Rhein-Neckar/Mainz/Wiesbaden, 07. Juni 2018. (red/pro) Aktualisiert. Die Ermittlungsbehörden im Tötungsdelikt “Susanna F.” haben heute Vormittag Details zum bisherigen Ermittlungsstand auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben. Diese Informationen sind beklemmend und politischer Sprengstoff. Neben der furchtbaren Tat werden ein erhebliches Systemversagen deutlich und auch massive Defizite in der öffentlichen Debatte.
Von Hardy Prothmann
Bevor wir Ihnen die Einzelheiten der aktuell bekannt gemachten Informationen präsentieren, ist folgende Erkenntnis von einer politischen Brisanz ohne Gleichen: Zwei Männer, beide Flüchtlinge, einer Iraker, der andere Türke, stehen im Verdacht ein 14 Jahre altes Mädchen jüdischen Glaubens gemeinsam vergewaltigt und ermordet zu haben. Der 35-jährige Türke wurde am Abend des 06. Juni festgenommen, der 20-jährige Iraker floh aus Deutschland über den Luftweg über Istanbul nach Erbil – zusammen mit seinen Eltern und fünf Geschwistern.
Die Ausreise konnte offenbar durch Vorzeigen von acht deutschen Aufenthaltspapieren und zwei für je vier Personen in arabischer Schrift verfassten “Laissez-passer”-Papieren erfolgen Diese “Durchlass”-Papiere sollen durch die irakische Botschaft ausgestellt worden sein. Die Tickets sollen auf andere Namen als die in den deutschen Papieren ausgestellt worden sein, was in allen acht Fällen offenbar zu keinen Schwierigkeiten führte.
Es reiht sich damit ein Skandal nach dem anderen in Sachen Flüchtlingspolitik. Denn ganz offenbar werden Flüchtlinge ohne Aufenthaltsrecht in Deutschland geduldet, weil sie angeblich nicht abgeschoben werden können – doch ganz offenbar nehmen Staaten wie der Irak ihre Bürger wieder auf, wenn diese freiwillig ausreisen wollen. Die Grenzbeamten verlassen sich bei der Identitätsfeststellung auf einen “Bildabgleich” zur Identifizierung von Personen.
Die beiden mutmaßlichen Täter hätten subsidiären Schutz beantragt: Der Iraker, weil er von der PKK bedroht werde. Der Türke, weil er angeblich für die YPG (den syrischen Ableger der PKK) in Syrien gedient habe und durch andere Gruppen bedroht werde. Die “Totfeinde” wurden dann in Deutschland “Freunde” und ermorden mutmaßlich gemeinsam eine jüdische Minderjährige in Deutschland.
Absurder geht es nicht mehr.
Letzte Aktualisierung, 20:12 Uhr
Nach dem bisherigen Ermittlungsstand insbesondere nach der Auffindesituation des Leichnams und der noch in der Nacht durchgeführten Obduktion müssen wir davon ausgehen, dass die Untersuchte Opfer eines Sexual- und Gewaltdelikts geworden ist,
sagte Oberstaatsanwalt Oliver Kuhn am Donnerstagvormittag auf einer Pressekonferenz.
Chronologien
Die Chronologie vom Verschwinden der “Susanna F.” bis zum Fund der Leiche:
Dienstag, 22. Mai: Die 14-Jährige hält sich in Wiesbaden auf und kommt abends in Mainz nicht nach Hause. Später wird ein Zeuge angeben, dass er das Mädchen noch in der Flüchtlingsunterkunft von Ali B. gesehen haben will.
Mittwoch, 23. Mai: Die Mutter erstattet in Mainz eine Vermisstenanzeige bei der Polizei, die die Kollegen in Wiesbaden informiert, weil das Mädchen dort zuletzt gesehen worden war. Die Mutter wendet sich über Facebook an die Öffentlichkeit. Die Polizei leitet eine Telekommunkationsüberwachung ein, die kein Ergebnis bringt.
Donnerstag, 24. Mai: Die Mutter will eine Whatsapp-Nachricht erhalten haben, in der die Tochter mitteilt, dass sie nach Paris reist. Der Staatsanwalt stellt fest: “Nach unserer Auffassung kann diese nicht mehr von dem Mädchen übersendet worden sein.”
Dienstag, 29. Mai: Eine Bekannte der Tochter informiert die Mutter, Susanna sei tot und ihre Leiche liege an einem Bahngleis. Die Mutter informiert die Polizei, diese können die Zeugin aber nicht befragen, da diese wegen eines Kurzurlaubs “nicht greifbar” war.
Mittwoch, 30. Mai: Die Polizei Wiesbaden übernimmt den Vermisstenfall Susanna F. und sucht nach den neuen Informationen auch mit einem Polizeihubschrauber ohne Ergebnis.
Donnerstag, 31. Mai: Nach Informationen der Polizei reist die Familie “überhastet” ab – diese Informationen erhält die Polizei aber erst am 03. Juni.
Freitag, 01. Juni: Um 21:29 werden acht Flugtickets für den 02. Juni, 14:35 Uhr gebucht, dann nochmals umgebucht für einen Flug Düsseldorf-Istanbul um 19:10 Uhr. Bei der Ausweiskontrolle zeigt die achtköpfige Familie des tatverdächtigen Irakers deutsche Aufenthaltspapiere vor, sowie “Laissez-passer”-Dokumente in arabischer Sprache. Ein Abgleich der Namen in den deutschen Papieren mit anderslautenden Namen auf den Tickets findet nicht statt. Es erfolgt nur ein Abgleich der Lichtbilder, die identisch sind. In Istanbul kommt die Familie um 23 Uhr an und reist am 03. Juni um 12:20 Uhr ins irakische Erbil weiter.
Sonntag, 03. Juni: Ein 13-jähriger Flüchtlingsjunge aus derselben Flüchtlingsunterkunft in Wiesbaden informiert die Polizei um 18:30 Uhr, dass Susanna durch den Iraker Ali B. sowie den 35-jährigen Türken vergewaltigt und ermordet worden sein soll. Er macht Angaben zum Ort, wo die Leiche liegen soll – dies wird sich später so bestätigen. Die Polizei sucht die Wohnung der Familie von Ali B. auf – dort ist niemand mehr anzutreffen. Seit 01. Juni wurde nach Angaben des Hausmeisters keine Post mehr abgeholt. Die Polizei beschlagnahmt Kleidungsstücke, die noch kriminaltechnisch untersucht werden.
Montag bis Mittwoch, 04.-06. Juni: Die Fahndung nach Ali B. geht um 3:30 Uhr online. Die Polizei setzt die Suchmaßnahmen mit täglich 300-400 Beamten fort und findet schließlich “durch Glück” die neben einem Bahngleis eingescharrte Leiche, die mit Zweigen und Holz abgedeckt ist, in der Gemarkung “Unterm Kalkofen” (Wiesbaden-Erbenheim). Weil die Witterung trocken war, ist die Leiche nicht stark verwest, sondern eingetrocknet, was die polizeiliche Ermittlungsarbeit begünstigt. Ein DNA-Abgleich bestätigt die Identität von Susanna F.. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft wurde das Mädchen missbraucht und später erdrosselt. Der Auffindeort der Leiche ist nicht der Tatort, dieser soll ein Feld in der Nähe sein.
Mittwoch, 06. Juni: Am Abend wird der tatverdächtige Türke verhaftet. Dieser soll am 07. Juni dem Haftrichter vorgeführt werden.
Donnerstag, 07. Juni: Die Ermittlungsbehörden geben am Vormittag eine Pressekonferenz und informieren über bisherige Erkenntnisse. Der Zentralrat der Juden in Deutschland drückt seine Trauer über den Tod des Mädchens aus. Sie war laut Zentralrat Mitglied der jüdischen Gemeinde Mainz.
Tatverdächtig sind der 20-jährige Iraker Ali B. sowie ein 35-jähriger Türke, dessen Namen nicht mitgeteilt worden ist. Beide sind Flüchtlinge und lebten in Unterkünften in Wiesbaden. Sie sind dringend tatverdächtig, Susanna F. im Zeitraum vom 22. auf den 23. Mai vergewaltigt und ermordet zu haben.
Der Türke
30. Mai 2017: Zum 35-Jährigen ist nur bekannt, dass er am 30. Mai 2017 eingereist sein soll und am 31. Mai in Gera sein Asylersuchen angemeldet habe. Das Verfahren wegen illegaler Einreise wird eingestellt.
01. Juni 2017: Der Mann kommt in die Erstaufnahmeeinrichtung nach Gießen.
06. Juni 2017: Er stellt einen Asylantrag als ehemaliger Kämpfer der YPG (syrische PKK), der von anderen Gruppen bedroht werde.
14. Juni 2017: Er wird einer Unterkunft in Wiesbaden zugeteilt. Laut Polizei ist über seinen Asylantrag noch nicht entschieden.
Hinweis: Bitte beachten Sie die Aktualisierung unten.
Der Iraker
16. Oktober 2015: Die achtköpfige Familie reist vom Irak über die Türkei, Griechenland und die Balkanroute nach Deutschland
28. Oktober 2015: Der Iraker wird in der Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen registriert.
13. April 2016: Die Familie wird nach Wiesbaden verlegt.
27. September 2016: Der Iraker stellt einen Asylantrag auf subsidiären Schutz wegen Bedrohung durch Folter und Unversehrtheit der Person. (Anm. d. Red.: Zu den Asylanträgen der restlichen Familienmitglieder wurden keine Angaben gemacht.)
24. Oktober 2016: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hört den Iraker an. Er behauptet von der PKK verfolgt und bedroht zu werden.
30. Dezember 2016: Der Antrag wird abgelehnt.
09. Januar 2017: Ein Wiesbadener Rechtsanwalt legt Einspruch beim Verwaltungsgericht Wiesbaden gegen die Ablehnung ein. Der Iraker erhält wegen der laufenden Klage eine Aufenthaltsgenehmigung. (Anm. d. Red.: Zum Status der Klage wurde nichts mitgeteilt. In anderen Medien heißt es, diese sei abgelehnt – das konnten wir noch nicht verifizieren.)
April 2017: Es kommt in Wiesbaden zu einer Schlägerei zwischen zwei Gruppen – tatbeteiligt soll Ali B. sein, was nicht nachgewiesen werden kann.
11. Februar 2018: Ein Mann wird von drei Männern geschlagen, tatbeteiligt soll Ali B. sein. Die Polizei kommt nicht weiter, weil der Geschädigte keine “Aufklärungshilfe” zeigt.
24. März 2018: Ali B. soll eine Stadtpolizistin angerempelt haben und stürzt. Daraufhin soll er um sich geschlagen und getreten sowie gespuckt haben. Hinzugerufene Polizeibeamte setzen in fest. Der Tatverdacht ist begründet.
März 2018: Ein “Ali” soll ein 11-jähriges Flüchtlingsmädchen in der Unterkunft vergewaltigt haben, in der auch Ali B. lebte. Dort sind vier Ali bekannt. Der Vorfall wird erst am 17. Mai der Polizei gemeldet, nachdem sich das Mädchen ihrer Schwester anvertraut hatte. Die Polizei konnte bislang noch keinen Tatverdacht konkretisieren, weil dazu die mutmaßlich Geschädigte noch vernommen werden muss und festgestellt werden muss, ob es sich bei “Ali” um Ali B. oder einen anderen Mann handelt.
27. März 2018: Drei Männer rauben unter Vorhaltung eines Messers einen Mann aus. Laut Polizei dürfte die Tatbeteiligung von Ali B. “klar” sein.
19. April 2018: Bei einer Kontrolle wird ein so genanntes “Einhandmesser” bei Ali B. gefunden, was unter das Waffenbesitzverbot fällt.
Tatverdächtiger hat sich in Sicherheit gebracht – dort, von wo er angeblich fliehen musste
Polizeipräsident Stefan Müller stellt fest, dass Ali B. am Februar 2018 “uns intensiver beschäftigte, nachdem er zuvor nicht auffällig war”.
Offenbar gab es eine “Kenn-Beziehung” der Susanna F. zu einem jüngeren Bruder von Ali B.. Unklar ist, ob das Mädchen mit dem jüngeren Bruder eine “Beziehung” eingehen wollte. Unklar ist ebenfalls, wie gut sich Ali B., der Türke und Susanna F. kannten.
Susanna F. ist ebenfalls seit etwa Februar auffällig. Sie schwänzt die Schule und ist häufiger “abgängig, ohne dass die Polizei eingebunden war”: “Das war keine einfacher Vermisstenfall”, sagt Herr Müller.
Laut Staatsanwalt Kuhn wird international nach Ali B. gefahndet.
Warum die Familie nicht abgeschoben worden ist, ist unklar. Woher die Familie die Mittel hatte, sich umgehend Flugtickets zu besorgen, ist unklar. Wieso die acht Personen einfach aus Deutschland in die Türkei und von dort in den Irak fliegen konnten, ist unklar.
Ob es ein Auslieferungsabkommen mit dem Irak gibt, ist unklar. Ob die dortigen Behörden gegen den Tatverdächtigen ermitteln werden, ist unklar. Ob der mutmaßliche Täter je zur Rechenschaft gezogen werden kann, ist unklar. Welche Kosten dabei entstehen, ist unklar.
Vermutlich klar ist, dass Susanna F. in der Nacht vom 22. auf den 23. Mai auf einem Feld um Wiesbaden vergewaltigt wurde. Wie oft und von wem, ist unklar. Klar ist, dass sie geschlagen worden ist. Unklar ist, wie lange sie leiden musste. Klar ist, dass sie danach erdrosselt worden ist und die mutmaßlichen Täter ihre Leiche an einem andere Ort verscharrt haben, um die Tat zu verdecken.
Klar ist, dass sehr viel unklar ist. Ebenso klar ist, dass der Mordfall Susanna F. erhebliche politische Sprengkraft hat und mit Sicherheit Parallelen zu “Kandel” und anderen Fällen gezogen werden (müssen).
Aktualisierung, 20:36 Uhr:
Die Polizei Wiesbaden teilt mit:
“Haftbefehlsantrag gegen zweiten mutmaßlichen Tatverdächtigen im Fall Susanna Maria Feldman zurückgenommen.
(He)Nachdem sich im Laufe des Nachmittags neue Ermittlungsergebnisse ergeben haben, nach welchen ein dringender Tatverdacht gegen den 35 Jährigen Beschuldigten zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr zu begründen ist, wurde der Haftbefehlsantrag am heutigen Abend im Rahmen der Vorführung vor dem Ermittlungsrichter beim AG Wiesbaden durch die Staatsanwaltschaft zurückgenommen. Der Beschuldigte wurde nach Beendigung der Anhörung entlassen.
Die Ermittler der Wiesbadener Kriminalpolizei bitten weiterhin um Zeugenhinweise aus der Bevölkerung. Wer hat in der Nacht vom 22./23.Mai 2018 und auch am 23.Mai 2018 tagsüber in dem Bereich Wiesbaden-Erbenheim, Kreuzberger Ring sowie in dem Gebiet zwischen Boelckestraße, Bundesstraße 455 und der Bahnlinie (Gemarkung “Dörrwiesen”) verdächtige Wahrnehmungen gemacht?
Wer hat Susanna Feldman am 22. und/oder 23.Mai 2018 gesehen?
Zur Hinweisaufnahme wurde ein Callcenter mit mehreren Polizeibeamten eingerichtet. Dieses ist bis auf weiteres rund um die Uhr besetzt. Zeugen oder Hinweisgeber werden gebeten, sich dort unter der Rufnummer (0611) 345-5555 zu melden.”
Die Zeitungsgruppe VRM (Verlagsgruppe Rhein-Main) hat die Pressekonferenz aufgenommen. Wir binden das Video mit freundlicher Genehmigung ein.
Live von der Pressekonferenz im Fall Susanna F. Justizzentrum Wiesbaden.
Gepostet von VRM am Donnerstag, 7. Juni 2018