Rhein-Neckar, 14. November 2015. (red/pro) Über 120 Menschen starben Freitagnacht durch einen Angriff von acht schwer bewaffneten Terroristen. Mehr als 350 Personen sind verletzt, viele davon schwer. Der Angriff erfolgte auf offener Straße und in einem Musikclub. Solche Nachrichten über viele tote Zivilisten gibt es oft – sie stammen aus Afrika, Nahost, Indien, Indonesien, Russland. Dieses Mal traf es Paris – und das Wort “Krieg” liegt in der Luft. Das Schlimmste, was nun passieren kann, ist ein Rachefeldzug. Wir sollten uns an Afghanistan und Irak erinnern, bevor durchgeladen wird.
Von Hardy Prothmann
Seit der vergangenen Nacht überschlagen sich die Nachrichten – immer wieder um Info-Häppchen ergänzt und umgeschrieben. Was steht bislang fest?
- Erstens: Acht Attentäter haben am Freitagabend in Paris mit Schnellfeuergewehren und Sprengstoffexplosionen über 120 Menschen getötet und mehr als 250 verletzt. Alle acht Attentäter sind tot. Wer die Hintermänner sind, ob es die gibt, ist unklar. Ob es weitere Attentäter gibt, ist unklar.
- Zweitens: Die französischen Sicherheitsbehörden haben versagt.
- Drittens: Präsident François Hollande hat den Ausnahmezustand verhängt und Staatstrauer angeordnet.
- Viertens: Populisten verschiedener Seiten versuchen Stimmung zu machen.
Trauen keinem
Ob und wer vom Islamischen Staat für die Attentate verantwortlich ist, kann noch nicht mit Sicherheit belegt werden. Zwar wies François Hollande bereits in der Nacht die Schuld dem IS zu – doch das konnte er nicht wissen und wenn, wird das die Basis für Verschwörungstheorien werden.
Niemand klärt dermaßen schnell Hintergründe eines solchen Attentats auf – außer, er wusste vorher, dass es stattfinden wird und hat es geschehen lassen. Erstaunlich auch die wirklich schnelle Kondolenz des US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama.
Unsere erste Redaktionsregel heißt: Traue keinem. Die zweite: Ohne Vertrauen ist alles nichts. Dieses Paradox muss man aushalten – ob als Journalist oder als Medienkonsument. Aktuell schreiben die meisten voneinander ab oder nutzen alle einige wenige Quellen: Nachrichtenagenturen und große Medien.
Auch wir haben keine eigenen Korrespondenten vor Ort. Aber wir können hier lokal vor Ort weltweit Informationen verifizieren oder falsifizieren. Das tun wir mit hohem Aufwand. Wenn wir etwas nicht genau wissen, machen wir das kenntlich. Wir versuchen schnell zu berichten – aber immer zutreffend, das geht vor Geschwindigkeit. Immer.

Markus Söder, Bayerischer Staatsminister der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat, auf Twitter.
Sofortreaktion: Widerwärtiger Populismus
Geradezu widerwärtig sind die ersten Reaktionen in Deutschland – egal ob durch gewisse Journalisten wie den Welt-Kolumnist Matthias Matussek oder Politiker wie Markus Söder – beide setzen die Attentate in Verbindung mit “muslimischen jungen Männern” und “illegalen Zuwanderern”. Anscheinend wissen sie besser als der Rest der Welt, wer die Attentäter waren. Bisher gibt es nur Hinweise auf drei Personalien, einen Franzosen, einen Ägypter und einen Syrer. Das ist billigster Populismus.
Und selbst wenn alle Attentäter “zugewandert” wären – was haben die anderen Menschen mit diesen Verbrechern zu tun? Genau nichts – die allermeisten Menschen fliehen nämlich aus Ländern wie Syrien, Afghanistan oder Ägypten vor solchen Gewalttätern. Denn dort sterben täglich hunderte von Menschen.
Ebenso bei großen Anschlägen in Kenia, Indien, Pakistan oder Indonesien. In Libyen und weiten Teilen Somalias herrscht Anarchie und niemand weiß, wie viele dort täglich sterben. Ebenso in Nigeria, wo die Terror-Gruppe Boko Haram schon dutzendfach Dörfer und kleine Städte niedergemacht hat – mit Tausenden von Todesopfern. Und natürlich im Nordirak und Syrien, wo der IS seit Jahren die Bevölkerung terrorisiert und der syrische Diktator Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt.
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Lesetipp: Vor einem Jahr…
Die Bedrohung
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Terror ist grausam – überall auf der Welt
Der Terror von Paris, der uns kalt, unmenschlich und grausam erscheint, ist in vielen Ländern dieser Welt genauso kalt, unmenschlich und grausam, aber dort so etwas wie Alltag. Terror vernichtet weltweit Menschenleben – die allermeisten Opfer sind Muslime.
Es ist nicht die Zeit, Frankreich und den anderen europäischen Ländern Vorwürfe zu machen. Aktuell müssen die Gedanken und Gefühle den Opfern und deren Angehörigen gelten. Fast 400 Menschen wurden Opfer von mörderischen Terroristen. Über 120 Menschen wurden erbarmungslos hingerichtet.
Es ist aktuell nicht die Zeit für einen Präsidenten Hollande nach Krieg zu rufen. Es ist allerhöchste Zeit für ein Umdenken. Noch mehr Krieg in den betroffenen Ländern wird für noch mehr Flüchtlinge sorgen. So einfach ist die Formel.
Zieht Frankreich in den Krieg? Das ist die “Grande Nation” längst
Abgesehen davon ist Frankreich schon im Krieg. Mit Kampfflugzeugen in Syrien. Frankreich ist zudem in so gut wie jede kriegerische Handlung in Afrika verstrickt und sei es nur durch die Fremdenlegion. Über die Sahelzone und mehrere Länder kämpfen die Franzosen mit über 3.000 fest stationierten Soldaten.
Es ist allerhöchste Zeit für ein Innehalten und einen Masterplan, wie man diese Katastrophen nicht noch mehr ausweitet, sondern endlich systematisch angeht, um sie zu beenden. Dabei kann es nicht um einen Kampf gegen Flüchtlinge gehen, sondern gegen die Drahtzieher, die Diktatoren und die Schurkenstaaten wie Saudi-Arabien, mit denen Deutschland bis jetzt beste Geschäfte macht.
Die deutsche Bundesregierung genehmigt weiterhin den Verkauf von Waffen, die niemals dem Frieden dienen. Das ist eine Generallüge. Frieden erreicht man nie durch Waffen, sondern nur durch Bildung und Rechtsstaatlichkeit, Wirtschaft und eine funktionierende Zivilgesellschaft mit fundamentalen Freiheitsrechten.
Nur Humanismus gibt Sicherheit
Die französischen Sicherheitsbehörden haben versagt – auch die spanischen, britischen und belgischen haben schon versagt und die deutschen werden auch irgendwann versagt haben (und haben es bereits, siehe NSU). Wer die Illusion einer absoluten Sicherheit verspricht, ist ebenfalls ein Lügner. Ebenso wie der, der hunderttausende von Menschen aus verschiedenen Ländern mitverantwortlich für die Terrortaten von Paris im Januar und jetzt im November macht.
Wer mehr Sicherheit will, muss die Unsicherheit in anderen Ländern bekämpfen. Und dort vor allem mit zivilen Mitteln. Mit Investitionen in die Infrastrukturen. Um Werte zu schaffen. Mit dem klaren Ziel der Aufklärung. Humanistischer Verstand kennt keine Religionen oder Rassen.
Dann müssen Menschen nicht ihren Heimaten fliehen. Sie können sie vor Ort gestalten. Das ist keine Illusion – Deutschland ist weltweit das beste Vorbild, wie aus dem schrecklichsten Land der Welt, das Millionen Menschen auf dem Gewissen hat, eine der besten Demokratien der Welt werden konnte – mit allen täglichen Fehlern, die man immer wieder zu beseitigen versucht.
Vorbild Deutschland – vom Mörderstaat zur Modelldemokratie
Was die Deutschen geschafft haben, können auch andere Länder zumindest so schaffen, dass es in ihnen lebenswert bleibt. Allerdings nur, wenn sie entsprechend unterstützt werden.
Tatsächlich hat Monsieur Hollande nicht Recht, wenn er nach Rache ruft. Wenn er allerdings die Bündnispartner dazu aufruft, mit dem IS kurzen Prozess zu machen und zwar konsequent mit einem Plan für den zivilen Aufbau, dann sollte man ihn unterstützen.
Eigentlich ist das recht einfach: Man stellt dem IS ein Ultimatum zur bedingungslosen Kapitulation. Alle IS-Mitglieder kommen vor Gericht und erhalten ein gerechtes Urteil. Das sind nur ein paar zehntausend Menschen, die sperrt man locker in noch zu bauenden Gefängnissen auch lebenslang weg. Wer nicht kapituliert, wird erbarmungslos gejagt, gefangen genommen oder getötet. Bis die Mörderbande am Ende ist. Vor Gericht gehören ebenso Baschar Al-Assad und seine Schergen. Ergeben sich auch die nicht, droht ihnen das gleiche Schicksal wie dem IS.
Gleichzeitig erhalten alle Länder Aufbauhilfe in erheblichem Umfang. Die Bedingung ist das Schaffen demokratischer, rechtsstaatlicher Ordnungen ohne Einfluss durch Religionen.
Ohne einen solchen Masterplan ist der Krieg gegen den Terror niemals zu gewinnen, sondern bleibt eine endlose Bedrohung. Der 3. Weltkrieg ist längst ausgebrochen und sollte beendet werden, bevor er noch sehr viel mehr Opfer fordert.
P.S. Die verantwortlichen Personen, die Informationen gefälscht haben, um den Irak-Krieg zu rechtfertigen, gehören ebenfalls vor den Internationalen Gerichtshof. Ebenso die Staatsführer, die sich am Krieg beteiligt haben und die Militärs, die ihn durchgeführt haben. Denn er basierte wie so oft auf Lügen und Unrecht – aber diese Verbrecher laufen immer noch als geachtete Personen frei herum.
P.P.S. Verfolgen Sie die Medien unaufgeregt, aber aufmerksam. Und melden Sie dort jeweils Ihren Protest an, wenn Sie schlechte journalistische Leistungen identifizieren können. Also falsche Informationen, unbelegte Behauptungen und unqualifizierte Bewertungen. Es gibt viel guten Journalismus da draußen, aber eben auch sehr viel schlechten. Bevor Sie selbst zum Medium werden, prüfen Sie Ihre eigene Verantwortung beim Teilen und Kommentieren. Und hüten Sie sich vor allen, die einfache Lösungen parat haben. Denken Sie dran: Die “Wahrheit” ist immer das erste Opfer des Krieges.
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