Schwetzingen/Rhein-Neckar, 11. September 2015. (red/ms) Die ehemaligen Militärkasernen in Schwetzingen könnten Raum für 2.000 bis 3.000 Menschen bieten. Aktuell stehen sie leer und werden nicht genutzt. Laut Schwetzingens Oberbürgermeister Dr. René Pöltl sei es keine Option, dort Flüchtlinge unterzubringen – der Landtagsabgeordnete Manfred Kern (Grüne) sieht das ganz anders und kritisiert den Oberbürgermeister im Exklusiv-Interview mit dem Rheinneckarblog mit deutlichen Worten. Seiner Ansicht nach wäre eine Flüchtlingsunterbringung auf den Kasernen sogar förderlich für Schwetzingens Stadtentwicklung.
Interview: Minh Schredle

Manfred Kern ist seit 2011 Landtagsabgeordneter für die Grünen. Dort befasst er sich schwerpunktmäßig mit Kultur und Denkmalpflege. Foto: Pressefoto Manfred Kern.
Laut Oberbürgermeister René Pöltl sei die Unterbringung von Asylbewerbern auf Schwetzingens Kasernen keine Option. Können Sie dem zustimmen?
Manfred Kern: Ganz und gar nicht. Es werden haufenweise fadenscheinige Argumente vorgebracht – aber nichts davon ist wirklich stichhaltig.
Gegenüber der Rhein-Neckar-Zeitung hat Herr Pöltl vor Kurzem angegeben, eine Instandsetzung der Kasernen wäre „extrem teuer“ und kurzfristig nicht umzusetzen – stimmt das etwa nicht?
Kern: Der Oberbürgermeister hat früher immer wieder behauptet, die Wasserleitungen auf den Kasernengeländen wären nach Abzug der Amerikaner gekappt worden. Das stimmt aber nicht. Inzwischen redet Herr Pöltl davon, dass die Leitungen abgeklemmt seien – das ist ein großer Unterschied, denn in diesem Fall ist eine Instand-Setzung deutlich günstiger.
Was ist mit gesundheitlichen Bedenken? Herr Pöltl äußerte die Angst, die Leitungen könnten stark verkeimt sein.
Kern: Auch daran habe ich meine Zweifel. Ein Gutachten dazu hat es beispielsweise nie gegeben. Nach Abzug der Amerikaner haben die Stadtwerke Schwetzingen die Leitungen entleert und abgepumpt. Es sollte eigentlich kein Problem sein, die Leitungen ohne großen Aufwand wieder in einen nutzbaren Zustand zu versetzen. Die US-Soldaten haben ihr Wasser verchlort, da sind eventuell noch Rückstände vorhanden. Aber auch die sollten sich mit einer Spülung leicht beseitigen lassen können.
„Strom ist schon vorhanden“
Und wie sieht es mit der Stromversorgung aus?
Kern: Strom ist bereits vorhanden! Es gibt dort 230 Volt-Leitungen. Und wissen Sie, was dazu nötig war, den Strom zum Laufen zu bekommen? Ein einziger Schalter musste umgelegt werden. Erschließungskosten sind keine angefallen.
Aber die Zeit drängt und langwierige Bauarbeiten kann man sich nicht leisten. Das Land und der Rhein-Neckar-Kreis brauchen jetzt freie Plätze. Würde es nicht viel zu lange dauern, bis die Kasernen bezogen werden könnten?
Kern: In Heidelberg ist es gelungen, das Patrick-Henry-Village in nur fünf Wochen bezugsfähig zu machen. Und in Schwetzingen müssten die Voraussetzungen für eine schleunige Instand-Setzung eigentlich noch deutlich besser sein.
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Wie kommen Sie zu dieser Annahme?
Kern: Das Patrick-Henry-Village wurde nach dem zweiten Weltkrieg recht zügig aus dem Boden gestampft. Die Kasernen in Schwetzingen wurden in den späten 1930er Jahren gebaut und sind deutlich hochwertiger. Zum Beispiel wurden in Schwetzingen Gußrohre verwendet, die deutlich beständiger sind und eine längere Lebensdauer haben als die Wasserleitungen, die in Heidelberg verlegt worden sind.
Einer ihrer Schwerpunkte als Landtagsabgeordneter ist die Denkmalpflege. Laut Oberbürgermeister Pöltl könne eine Nutzung der Kasernen als Flüchtlingsunterkunft den denkmalgeschützten Gebäuden schaden – teilen Sie diese Einschätzung?
Kern: Überhaupt nicht. Das ist sogar genau das Gegenteil vom dem, was wir predigen: Das beste, was man tun kann, um ein Denkmal zu erhalten, ist, es zu benutzen. Die Stadt Schwetzingen hat schon viel zu oft wertvolle Bausubstanz einfach verkommen lassen, bis sie abgerissen werden musste. Das darf uns mit den Kasernen nicht passieren. Gerade vor dem Hintergrund einer sinnvollen Stadtentwicklung sollte das Gelände also zügig in Stand gesetzt und bewohnbar gemacht werden.
„Die Container-Siedlung hat Millionen gekostet – ohne irgendeinen Mehrwert zu schaffen“
Aber was ist mit den Kosten? Wäre es nicht viel zu teuer, die Kasernen für eine Flüchtlingsunterbringung aufzubereiten?
Kern: Auch die Container-Siedlung in Schwetzingen, in dem Flüchtlinge leben, hat schon Millionen gekostet – ohne irgendeinen Mehrwert für die Stadt zu bringen. Die Container werden gemietet. Wenn sie dann weg sind, wurden riesige Beträge investiert, ohne dass Schwetzingens Stadtentwicklung irgendwie davon profitiert hätte. Der Oberbürgermeister redet davon, dass die Kasernen zu entlegen wären und dass es dort keine Infrastruktur gebe, die man brauche, um Flüchtlinge unterzubringen. Gleichzeitig will er die Kasernen als Mischgebiet zur Wohnnutzung entwickeln. Die Infrastruktur braucht man also so oder so. Warum nutzt man nicht jetzt schon die Gelegenheit, dort beispielsweise einen Kindergarten zu bauen, wenn man ihn in Zukunft ohnehin an diesem Standort braucht?
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Eine Unterbringung von Asylbewerbern auf den Konversionsflächen könnte ihrer Ansicht nach also förderlich für Schwetzingens Stadtentwicklung sein?
Kern: Ja. Wenn man es gut koordiniert angeht, dann ganz sicher. Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIMA), die die ehemaligen Militärflächen aktuell noch verwaltet, bietet übrigens an, diese verbilligt zu verkaufen, wenn das Gelände für öffentliche Aufgaben, wie etwa die Unterbringung von Asylbewerbern, verwendet wird. Aber an diesem Rabatten hat Herr Pöltl offenbar kein Interesse.
„Wir müssen mehr Kasernen nutzen“
Landesweit gibt es Engpässe bei den Kapazitäten für die Unterbringung von Asylbewerbern. Oft sind Einrichtungen schon jetzt dramatisch überbelegt. Doch die Flüchtlingszahlen steigen weiter – wie soll man das in den Griff bekommen?
Kern: Wir müssen generell mehr ehemalige Kasernen für die Unterbringung von Asylbewerbern nutzen. Hier stehen gewaltige Kapazitäten frei.
Was halten Sie davon, weitere Container-Siedlungen wie in Schwetzingen zu errichten?
Kern: Das kann in meinen Augen nur eine zwischenzeitliche Notlösung sein. Die Zustände im Schwetzinger Containerdorf sind beschämend. Insbesondere für schwangere Frauen und Neugeborene ist das eine Zumutung.
„Das Container-Ghetto ist kein Provisorium“
Landrat Dallinger sprach von dem Camp als Provisorium, das 2016 aufgelöst werden solle…
Kern: Das halte ich für komplett unrealistisch. Mann muss ja nur einen Blick auf die Flüchtlingszahlen werfen. Nahezu alle Unterkünfte sind schon jetzt an ihrem Limit oder überbelegt. Aktuell könnte der Rhein-Neckar-Kreis nicht auf die Container verzichten. Der Ausdruck „Provisorium“ ist in meinen Augen nur eine Ausrede, um die desaströsen Zustände vor Ort zu rechtfertigen. Als dauerhafte Lösung könnte man dieses Ghetto ja niemandem verkaufen.
Das Container-Lager ist also keine zufriedenstellende Lösung?
Kern: Es ist so zynisch, dass es mich zornig macht. Man muss sich nur einmal in die Lage der Asylbewerber versetzen: Sie leben in diesem unwürdigen Container-Ghetto – und direkt gegenüber stehen die Kasernen frei, völlig ungenutzt, obwohl es hier gar kein Problem wäre, menschenwürdiges Wohnen zu ermöglichen.
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Herr Pöltl sagte gegenüber der Rhein-Neckar-Zeitung, dass Schwetzingen mit gut 500 Asylbewerbern im Stadtgebiet schon jetzt „am Anschlag“ sei – was halten Sie davon?
Kern: Das ist doch die völlig falsche Einstellung – diese Menschen nur als lästige, unliebsame, irgendwie Geduldete zu sehen. Stattdessen sollte man sich klar machen, welche Potenziale gerade vergeudet werden. Bei einer gelungenen, gut strukturierten Integration könnten Gesellschaft und Wirtschaft enorm profitieren. Aber dazu muss es diesen Menschen auch möglich sein, sich einzubringen. Es gibt so viele Flüchtlinge, die unbedingt arbeiten wollen – aber bürokratische Hürden machen das fast unmöglich. Hier wird so viel verschwendet. Stattdessen sind die Menschen gezwungen, den lieben langen Tag tatenlos herumzusitzen. Dass es da gelegentlich zu Reibereien kommt, ist eigentlich naheliegend, vor allem wenn man unter miserablen Umständen auf engstem Raum zusammengepfercht leben muss.
Schwetzingen sollte also noch viel mehr Asylbewerber aufnehmen?
Kern: Irgendwo gibt es Grenzen, was eine Stadt bewältigen kann. Das ist unstrittig. Die Erfahrung zeigt, dass die Flüchtlingsunterbringung meistens dort besonders gut gelingt, wo es viel engagierte ehrenamtliche Hilfe gibt. Und in jeder Stadt gibt es eben nur eine begrenzte Anzahl hilfsbereiter Menschen. Aber eines finde ich sehr spannend: Herr Pöltl beklagt sich häufig, dass Schwetzingen unter einem Einwohnerschwund leidet. Was er offenbar noch nicht verstanden hat: Die Asylbewerber sind unsere neuen Einwohner. Und wenn wir es gut angehen, können wir viele Probleme durch den demographischen Wandel durch Zuwanderung kompensieren. Herr Pöltl will neue Einwohner – wo sollen die denn alle herkommen, wenn nicht aus dem Ausland. Es gibt keine deutschen Geburtsmaschinen.
„2.000 Menschen könnte man mit Leichtigkeit unterbringen“
Herr Pöltl und die Rhein-Neckar-Zeitung behaupten, die Kasernen stünden als Option nicht zur Verfügung und stellen das als Fakt dar. Jetzt befinden sich die Kasernengelände aber gar nicht im Besitz der Stadt – was hätte Schwetzingen denn mitzureden, wenn eine Ansage von oben kommt?
Kern: Die Flächen gehören dem Bund und werden durch die BIMA verwaltet. Theoretisch könnte das Land Baden-Württemberg auf dieser Fläche jederzeit eine Bedarfsorientierte Erstaufnahmestelle (BEA) einrichten, wenn die Umstände das erfordern. Ich will jetzt nichts an die Wand malen. Aber die Möglichkeit gibt es, der Bedarf ist da und 2.000 Menschen könnte man mit Leichtigkeit auf den Kasernen unterbringen.
Und das ist eine denkbare Option?
Kern: Das Land sucht händeringend nach Unterbringungsmöglichkeiten. Also ja, durchaus. Und wenn Herr Pöltl und die Stadt Schwetzingen sich weiter quer stellen und überhaupt keine Kompromissbereitschaft zeigen, ist gut möglich, dass sie am Ende dumm da stehen und überhaupt keinen Einfluss mehr darauf nehmen werden können, die Unterbringung von Asylbewerbern in Schwetzingen mitzugestalten.
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