Mannheim/Ludwigshafen/Rhein-Neckar, 12. Januar 2016. (red/ms) Seit September ist die Nachfrage nach Waffen massiv angestiegen. Und spätestens seit den Vorfällen in der Kölner Silvesternacht fühlen sich viele Menschen – insbesondere Frauen – nicht mehr sicher. Vor allem Pfefferspray ist sehr begehrt. Doch wie viel Schutz bieten diese Mittel zur Selbstverteidigung wirklich?
Von Minh Schredle
Der Gesichtsausdruck des Mannes ist todernst. Er hält die Tochter – vielleicht zwölf Jahre, vielleicht ein bisschen älter – fest am Handgelenk, als die beiden den Waffenladen betreten. Das Mädchen wirkt überfordert, verstört, ängstlich. Grimmig tritt der Vater an die Verkaufstheke heran:
Mein Mädchen braucht etwas, um sich zu verteidigen.
Die Anfrage wird fachmännisch abgewickelt. Der Verkäufer empfiehlt für diesen Fall Pfefferspray. Einfach anzuwenden, eine Reichweite von bis zu fünf Metern. Sehr effektiv. Aber „selbstverständlich nur für den Notfall“.
Die Angst ist Alltag
Szenen wie diese sind inzwischen Alltag in Waffenläden überall in Deutschland. Die Angst geht um. Kunden sind meist besorgte Eltern und Frauen aller Altersklassen. Was sie bewegt? Hans-Jürgen Demmer sagt dazu:
Ich höre da die unterschiedlichsten Gründe. Manche sagen, sie würden sich ohne Waffen nicht mehr in bestimmte Viertel trauen. Andere gehen überhaupt nicht mehr ohne Selbstschutz auf die Straßen. Viele wollen auch gar nicht darüber reden, was sie belastet. Aber sie alle verbindet eins: Sie können sich nicht mehr sicher fühlen.“
Herr Demmer hat das Familienunternehmen von seinem Vater übernommen. Heute gibt es sechs Filialen in der Region, verteilt auf Landau, Speyer, Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen. Herr Demmer ist seit mehr als 45 Jahren im Geschäft. Und er sagt:
So eine Panik habe ich noch nie erlebt.
Den Trend beobachte er schon seit September 2015. Da habe es langsam angefangen. Nach den Anschlägen von Paris im November habe das Interesse einen zwischenzeitlichen Höhepunkt erreicht. Und seit den Vorfällen von Köln sei die Nachfrage regelrecht explodiert.
Nachfrage explodiert – Umsatz verdoppelt
Diese Erfahrungen macht nicht nur Demmer – sondern Waffen- und Sicherheitsläden im ganzen Land. Im „Verband Deutscher Büchsenmacher und Waffenfachhändler“ (VDB) schließen sich 1.100 Unternehmen mit insgesamt etwa 30.000 Mitarbeitern zusammen. Ein Sprecher erklärt gegenüber der Redaktion:
Wir haben unseren Umsatz in den vergangenen Monaten im Durchschnitt mehr als verdoppelt.
Darüber hinaus gebe es Ausreißer, die den Absatz sogar versechsfacht hätten. Insbesondere beim Pfefferspray seien die Verkaufszahlen durch die Decke gegangen. Und das nicht nur in Deutschland – sondern europaweit. Überall kaufe man die Bestände leer. Zwischenzeitlich könne es daher zu einer „Versorgungsnot“ kommen. Langfristig müsse man aber nicht mit einem Engpass rechnen, da die Sprays zügig und simpel produziert werden könnten.
Die Panik ist einfach extrem. Angst ist gar kein Ausdruck mehr,
sagt Herr Demmer. Und er erzählt eine sinnbildliche Geschichte: In der Nähe seines Geschäftes habe er mehrere Streifenwagen mit Blaulicht gesehen. Also fragt er einen Passanten, was vorgefallen ist. Der antwortet, er habe gehört, dass jemand erschossen worden ist. Eine andere Fußgängerin erzählt wenig später, es sei zwar noch niemand gestorben, aber es habe wohl eine Geiselnahme gegeben.
Aber spätestens seit Paris ist alles anders,
sagt Herr Demmer. Man habe Sicherheit in Mitteleuropa lange Jahre als selbstverständlich genommen. Doch die Bedrohung durch Terrorismus sei willkürlich und unberechenbar:
Vor ein paar Jahren hat sich niemand Gedanken gemacht, wenn er auf ein Konzert, ins Kino oder eine Großveranstaltung gegangen ist. Heute ist das anders. Viele Frauen werden sich an Fasching wohl eher nicht mehr auf die Straßen trauen.
Statistisch gesehen ist die Gefahr zum Opfer eines Anschlags zu werden noch immer verschwindend gering. Doch der Terror findet im Kopf statt: Wahrscheinlichkeiten schön und gut – aber was gibt mir die Sicherheit, unverletzt zu bleiben? Die ungeschönte Antwort ist: Überhaupt nichts. Man kann nur auf sein Glück und die gute Arbeit der Behörden hoffen.
Wer hilft im Ernstfall?
Doch das Vertrauen in die Staatsmacht ist in Weiten Teilen der Bevölkerung brüchig. Laut Herrn Demmer berichteten ihm viele seiner Kunden, sie würden nicht mehr glauben, dass die Polizei sie schützen könne. Spätestens seit den Vorfällen in der Kölner Silvesternacht hätten etliche Frauen panische Angst vor sexuellen Übergriffen:
Für ein Vergewaltigungsopfer ist es nur ein schwacher Trost, wenn ein Verbrechen im Nachhinein aufgeklärt wird. Das macht nichts ungeschehen. Es geht um die Situation – da brauchen sie Schutz.
Herr Demmer selbst empfiehlt den meisten seiner Kunden ebenfalls Pfefferspray. Das sei einfach zu bedienen und sehr wirksam. „Maximal ein Prozent der Kunden kommt jemals in eine Situation, in der sie das Spray einsetzen müssen,“ sagt er: „Dann kann es aber sehr hilfreich sein, einen Angreifer zu stoppen. Und wenn sich 99 Prozent damit im Alltag besser fühlen, ist das auch gut.“
Was nutzen Elektroschocker und Stöcke?
Neben Pfefferspray gibt es noch eine Reihe anderer frei verkäuflicher Waffen. Beispielsweise Elektroschocker und Kubotane (meist spitz zulaufende Stöcke), die theoretisch jeder ab 18 Jahren erwerben und führen darf. Schreckschusswaffen und Gaspistolen dürfen ebenfalls frei erworben und auf privatem Grund verwendet werden.
Um diese Waffen auch in der Öffentlichkeit führen zu dürfen, braucht man allerdings einen kleinen Waffenschein, der bei der örtlichen Waffenbehörde beantragt werden muss. Ein Nachweis der Sachkenntnis ist hierfür – im Gegensatz zur waffenrechtlichen Erlaubnis, die man für scharfe Schusswaffen braucht – nicht notwendig.
Polizei: „Gebrauch muss geübt sein“
Doch wie viel nutzen Waffen im Ernstfall wirklich? Eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Außer vielleicht: Das hängt vor allem vom Benutzer ab. Die Polizei warnt eindringlich:
Eine Waffe allein garantiert noch keine Sicherheit.
Wenn mit Waffen nicht sachgemäß umgegangen wird, könne mehr Schaden als Nutzen verursacht werden, sagt Pressesprecher Norbert Schätzle:
Sobald jemand eine Waffe zieht, erhöht das immer das Eskalationspotenzial. Womöglich gerät ein Täter noch mehr in Rage und greift noch aggressiver an.
Außerdem ist der Gebrauch von Waffen nur in Notwehrsituationen straffrei. Sollte jemand eine Situation falsch einschätzen und beispielsweise voreilig Pfefferspray einsetzen, obwohl gar keine „echte Bedrohungslage“ vorliegt, könnte das vor Gericht als gefährliche Körperverletzung ausgelegt werden. Darauf steht eine Mindeststrafe von sechs Monaten Haft.
„100 Prozent Sicherheit waren schon immer eine Illusion,“ sagt Polizeisprecher Schätzle: „Durch keine Polizei und keine Waffe dieser Welt können alle Übergriffe und Straftaten verhindert werden.“ Die Polizei empfehle daher, die Risiken so weit wie möglich zu reduzieren. Das heißt:
In potenziellen Bedrohungslagen sollte man möglichst schnell Öffentlichkeit herstellen. Also Passanten ansprechen. Möglichst konkret und markante Merkmale benennen. „Hey Du, in der blauen Jacke! Bitte hilf mir“. Das nimmt jemanden in die Verantwortung und Hilfe ist wahrscheinlicher, als wenn man einfach nur ruft: „Hilfe!“
Außerdem empfiehlt die Polizei – insbesondere Frauen, aber auch Männern – nachts nicht alleine durch menschenleere Gegenden zu laufen. „Am besten ist man immer in Gruppen unterwegs,“ sagt Herr Schätzle: „Und wenn das nicht geht, ruft man sich ein Taxi oder nimmt den Nahverkehr.“
Viele werden diese Ratschläge nicht beruhigen können. Dafür sitzt die Angst zu tief. Doch ein „perfekter und garantierter Rundum-Schutz“ ist eine Lüge. Den gibt es nicht – und es hat ihn auch noch nie gegeben. Das ist beängstigend. Aber es ist Realität. Die Gefahr gehört zum Leben.
Nichtsdestotrotz darf man deswegen eines nichts vergessen: Noch immer lebt man in Deutschland sicherer als in fast allen anderen Ländern dieser Welt. Noch immer ist die Wahrscheinlichkeit zum Opfer zu werden vergleichsweise sehr gering. Das zu wissen, ist wohl der beste Schutz, den man seiner Psyche bieten kann.
_____________________
Lesetipp: Selbstbehauptungstraining bei der Polizei
„Ihr müsst zur Furie werden!“
Anm. d. Red.: Das Polizeipräsidium Mannheim bietet kostenfrei Selbstbehauptungskurse an. Die Termine sind unregelmäßig und werden telefonisch vereinbart. Wenn Sie Interesse haben, können Sie sich unter der Nummer 0621 / 174 1201 melden.
Gefallen Ihnen unsere Artikel?
Dann machen Sie andere Menschen auf unser Angebot aufmerksam. Und wir freuen uns über Ihre finanzielle Unterstützung als Mitglied im Förderkreis – Sie spenden für informativen, hintergründigen Journalismus. Hier geht es zum Förderkreis.