2009 wieder – also insgesamt über zehn Jahre. Und ein Vademecum sind für mich das Grundgesetz, die Gemeindeordnung und die Landesverfassung. Viele Paragrafen kann ich auswendig, aber beim besten Willen nur einen kleinen Teil, denn ich bin kein Jurist und muss das nicht auswendig können – aber ich muss immer wieder Gesetzestexte und -urteile lesen, um verstehen zu können, was die Gesetze wie regeln und wie darüber geurteilt worden ist. Diese Arbeit ist zäh und langwierig – Sie kommen in den Genuss der Ergebnisse dieser Recherchen, die oftmals auf konkrete Entwicklungen vor Ort bezogen sind.
Informationen zur Meinungsbildung
Wir bieten Ihnen Informationen zur Meinungsbildung an. Wir diktieren Ihnen aber niemals, wie Sie was zu meinen haben. Wir verlangen auch keine grundsätzliche Zustimmung – ohne eine inhaltliche Auseinandersetzung können wir niemanden erreichen. Wer eine vorgefasste Meinung hat, ohne sich inhaltlich zu befassen, dessen innere Verfasstheit stellen wir in Frage.
Beispiel Meinungsäußerung: Mein meint, andere dürften nicht eine abweichende Meinung äußern oder andere dabei sogar behindert, Meinungen zu äußern und sich eine Meinung zu bilden – wie steht es um die innere Verfasstheit solche Menschen? Muss man eine solche Meinung ernst nehmen?
Ja, muss man. Es ist die Meinung von Menschen, die sich weigern, andere Meinungen inhaltlich zu Kenntnis zu nehmen, diese abzuwägen und sich dann voll oder teils oder gar nicht damit einverstanden zu zeigen.
Parolen können auch Weltbild sein – halt ein einfaches
Wer beschließt, sein Weltbild über möglichst einfache Parolen zu formen, kann das für sich so entscheiden und hat dann halt ein sehr einfach gestricktes Weltbild, in das er nichts reinlässt, was das stören könnte.
Aber das ist alles so kompliziert, dafür habe ich keine Zeit, sagen Sie. Ok, das ist wenigstens ehrlich und Sie sind auf einem guten Weg. Ja, viele Zusammenhänge sind komplex. Dafür gibt es Dienstleister wie uns, die Komplexitäten aufarbeiten und so komprimiert für Sie aufarbeiten, dass Sie wesentliche Dinge erfahren. Um hier mitzukommen, müssen Sie sich aber ein wenig Zeit nehmen – das lässt sich leider nicht vermeiden.
Ein Beispiel: Es gibt Teile der Leserschaft, die meinen, wir seien das einzige unabhängige Medium, das aufklärt, was der Gesellschaft durch die Flüchtlinge droht. Andere meinen, wir würden gegen die Flüchtlinge hetzen. Beides ist leider falsch.
Wir wenden uns eindeutig gegen Eindeutigkeiten
Richtig ist, dass wir uns eindeutig gegen Eindeutigkeiten wenden. Es ist unsere Aufgabe, verschiedenste Aspekte der Flüchtlingskrise zu hinterfragen und darzustellen. Unsere Standpunkte wiederholen wir immer wieder: Wer politisch oder anderweitig verfolgt ist, muss die Möglichkeiten haben, bei uns Asyl zu erhalten. Punkt. Daran gibt es nichts zu deuteln. Die Frage lautet: Wer ist das und trifft eine solche Verfolgung zu? Und wer sind die anderen und wie geht man mit diesen um und wie gehen die mit “uns” um? Und schon wird es sehr komplex.
Auch die Politik versucht Komplexität in der Vermittlung zu reduzieren: “Wir schaffen das”, hat Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vor gut zwei Jahren gesagt, als Hunderttausende Menschen weitestgehend vollständig unkontrolliert über die Grenzen kamen. Wer ist wir? Was ist das? Bis wann und wie “schaffen wir das”? Mit welchen Folgen für wen? Und ab wann schaffen wir es nicht mehr? All das sind nur ein paar Anschlussfragen, die wir uns lange vor dem “Bonmot” der Kanzlerin gefragt haben.
Und viele Antworten kann man nicht unmittelbar geben. Die Vorkommnisse in der Silvesternacht in Köln – konnten wir die voraussehen? Nein. Ebensowenig den Terroranschlag in Berlin. Das konnten wir als konkretes Ereignis nicht voraussehen, aber als grundsätzlich mögliche Ereignisse schon.
Wer Perspektivwechsel zurückweist, hat keine Perspektiven
So haben wir sehr früh gemahnt, dass wir einen massiven Anstieg der Kriminalität feststellen werden – für die einen war das Hetze, die anderen meinten, “endlich sagst mal einer”. Auch hier gibt es keine “Eindeutigkeit” – wir haben sehr differenziert festgestellt, dass wir davon ausgehen, dass viele Zugewanderte nicht auffällig kriminell werden, aber ein Teil mit großer Sicherheit. Die Frage ist: Wie groß ist dieser Teil und welche Straftaten werden begangen und schaffen “wir”, also zunächst die Ermittlungs- und Justizbehörden das und dann die Gesellschaft?
Wieso die Gesellschaft? Was hat die damit zu tun? Sehr viel – denn die eindeutige Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen ist genauso falsch wie die eindeutige Ablehnung. Denn Menschen werden kommen – in unsere Gesellschaft und im wechselnden Verhalten wird das Einfluss auf unsere Gesellschaft haben. Ob wir wollen oder nicht.
Besorgniserregend sind die Echoräume, die sich ausbilden – insbesondere in sogenannten “sozialen Medien”, an denen erstmal nichts sozial ist. Man hat sie nur so genannt. Es sind Kommunikationsplattformen. Eine der verbreitetsten ist Facebook. Wer es sich hier in seinen Kreisen bequem macht, erfährt nur das, was dort angeboten wird und das ist meist extrem reduziert. Mehrdeutigkeiten, Perspektivwechsel, andere Sichtweisen sind hier häufig nicht erwünscht. Stattdessen wird es komplett normal, zu beleidigen und zu verhöhnen.
Komplexitäten haben viele Fragen und oft auch viele Antworten
Es geht fast nie mehr inhaltlich um einen Austausch, sondern nur um schwarz oder weiß, wir oder ihr, Sieg oder Niederlage. Das setzt sich auf der Straße fort: Recht hat mutmaßlich, wer am lautesten ist und am meisten Teilnehmer mobilisieren kann. Dazu einfache Fragen: Hat eine große Maße von Menschen automatisch immer Recht? Wissen eintausend Laien mehr als ein Experte? Wohin entwickeln wir uns, wenn es nur noch Einheitsmeinungen gibt? Was, wenn die Kommunikation von Regierungshandeln sich auf Twittermeldungen beschränkt?
Sie haben in diesen komplexen Gefügen auch viele Verantwortungen – beispielsweise auch gegenüber unserer Arbeit. Wenn Sie nur hohe Erwartungshaltungen haben, aber nicht zu Gegenleistungen bereit sind, verlieren wir beide. Wir als Redaktion und Sie als Leser. Denn Sie können von uns nicht immer mehr, immer schneller erwarten und denken, dass sie das dann erhalten, wenn sie das wünschen und das auch noch kostenfrei.
Sie können natürlich über einen Artikel urteilen – “absoluter Dreck” – wenn Ihnen was nicht passt. Aber ist das klug? Ist es verantwortungsvoll? Wir schätzen viele unserer Leser/innen sehr, die uns öffentlich über Kommentare oder per direkter Kommunikation Hinweise geben – auf weitere Quellen, auf andere Sichtweisen, ob die eigene oder die von Dritten. Das prüfen wir gerne und verarbeiten es auch – so gut wir können.
Bürgerbeteiligung? Ja, aber…
Manchmal bleiben aber Dinge liegen, weil wir auch nur Menschen sind und nicht mehr schaffen können, als wir schaffen. Manchmal stellt sich heraus, dass ein Hinweis untauglich ist und das berichten wir dann auch. Ist das der Punkt, an dem Sie sich enttäuscht abwenden müssen oder an dem Ihre Verantwortung beginnt, sich nochmals inhaltlich zu befassen? Könnte es sein, dass Dinge sich verändert haben und eine Meinung, die vor ein paar Jahren noch “richtig” war, korrigiert werden muss?
Dazu ein wichtiges Beispiel: Wir haben sehr früh neue Formen der Bürgerbeteiligung positiv unterstützt. Nach vielen Erfahrungen sehen wir das sehr viel differenzierter. Bürgerbeteiligung halten wir grundsätzlich immer noch für ein wichtiges Instrument, aber ganz klar kann Bürgerbeteiligung nicht nur zu guten Ergebnisse führen, sondern sogar in unerbittlicher Gegnerschaft bis hin zum Hass enden. Sie Stuttgart21 oder den Bürgerentscheid zur Buga23 in Mannheim.
Nochmal zur Flüchtlingskrise: Was in dieser Debatte vollständig fehlt – und das ist grob fahrlässig – ist, was ein neues Zuwanderungsgesetz leisten sollte? Denn wir brauchen Zuwanderung im Land. Punkt. Daran gibt es nichts zu deuteln. Und was wurde vor Ort in den Fluchtländern getan und erreicht? Wir meinen wenig bis nichts, um die Menschen davon abzuhalten, auf die Reise zu gehen. Und haben Sie aufgepasst? Vor der libyschen Küste wird ebenso wie an der türkisch-syrischen Grenze geschossen. Mit Gewehren und Kanonen – so gesehen hat sich die abstrakte Debatte um einen “Schießbefehl” an deutschen Grenzen an anderen Grenzen real konkretisiert. Ist das eine Lösung? Sicher nicht.
Nicht nur unsere Gesellschaft ist in keiner guten Verfassung – viele Länder dieser Welt sind in richtig armseligen oder gefährlichen Verfassungen. Und alle diese Länder haben keine funktionierenden Mediensysteme, die zur Meinungsbildung taugen.
Unsere Kolumne Montagsgedanken greift Themen außerhalb des Terminkalenders auf – ob Kultur oder Politik, Wirtschaft oder Bildung, Weltweites oder Regionales, Sport oder Verkehr. Kurz gesagt: Alle Themen, die bewegen, sind erwünscht. Teils kommen die Texte aus der Redaktion – aber auch sehr gerne von Ihnen. Wenn Sie einen Vorschlag für Montagsgedanken haben, schreiben Sie bitte an redaktion (at) rheinneckarblog.de, Betreff: Montagsgedanken und umreißen uns kurz, wozu Sie einen Text in der Reihe veröffentlichen möchten. Natürlich fragen wir auch Persönlichkeiten und Experten an, ob sie nicht mal was für uns schreiben würden….