Mannheim, 22. Dezember 2015. (red/ms/cr) Aktualisiert. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer tippt ein paar zugespitzte Zeilen, publiziert sie per Facebook – und schon diskutiert halb Deutschland kontrovers. Ohne das Internet und insbesondere die sozialen Netzwerke wäre das kaum möglich. So können auch Kommunalpolitker heute eine enorme Reichweite herstellen. Vorausgesetzt, sie nutzen die Chance Internet. Das ist aber noch nicht bei allen angekommen – in Mannheim gäbe es hier noch viel Potenzial nach oben.
Von Minh Schredle und Christin Rudolph
Mehr als 700 Likes und über 150 mal geteilt. Und das ist noch lange nicht rekordverdächtig. Boris Palmer schafft sich regelmäßig Reichweite – auch mit seinem jüngsten Post. Darin heißt es:
Wer Probleme sieht, derart viele Flüchtlinge aufzunehmen, der wird pauschal mit Pegida, AfD und braunem Rand gleich gesetzt. Wer das tut, hat schlicht nicht verstanden, wie viele Menschen in diesem Land bereits Angst um Arbeit, Lohn, Wohnung oder Lebensstil in diesem Land haben. Diese alle vor den Kopf zu stoßen ist der sichere Weg zur Le Penisierung Deutschlands.
Der grüne Oberbürgermeister scheut keine Kontroverse – er sucht sie. Und teils provoziert er, um sie zu erzeugen. Wenn das Ziel Aufmerksamkeit ist, erreicht er es: Inzwischen ist Herr Palmer mit Ansichten, die nicht unbedingt als „typisch grün“ gelten, zu einem der prominentesten Oberbürgermeister Deutschlands geworden. Und das obwohl „seine“ Stadt Tübingen nur knapp 90.000 Einwohner hat.
Kein Einzelfall
Bekannt war Herr Palmer durch seine streitbare Art schon eine Weile. Sein „Wir schaffen das nicht“ im Oktober hat ihn dann allerdings deutschlandweit prominent gemacht. Er war zwar nicht der erste, der zu dieser Überzeugung kam – aber der erste Grüne in einer Führungsposition, der das offen ausspricht. Natürlich ist da Aufregung vorprogrammiert. Und dennoch – ohne das Internet wäre es wohl nahezu unmöglich gewesen, dass seine paar Zeilen eine auch nur ansatzweise vergleichbare Wirkung auf die politische Debatte gehabt hätte.
Und Boris Palmers „Wir schaffen das nicht“ ist kein Einzelfall. Immer wieder machen Statements, Geschichten oder Videoclips in sozialen Netzwerken die Runde, schaffen eine Reichweite, die vorher kaum vorstellbar gewesen wäre.
Durch die Vernetzung entstehen ungeahnte Möglichkeiten, Positionen zu verbreiten. Die Reichweite allein sagt zunächst zwar noch nicht viel über die Qualität aus. Aber wer seine Meinung an den Mann bringen will, findet im Internet einen hervorragenden Herold – auch wenn das in großen Teilen der Politik noch nicht wirklich angekommen ist.
Politik verschenkt Potenzial
Zwar betreiben etliche Parteien und Politiker Profile in sozialen Netzwerken- doch oft geschieht das nicht gerade professionell oder sehr unregelmäßig. Nur wenige trauen sich, meinungsstark aufzutreten. Oder sie vermischen Privates und Berufliches.
Dabei können gerade in der Kommunalpolitik Facebook und Co. zu Plattformen werden, auf der ein direkter Austausch mit den Bürgern möglich ist. Davon wird auch teils Gebrauch gemacht – das volle Potenzial wird aber noch lange nicht ausgeschöpft.
In Mannheim haben beispielsweise 20 der 48 Stadträte kein öffentlich zugängliches Facebook-Profil, auf dem man sie eindeutig identifizieren und zumindest teilweise Inhalte sehen kann, ohne mit ihnen „befreundet“ zu sein.
Neuland-Skepsis
Insbesondere in Kreisen der CDU-Fraktion scheint man dem Neuland noch etwas skeptisch gegenüber zu stehen. Nur vier von zwölf Stadträten nutzen Facebook. Diejenigen, die es tun, sind allerdings sehr aktiv: Insbesondere Nikolas Löbel und Rebekka Schmitt-Illert kommentieren aktiv in Diskussionen und posten regelmäßig Hintergrundartikel aus verschiedenen Quellen.
Viele Stadträte haben auf Facebook weit mehr als 1.000 Freunde. „Spitzenreiter“ ist Julien Ferrat von der Familienpartei. „Spitzenreiterin“ ist Dr. Birgit Reinemund (FDP) mit beinahe 4.700 Freunden. (Anm. d. Red.: siehe Aktualisierung am Ende des Artikels.) Jeder davon ist ein potenzielle Verbreiter für Inhalte. Fast alle Landtagskandidaten wollen auf diese Form der Reichweite nicht verzichten. Carsten Südmersen, der CDU-Fraktionsvorsitzende und Kandidat für den umkämpften Mannheimer Süden, offenbar schon: Ihn sucht man vergebens in sozialen Netzwerken.
Einige Kommunalpolitiker haben zwar Facebook-Profile, aber nicht für die Öffentlichkeit. Nur ihre Freunde können alle Inhalte sehen. Andere vermischen ihre politischen Statements mit privaten Inhalten. Melis Sekmen (Grüne) beispielsweise postete in der jungen Vergangenheit viel zu den Haushaltsberatungen – davor zierten ihre Timeline hauptsächlich Selfies. Andere, etwa Andrea Safferling (SPD) oder Boris Weirauch (SPD), begeistern sich neben Politik auch für Sport und posten gelegentlich Beiträge über die Adler, die Löwen oder den Waldhof.
Netz für Nazis?
Einige Kommunalpolitiker betreiben auch „Fan-Seiten“, etwa Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz, die gefällt auf Facebook gut 8.000 Menschen. Dort verlinkt er – oft mit ein paar Tagen Abstand – Artikel, die die Entwicklung Mannheims betreffen. Hin- und wieder nimmt er sich Zeit für eine kommentierende, meist sehr sachliche und nüchterne Einordnung.
Von den Mannheimer Bürgermeistern ist sonst nur Felicitas Kubala (Grüne) auf Facebook aktiv. Christian Specht (CDU), Lothar Quast (SPD), Michael Grötsch (CDU) und Dr. Ulrike Freundlieb (parteilos) nutzen die Plattform bislang nicht.
Unter allen Stadträten, die Fan-Seiten betreiben, hatte übrigens der Rechtsradikale Christian Hehl (NPD) die meisten Gefällt-Mir-Angaben: 1.164. Für Stadtrat-Verhältnisse ist das viel – er knackt als einziger die 1.000-er-Marke. Das macht umso fraglicher, ob man – auch in der Kommunalpolitik – auf Präsenz im Neuland verzichten kann.
Anm. d. Red.: Im Januar schauen wir uns das Verhalten der Landtagskandidaten in Social Media an. Sie können dazu gerne Ihre Fragen an die Redaktion schicken. Sie können dazu unser Formular für Leserthemen nutzen.
Aktualisierung, 23. Dezember, 21:06 Uhr: Stadtrat Julien Ferrat weist uns mit email vom 23. Dezember 2015, 17:54 Uhr darauf hin, dass er die „Spitzenreiterin“, Frau Dr. Birgit Reinemund „bereits seit Monaten überholt habe“. Zum Zeitpunkt dieses Eintrags hatte Herr Ferrat 4.826 Freunde auf Facebook, Frau Dr. Reinemund 4.679. Damit liegt Herr Ferrat vor Dr. Reinemund. Wie bitten, diesen Fehler zu entschuldigen. Ob Herr Ferrat „seit Monaten“ schon vorne liegt, können wir nicht verifizieren.
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