Rhein-Neckar, 31. Oktober 2016. (red) Seit dem Tod eines jungen Polizeibeamten im fränkischen Georgensgmünd 20. Oktober 2016 sind die „Reichsbürger“ in aller Munde. Wir haben diese „Bewegung“, die das Bestehen der Bundesrepublik Deutschland als Staat leugnet und auf dem Fortbestand des Deutschen Reiches beharrt, bereits mehrfach als „hochproblematisch“ thematisiert. Der Weinheimer Landtagsabgeordnete Hans-Ulrich Sckerl, innenpolitischer Sprecher und parlamentarischer Geschäftsführer von Bündnis90/Die Grünen im Landtag von Baden-Württemberg, warnt in in den heutigen Montagsgedanken diese „Bewegung“ zu unterschätzen und fordert, dass man aktiv werden muss, um die „Spinner“ zu stoppen.
Gastbeitrag: Hans-Ulrich Sckerl
Plötzlich reden alle von den „Reichsbürgern“. Dabei gibt es Gruppen von Menschen, die sich so nennen, seit den 1980er Jahren. Die Idee, die hartnäckige Leugnung des Zusammenbruchs des Nationalsozialismus 1945 zum politischen Programm zu erheben und die Ablehnung jeglicher staatlichen Nachkriegsordnung auch praktisch zu leben, entstand in rechtsextremen Kreisen schon in der Mitte der 1970er Jahre.
Deutschlandweit tausende von Reichsbürgern
Heute existieren deutschlandweit zahlreiche, zum Teil gegeneinander konkurrierende Klein- und Kleinstgruppen. Die gesamte Szene umfasst deutschlandweit geschätzt wohl schon einige tausend Personen in mehr als mindestens einem Dutzend Organisationen. Konkreter kann es derzeit wohl nicht benannt werden, weil die Bewegung jahrelang nicht beachtet wurde.
Nur verrückte Spinner, die den Traum vom Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 träumen? Oder braut sich da seit Jahren auf dem ganz rechten Rand eine gefährliche Bewegung zusammen? Die Bundesregierung hat erkennbar Mühe, in der Beantwortung einer Kleinen Anfrage der Linken im Juli 2016 mindestens 13 Organisationen von „Reichsbürgern“ aufzulisten.
Dazu zählt zum Beispiel seit 1994 auch das „Deutsche Kolleg“ um den ehemaligen Linksterroristen und Wanderer zwischen den Extremen Horst Mahler. Dessen Lebensgefährtin hatte im vergangenen Jahrzehnt eine Reihe von Auftritten vor dem Mannheimer Landgericht; als Verteidigerin wie auch als Angeklagte. Sie wurde 2008 bzw. 2009 wegen Volksverhetzung zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.
Reichsbürger zeigen eine Affinität zum Rechtsextremismus
Ein ganz typisches Merkmal der „Reichsbürger“ ist eine große Affinität zum Rechtsextremismus. Daneben finden sich Verschwörungstheoretiker, Esoteriker, Antisemiten, völkische Ideologen, Holocaust-Leugner, notorische Querulanten und sozial Deviante in den heterogenen Reihen der „Reichsbürger“.
In den vergangenen Monaten gab es immer wieder Gerichtsprozesse wegen Übergriffen von „Reichsbürgern“ auf Gerichtsvollzieher und Polizisten, wobei häufig versucht wurde, sich Waffen zu beschaffen. Trauriger Höhepunkt ist die Ermordung eines jungen Polizeibeamten im fränkischen Georgensgmünd.
Auch in Baden-Württemberg sind mehrere Fälle bekannt, in denen „Reichsbürger“ die staatlichen Institutionen nicht anerkannten und teilweise gewalttätig gegen Beamtinnen und Beamte wurden.
Aus „Spinnern“ werden Straftäter
Als ein Polizeibeamter vor wenigen Wochen die Papiere eines „Reichsbürgers“ in Korb (Rems-Murr-Kreis) kontrollieren wollte, erwiderte dieser, er brauche keine und er erkenne die Bundesrepublik ebenso wenig an wie die Polizei. Der Polizeibeamte drohte daraufhin Zwang an und versuchte, den Zündschlüssel abzuziehen, woraufhin der Fahrer Gas gab und den Polizeibeamten mitschleifte. Der wurde zum Glück nur leicht verletzt.
In einem anderen Fall beschimpfte eine „Reichsbürgerin“ aus dem Ortenaukreis ein Gericht in Achern als „Nazi-Gericht“ und drohte dem Richter. Dieser verurteilte sie zunächst zu einem Ordnungsgeld, dann zu einer Ordnungshaft.
Aus scheinbar bloßen Spinnern scheinen nun immer mehr Straftäter zu werden. Aus der schon erwähnten Stellungnahme der Bundesregierung vom 12.07.16 auf eine Kleine Anfrage der Linken (BT-Drs. 18/9161) geht hervor, dass zahlreiche der Reichsbürgerszene zuzurechnende selbsternannte „Reichsregierungen“, „Exilregierungen“ und „Staaten“ auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland inzwischen strafrechtlich in Erscheinung getreten sind.
So ist auch der selbsternannte Staat „Germanitien“, der seinen Sitz in Heilbronn haben soll, strafrechtlich in Erscheinung getreten durch Nachstellung, Urkundenfälschung, Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole, Missbrauch von Titeln, Beleidigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.
„Reichsbürger“ bei der Polizei?
In den Reihen der bayerischen Polizei sind bzw. waren nach Angaben von Innenminister Joachim Herrmann (CSU) vier Beamte bei den „Reichsbürgern“ aktiv. Einer der Beamten sei seit dem Frühjahr suspendiert, aber was ist mit den anderen?
Für den Staat tätig sein und ihn gleichzeitig ablehnen – das geht nicht zusammen. Da muss überall bei der Polizei wie bei allen staatlichen Tätigkeiten und Dienststellen eine klare rote Linie gezogen werden. Extremisten haben im öffentlichen Dienst nichts verloren. Da hat die Polizei auch dazu gelernt. In Baden-Württemberg wird seit 2011 ein deutlich stärkerer Schwerpunkt auf politische Bildung in den Reihen der Polizei gelegt. Bewerber werden hinsichtlich ihrer Haltung zu Staat und Grundgesetz befragt.
Einen Fall hat der NSU-Untersuchungsausschuss aufgearbeitet. Mindestens zwei Polizisten aus Baden-Württemberg waren Mitglied im rassistischen Ku-Klux-Klan. Der Fall wurde vor Jahren wie eine heiße Kartoffel zwischen den Dienststellen hin und her geschoben, bis angemessene Disziplinarmaßnahmen nicht mehr möglich waren.
Unter anderem wegen solcher Erfahrungen haben wir die Einrichtung eines unabhängigen Bürger- und Polizeibeauftragten beim Landtag geschaffen. An den können sich auch ausdrücklich Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte direkt wenden, wenn in ihrem Umfeld etwas schief läuft. Die neue Einrichtung wird gerade personell besetzt und soll dann schnell an den Start gehen.
Unser Ziel ist: Wir wollen unsere Behörden besser gegen solche Gefahren wappnen, immunisieren. Mehr Transparenz, mehr Offenheit, mehr Kontrolle durch die Öffentlichkeit stärken das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden und ihre Arbeit.
Dass Handlungsbedarf besteht zeigt auch ein Beitrag Jan Rathjes für die Bundeszentrale für politische Bildung. Aus dem geht hervor, dass ein sogenannte reichsideologisches „Deutsches Polizei Hilfswerk“ (DPHW) durch Gewalt und Selbstjustiz auf sich aufmerksam machte.
Das DPHW, das 2012 von Volker Schöne, einem ehemaligen Mitglied der Deutschen Polizeigewerkschaft Sachsen e. V., gegründet wurde, veranstaltete in mehreren Bundesländern Schulungs- und Informationsveranstaltungen. Ende November 2012 nahmen mehrere DPHW-Mitglieder einen Gerichtsvollzieher „in Gewahrsam“, der eine Zwangsvollstreckung im sächsischen Bärwalde bei Meißen durchführen sollte. (Jan Rathje, Zwischen Verschwörungsmythen, Esoterik und Holocaustleugnung – die Reichsideologie, 14.10.15)
Aus der zitierten Antwort der Bundesregierung geht hervor, dass das „DPHW“ strafrechtlich einschlägig in Erscheinung getreten ist.
Baden-Württemberg – mal wieder die „Insel der Seligen“?
Anhänger der sogenannten Reichsbürgerbewegung werden in Baden-Württemberg vom Verfassungsschutz bisher nur in wenigen Fällen beobachtet. In den meisten Fällen fehle es an einer entsprechenden politischen Motivation, heißt es in einer Information des Verfassungsschutzes zum Thema. Ich bezweifle, dass diese Position haltbar ist. Denn die Fälle häufen sich, in denen eine gefährliche Verbindung zwischen Reichsideologie und Rechtsextremismus besteht. Morddrohungen sowie Sprengstoff- und Waffenfunde zeigten die Gewaltbereitschaft dieser besonderen verschwörungsideologischen Szene. (s. Jan Rathje)
Diese Leute dürfen keine Waffen in die Hand bekommen
Der Staat hat das Gewaltenmonopol inne. Das ist zweifellos eine wichtige demokratische Errungenschaft. Dies anzuerkennen heißt dann aber auch, alle Fälle von Zuwiderhandlungen konsequent zu ahnden. Dazu gehört, dass jede Form von Selbstjustiz ausgeschlossen sein muss. Es muss verhindert werden, dass derart radikalisierte Menschen Waffen in die Finger bekommen.
Ich will deshalb u.a. wissen, ob Mitglieder dieser Szene in Baden-Württemberg Waffenberechtigungsscheine und Waffen haben. Das muss streng überprüft werden. Das Waffengesetz sieht bereits vor, dass Waffenscheine entzogen werden können, wenn Anzeichen auf Fremdgefährdung bestehen. Personen, die sich nicht an Recht und Gesetz gebunden fühlen, sind doch eindeutig eine Bedrohung für die Allgemeinheit.
Es beginnt mit Schikanen und endet mit Gewalt
Nach Auffassung der „Reichsbürger“ ist das sogenannte „Deutsche Reich“ 1945 nicht untergegangen, weshalb die Bundesrepublik Deutschland eine GmbH sei und über keinerlei staatsrechtliche Legitimität verfüge. In der Konsequenz bedeutet dies die Ablehnung des Staates und all seiner Institutionen, darunter eben auch die Polizei. Das Grundgesetz besitze, nach Auffassung der selbsternannten „Reichsbürger“, keinen Verfassungsrang, da nicht legitimiert.
In der Konsequenz belästigen „Reichsbürger“ Behörden und Gerichte seit Jahren mit Papierkrieg. Ein neues und vermehrt auftretendes Phänomen ist: Sie üben Gewalt gegen Vertreter öffentlicher Institutionen aus, bis hin zum Mord. Deutlicher kann man Verfassungsfeindlichkeit nicht zum Ausdruck bringen. Oder sollen wir uns ernsthaft auf eine Debatte einlassen, ob das Bonner Grundgesetz vom 23. Mai 1949 die gegenwärtige staatsrechtliche Grundlage für die Bundesrepublik Deutschland in ihren Grenzen von 1990 darstellt oder nicht?
Die Landesämter für Verfassungsschutz müssen jetzt Versäumtes nachholen und der Gesellschaft Erkenntnisse über die „Reichsbürger“ zur Verfügung stellen. Die Zivilgesellschaft sollte sich dafür interessieren. Alle Behörden müssen so aufgestellt sein, dass sie sich gegen Schikanen und Bedrohungen der „Reichsbürger“ konsequent wehren können.
Zum Stopp dieser Bewegung kann beitragen, wer vor Ort Beobachtungen über seltsame Führerscheine, Reichsflaggen und Grenzziehungen in Gärten macht und dies nicht mehr als „spinnerter Nachbar“ abtut.
Erlebnisse mit, aber auch Dokumente von „Reichsbürgern“ sollten künftig bei der Polizei landen und nicht mehr „gering“ geschätzt werden.
Zur Person:
Hans-Ulrich Sckerl (65) ist „Woinemer“ und ein „Ur-Grüner“ und seit 1980 Mitglied der Partei. Seit 2006 ist er Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg für den Wahlkreis Weinheim, 2016 hat er das Direktmandat gewonnen. Er ist Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion Bündnis90/Die Grünen im Stuttgarter Landtag, Arbeitskreisvorsitzender-Vorsitzender Innenpolitik, Innenpolitischer Sprecher sowie Sprecher für Datenschutz und Informationsfreiheit. Seit 1984 ist er Kreisrat im Rhein-Neckar-Kreis, war Gemeinderat in Hirschberg (1988-1998) und ist seit 2004 Stadtrat in Weinheim. Für die Montagsgedanken haben wir ihn gebeten, uns einen Gastbeitrag zum Thema zu schrieben.
Unsere Kolumne Montagsgedanken greift Themen außerhalb des Terminkalenders auf – ob Kultur oder Politik, Wirtschaft oder Bildung, Weltweites oder Regionales, Sport oder Verkehr. Kurz gesagt: Alle Themen, die bewegen, sind erwünscht. Teils kommen die Texte aus der Redaktion – aber auch sehr gerne von Ihnen. Wenn Sie einen Vorschlag für Montagsgedanken haben, schreiben Sie bitte an redaktion (at) rheinneckarblog.de, Betreff: Montagsgedanken und umreißen uns kurz, wozu Sie einen Text in der Reihe veröffentlichen möchten. Natürlich fragen wir auch Persönlichkeiten und Experten an, ob sie nicht mal was für uns schreiben würden….