Sinsheim/Rhein-Neckar, 09. September 2015. (red/pro/ms) Aktuell sind rund 1.500 Menschen in der Halle 6 der Messe Sinsheim untergebracht. Davon rund 300 „aus Ungarn“ – also Flüchtlinge, die am Wochenende über das Kontingent nach Deutschland eingereist sind. Doch bis zum 15. September muss die Halle geräumt sein. Überall sind die Flüchtlingslager am Anschlag oder überfüllt – die Frage ist, wohin mit 1.500 Menschen? Die Antwort ist ernüchternd: Das Regierungspräsidium hat keine – muss aber bis Dienstag eine haben.
Von Hardy Prothmann und Minh Schredle
Das „Notlager“ in Sinsheim wurde am 21. August bezogen. Der Mietvertrag endet am 14. September – das ist schriftlich festgelegt. Die Nutzung der Messehalle ist also bis einschließlich 14. September, 24:00 Uhr möglich. Uwe Herzel, Sprecher des Regierungspräsidiums Karlsruhe, betont ausdrücklich das „einschließlich“.
Wirklich keine Ahnung
Was geschieht mit den 1.500 Menschen? Wo sollen sie kurzfristig untergebracht werden, wo doch alle Lager voll sind und heute sogar ein „Aufnahmestopp“ in Baden-Württemberg verhängt worden ist? Herr Herzel sagt knapp:
Das wissen wir nicht.
Bis zum Montag verbleiben gerade mal noch fünf Nächte – kann das wirklich sein? Hat man denn wirklich noch gar keine Vorstellung, wo man diese 1.500 Menschen vernünftig unterbringen kann?
In der Stimme des Sprechers klingt Verbitterung mit:
Nein, wir haben wirklich keine Ahnung.
Man sei allerdings dennoch zuversichtlich, dass es „irgendwie gelingen“ werde, die Asylsuchenden unterzubringen. Schließlich habe man auch die Halle 6 der Messe Sinsheim in nur zwei Tagen ertüchtigt.
Wohin mit den Sinsheimer Flüchtlingen?
Laut Herrn Herzel prüfe man „händeringend alle Optionen“ – wie schon seit Monaten. Man suche nach Messegeländen und Lagerhallen als Übergangslösungen, angeblich vorwiegend in Stuttgart.
Auch Konversionsflächen und Militär-Gelände kämen in Betracht – aber eher mittelfristig, weil dazu Erschließungen und Ertüchtigungen notwendig wären. Diese Option ist keine, die sich in fünf Tagen realisieren lässt. Sprecher Herzel:
Es ist jede Menge geschehen. Sie kennen ja die aktuellen Zugangszahlen. Es ist ja nicht so, als müssten wir uns nur um die Asylbewerber aus Sinsheim kümmern.
Das ist richtig. Durch die Entscheidung der Bundesregierung, über 20.000 Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland zu holen, sind die sowieso hohen täglichen Zugangszahlen von rund 500 Personen schlagartig nach oben geschnellt. Nachdem „Königsteiner Schlüssel“ muss der Südwesten rund 13 Prozent aufnehmen, also 2.600 Personen. Und weitere Flüchtlinge aus Ungarn drängen nach. Die Bundesregierung lässt sich „feiern“ für die „großzügige“ Geste, Medien reagieren mit einem „Freudentaumel“ – übersehen wird, dass man die Länder und Kommunen weiterhin hängen lässt und sie noch mehr belastet.
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Lesetipp: Unsere investigative Recherchen deckt unhaltbare Zustände auf. Neonazis im Wachdienst, Provokationen, keine funktionierenden Kontrollen.
Die Heidelberger Flüchtlingsunterkunft PHV ist ein Pulverfass – Regierungspräsidium ist informiert
“Ich fühle mich hier nicht mehr sicher”
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Weitere Recherchen nach dem Gespräch mit dem Regierungspräsidium-Sprecher haben ergeben, dass die Sinsheimer Flüchtlinge wohl auf alle bestehenden Landeserstaufnahmeeinrichtungen und deren Ableger verteilt werden sollen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kommen also auch Flüchtlinge nach Mannheim und Heidelberg. In Mannheim wird die Frage drängender, ob auch die ungenutzten Spinelli Barracks zur Unterkunft vorbereitet werden, in Schwetzingen die dortigen leer stehenden Kilbourne-, und Tompkins-Kasernen.
Müssen Mannheim und Heidelberg weitere Flüchtlinge aufnehmen?
In Mannheim sind auf dem Benjamin Franklin Village rund 1.000 Personen untergebracht – 400 mehr als ursprünglich „geplant“. In Heidelberg hatte Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei einem Besuch zugesagt, die Zahl von fast 3.000 Flüchtlingen „baldmöglichst“ auf 1.000 zurückzuführen und nur in „Ausnahmefällen“ bis 2.000 Personen im Patrick Henry Village (PHV) „kurzfristig“ unterzubringen. Die Stadt Heidelberg verlässt sich auf die Zusage – unserer Einschätzung nach wird diese nicht eingehalten. Tatsächlich befinden sich dort immer noch rund 2.800 Personen und mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die Zahl von 3.000 überschritten werden, wenn Personen aus Sinsheim hierher transferiert werden. Wir haben schon vor Wochen gemutmaßt, dass das PHV möglicherweise sogar bis zu 6.000 Personen aufnehmen muss. Hier wurde für die „Ertüchtigung“ viel Geld investiert – ökonomisch betrachtet macht das also Sinn.
50.000, 80.000, 100.000 – oder doch 130.000?
Nach unseren Recherchen ist die von der Bundesregierung prognostizierte Zahl von 800.000 Flüchtlingen im Jahr 2015 in Deutschland längst nicht mehr zu halten. Die Zahl von einer Million Flüchtlinge dürfte klar überschritten werden. Für Baden-Württemberg bedeutet das 130.000 Menschen, die hier versorgt werden müssen. Vor zwei Monaten ging man noch von 50.000 Menschen aus.
Der nächste „Flüchtlingsgipfel“ tagt – in 14 Tagen. Die grün-rote Landesregierung macht bislang keinen kompetenten, vorausschauenden Eindruck. Es wird viel versprochen, so gut wie nichts eingehalten. Es wird beschwichtigt, aber die Probleme wachsen täglich, die Belastungen insbesondere der Polizei sind enorm. Die Frage ist, wann und wie heftig der befürchtete „Stimmungsumschwung“ in der Bevölkerung eintreten wird.
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