Weinheim/Rhein-Neckar, 11. Juli 2015. (red/ms) Ab Anfang August werden 80 Asylbewerber im Weinheimer Hotel GUPS untergebracht. Diese Nachricht kam aus dem Nichts: Verhandlungen mit der Stadt hat es nicht gegeben, die Bevölkerung wurde per Pressemitteilung vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Anwohner sind von diesem Vorgehen “überrascht”. Das Vertrauen ist stark beschädigt. Landrat Stefan Dallinger ist verantwortlich. Gestern nahm er sich fast eine ganze Stunde Zeit, die Bevölkerung zu beschwichtigen – und ist damit halbwegs erfolgreich, weil die Mehrheit der Weinheimerinnen und Weinheimer offenbar noch gutmütig ist. Aber die Stimmung kann kippen.
Von Minh Schredle
Knapp 150 Besucher. Die Stimmung ist aufgeheizt. Viele ältere Herren sitzen mit verschränkten Armen da. Grimmige Gesichtsausdrücke. In Gesprächen beschweren sie sich über “ein Unding”, “eine Sauerei” und ähnliches. Sie fühlen sich hintergangen.
An einem Tisch sitzen sechs Personen und beobachten die Situation. Sie warten ab, bis sich das Gemurmel etwas beruhigt hat. Dann steht einer von ihnen auf und stellt sich vor:
Für diejenigen, die mich noch nicht kennen: Ich bin Landrat Stefan Dallinger – und ich bin der, der für ihren Unmut verantwortlich ist.
Kurz darauf erwähnt Herr Dallinger, dass es “gar nicht geplant gewesen” wäre, “heute in Weinheim zu erscheinen”. Herr Dallinger hat auch nur eine knappe Stunde Zeit – dann “drängen andere Aufgaben”.
Der Landrat des Rhein-Neckar-Kreises ist persönlich erschienen – alles andere wäre nach dem, was vorgefallen ist, ein weiterer Affront für die Weinheimer Bürgerschaft im Waid gewesen.
Fragwürdiges Vorgehen
Am 30. Juni verkündete das Landratsamt Rhein-Neckar per Pressemitteilung, dass ab Anfang August 80 Flüchtlinge im GUPS Hotel im Stadtteill Waid untergebracht werden. Das kam aus dem Nichts. Die Bevölkerung wurde vor vollendete Tatsachen gestellt. Verhandlungen mit der Stadt hat es nicht gegeben.
Herr Dallinger versucht, sich zu entschuldigen. Die “nicht abreißenden Flüchtlingsströme” seien eine “gewaltige Belastung”. Man stehe “ohnehin schon mit dem Rücken zur Wand”, aber nun werde “auch noch jeden Tag eine Schippe draufgelegt”. Fast erscheint es, als wären Herr Dallinger und sein Team die wahrhaftig Notleidenden.
Vollkommen klar ist: Allen Menschen, die in Deutschland Asyl suchen, einen menschenwürdigen Aufenthalt zu ermöglichen, ist eine enorme Herausforderung. In diesem Jahr sollen nach Angaben des Bundes insgesamt etwa 400.000 Asylanträge gestellt werden, dazu 50.000 Folgeanträge.
Im Rhein-Neckar-Kreis finden aktuell etwa 2.200 Menschen auf der Flucht eine Unterkunft. Bis zum Ende des Jahres werden wohl um die 1.800 weitere Personen untergebracht werden müssen. Wo das geschehen soll, ist momentan noch völlig offen. Da der Kreis daran interessiert ist, möglichst viele an einem Standort unterzubringen und Mindestgrößen von 50-80 Personen anstrebt, braucht es also mindestens 20, vielleicht auch 30 und mehr neue Unterkünfte in den 52 Gemeinden.
2016 werden es ersten Schätzungen des Innenministeriums zufolge bis zu 600.000 Asylsuchende werden. Umgerechnet sind das für 2016 dann rund 4.500 neue Flüchtlinge. Rechnet man alle vorhandenen Plätze nach einem Jahr als “frei”, weil die Asylverfahren abgeschlossen sind und der Kreis die Asylsuchenden an die Kommunen “weitergeben” kann, fehlen mit den aktuellen nicht vorhandenen Plätzen also 4.100 Unterbringungsplätze – das heißt, zwischen 40 und 80 Unterkünfte.
Es gibt keine Menschenflut.
Klar ist ebenfalls: Herr Dallinger steht als oberster Verantwortlicher des Rhein-Neckar-Kreises unter einem hohen Druck. Und eben weil er so viel Verantwortung trägt, sollte er seine Worte verantwortungsvoller wählen: Flüchtlinge sind Menschen in Not – keine bedrohliche Naturkatastophe, die Deutschland zu “überschwemmen” droht.
Herr Dallinger wird von Landratsamts-Kollegen begleitet: Stefan Becker, der Leiter des Ordnungsamts, Christoph Kölmel vom Sozialamt und Rainer Steen vom Gesundheitsamt. Herr Becker ist der zuständige Experte, wenn es um Flüchtlingsunterkünfte im Rhein-Neckar-Kreis geht und wird immer dann zurate gezogen, wenn Herr Dallinger Zahlen nicht parat hat.
Das Publikum besteht hauptsätzlich aus Anwohnern, unter ihnen sind leider kaum Jugendliche. Dafür sind Oberbürgermeister Heiner Bernhard (SPD), Erster Bürgermeister Torsten Fetzner und der Landtagsabgeordnete Hans-Ulrich Sckerl (Grüne) anwesend.
“Wir haben schon Großes geleistet”
Herr Dallinger hält eine Einstiegsrede und verweist auf “große Erfolge”: Bei seiner Wahl zum Landrat vor fünf Jahren habe es im Rhein-Neckar-Kreis 300 Plätze zur Unterbringung von Flüchtlingen gegeben. Diese Zahl habe er beinahe verzehnfacht. Über die vergangenen Monate hinweg habe der Kreis jeweils um die 200 Flüchtlinge unterbringen müssen. Im Juni waren es dann “völlig überraschend plötzlich 500”.
Man habe reagieren müssen, sagt Herr Dallinger. Es sei in seinen Augen um Längen besser, ein Hotel anzumieten, als beispielsweise Turnhallen ihres Zweckes zu entfremden. Schließlich wolle man die Flüchtlinge menschenwürdig unterbringen. Ein Teil des Publikums applaudiert. Herr Dallinger sagt:
Die Lage nötigt uns Einiges ab. Aber wenn so etwas gelingen kann, dann in Weinheim.
Oder in Schwetzingen. Das sagt Herr Dallinger zwar nicht – aber dort werden sogar noch kurzfristiger als in Weinheim 120 Menschen in Not in einem Hotel untergebracht.
Wenig später spricht Herr Dallinger von den 120 Plätzen in Schwetzingen und “den 60 in Weinheim”. Es gibt Protest aus dem Publikum. Herr Dallinger wendet sich kurz Herrn Becker. Dann verbessert er sich: “80 Plätze in Weinheim.”
Beteiligung wäre “wünschenswert”
Herr Dallinger redet davon, dass es wünschenswert gewesen wäre, die Bürger in seinen Entscheidungsprozess miteinzubeziehen. Das habe aber “die Dynamik aber nicht zugelassen”. Immerhin nimmt er sich nun fast eine ganze Stunde Zeit, um mit der betroffenen Bevölkerung zu reden – und die ist gespalten.
Viele zeigen Verständnis und sind offen, die Erklärungen des Landratsamts zu hören. Andere sitzen mit verschränkten Armen und finsteren Minen da und schnauben nach jeder zweiten Äußerung verächtlich auf. Noch ist es die Minderheit.
Holocaustleugner Deckert provoziert
Nach den einführenden Worten von Herrn Dallinger gibt es die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Die Diskussion wird moderiert von Rainer Steen, der beim Gesundheitsamt des Kreises arbeitet. Herr Steen erklärt, es sei verständlich, dass die Bevölkerung Bedenken und Ängste habe und bat darum, diese offen zu äußern, “bevor sich etwas anstaut”.
Er verwies ebenfalls darauf, dass die Diskussion sachlich ablaufen müsse und er menschenverachtende Wortmeldungen unterbinden würde. Noch ehe er ausgeredet hat, geht ein Arm nach oben. Der Mann steht auf und stellt sich vor:
Günter Deckert, Altstadtrat.
Einen Raunen geht durch den Raum. Landrat Dallinger und seine Begleiter stehen auf und entfernen sich vom Tisch. “Mit ihnen werde ich nicht diskutieren,” sagt Landrat Dallinger. Deckert brüllt ihm hinterher: “Sie Feigling.”
Günter Deckert ist ein vorbestrafter Holocaustleugner und Neonazi, der unter anderem wegen Volksverhetzung inhaftiert wurde. Altstadtrat war er für die NPD, später für die “Deutsche Liste”. Die Moderation lässt seine Frage dennoch zu. Deckert will wissen, warum keine Konversionsflächen und “Ami-Kasernen” für Flüchtlingsunterbringungen verwendet werden. Ein Teil des Publikum applaudiert.
Bedenkliche Entwicklungen
Laut Herrn Dallinger würde es sich nicht rentieren, Konversionsflächen auf den nötigen Stand der Technik zu bringen. Neben grundlegenden Sanierungsmaßnahmen müssten die Wasser- und Stromerschließung komplett erneuert werden – das sei in den meisten Fällen noch teurer als ein kostengünstiger Neubau.
Nach etwa 40 Minuten verlässt Deckert die Veranstaltung, ohne sonst weiter aufgefallen zu sein. Er wird nicht ausgebuht. Er bekommt keinen Applaus. Vom Großteil des Publikums wird er kaum registriert. Wie viele wohl gewusst haben, um wen es sich handelt?
Der Auftritt von Deckert war unterm Strich unbedeutend. Nichtsdestotrotz ist es mehr als bedenklich, dass ein überzeugter und stadtbekannter Neonazi für seine Provokation Beifall von Teilen der Weinheimer Bevölkerung bekommt.
Kommen weitere überraschende Zeitdruck-Notlösungen?
Ein Anwohner stellt schließlich die Frage, die aktuell die meisten Weinheimer bewegen dürfte. Er beklagt sich zunächst darüber, dass man vor vollendete Tatsachen gestellt wurde und dass alles “von heute auf morgen beschlossen würde”.
Dann nimmt er Bezug darauf, dass das Landratsamt mit dem GUPS Hotel unter Ausschluss der Öffentlichkeit Verhandlungen geführt hat. Dies habe das Landratsamt mit “schützenswerten Interessen des Eigentümers begründet”. Er fragt:
Wie kann es denn sein, dass die Interessen eines Einzelnen über die einer ganzen Stadt gestellt werden?
Auf seine Frage folgt tosender Applaus. Laut Herrn Dallinger würde er bei solchen Verhandlungen die Öffentlichkeit grundsätzlich erst dann informieren, wenn Vertragssicherheit besteht. Ansonsten könnten die Verhandlungspartner “aus gewissen Kreisen” unter Druck gesetzt werden, keine Räumlichkeiten an Flüchtlinge zu vermieten. Das könne man sich nicht leisten – denn man benötige alle möglichen Kapazitäten.
Was hat diese Aussage zu bedeuten? Sind Weinheim und Schwetzingen nur der Anfang gewesen? Kann man sich bereits jetzt darauf einstellen, dass bei weiter steigenden Flüchtlingszahlen weitere Hotels angemietet werden und die Öffentlichkeit wieder erst im Nachhinein informiert wird – dann, wenn nichts mehr zu verhandeln ist?
Das wirkt zumindest wahrscheinlich. Denn was aktuell an Räumlichkeiten vorhanden ist, ist (über)belegt. Neubauten sind an komplexe, langwierige baurechtliche Verfahren gebunden und nicht mal eben “auf die Schnelle” umzusetzen. Demnach ist also durchaus denkbar, dass noch die ein oder andere “überraschende Notlösung” folgen wird.
Stimmung kann kippen
Von den knapp 150 Besuchern verlassen gut zwei Dutzend die Veranstaltung vorzeitig. Einige rufen beim Herausgehen Dinge wie “Eine Farce ist das hier!” oder “So ein Gelaber will doch niemand hören”. Das verdeutlicht: Rund 15 Prozent der Anwesenden steigen bereits aus einer Gesprächsbereitschaft aus.
Noch hat sich die Mehrheit beschwichtigen lassen. Wirklich zufrieden scheint kaum jemand mit dem Vorgehen zu sein – doch erkennen sie an, dass ein Ausnahmezustand vorliegt und zügige Entscheidungen getroffen werden müssen, um handlungsfähig zu bleiben.
“Man muss sich wohl damit abfinden”
Neben mir sitzt ein Mann, etwa um die 70 Jahre alt. Am Anfang war er noch regelrecht wütend und sprach davon, dass man die Bewohner “hinterlistig hintergangen” hätte. Nach der Veranstaltung ist er deutlich ruhiger. Nachdenklicher.
Ich frage ihn, ob er überzeugt werden konnte. Er runzelt die Stirn:
Ich bin immer noch der Meinung, dass dieses Vorgehen nicht ganz sauber war.
Er macht eine Pause, schüttelt dann kurt mit dem Kopf und fügt hinzu:
Aber das Hotel ist eine passable Unterkunft. Wie der Landrat sagt, sicher besser als eine Turnhalle. Es gehört wohl dazu, sich in Zeiten wie diesen mit Notlösungen abfinden zu müssen.
Noch scheint die Mehrheit der Weinheimerinnen und Weinheimer entschlossen, die Flüchtlinge willkommen zu heißen. Andere “nehmen sie hin”. Einige Besucher waren schon jetzt offenkundig fremdenfeindlich. Und deutlich ist: Bei vielen kann die Stimmung kippen. Das Vertrauen in die Politik ist stark beschädigt – und weitere Strapazen könnten es endgültig zerstören.