Rhein-Neckar, 10. November 2015. (red/sl) Viele Wirtschaftsvertreter und Politiker sehen in der massiven Zuwanderung eine Möglichkeit, den Fachkräftemangel auszugleichen. Es wäre allerdings naiv zu glauben, dass dies ohne Aufwand geschehen kann. Wir haben recherchiert, wie die Situation in Baden-Württemberg ist und welche Maßnahmen ergriffen werden. Die schlechte Nachricht vorweg: In den nächsten Jahren wird es nichts mit den Fachkräften.
Von Sandra Ludwig
Es ist ein starkes Bild, das Daimler-Chef Dieter Zetsche bemüht: Wenn alles gut laufe, sei die derzeitige Zuwanderung Grundlage für ein neues Wirtschaftswunder in Deutschland, so äußerte er sich Mitte September gegenüber dem Focus. Herwerth Brune, Geschäftsführer der ManpowerGroup Deutschland forderte im März in der Welt sogar eine Arbeitserlaubnis vor Abschluss des Asylantragsverfahrens.
Viele Vertreter großer Unternehmen bewerten die Rolle Asylsuchender bei der Behebung des Fachkräftemangels sehr optimistisch. Und sie werden aktiv – Deutsche Bahn, BASF, Siemens und viele andere richteten bereits Integrationsprojekte speziell für Zuwanderer ein.
Daimler Benz ermöglicht derzeit 40 Flüchtlingen ein Brückenpraktikum. Längerfristig will das Unternehmen mehrere Hundert Flüchtlinge für Arbeitsstellen in der Industrie schulen.
Flüchtlinge als Mittel gegen den Nachwuchsmangel im Handwerk?
Auch für Handwerksunternehmen könnte die hohe Zuwanderung eine Lösung des chronischen Nachwuchsproblems darstellen. Laut dem Baden-Württembergische Handwerkstag e.V. besteht ein großes Interesse seiner Mitglieder, Fachkräfte auszubilden und einzustellen.

Vorteil: Die Mehrzahl der Flüchtlinge ist deutlich jünger als die deutsche Bevölkerung. Nachteil: Ohne gute Deutschkenntnisse bleibt die Tür zum Facharbeitermarkt verschlossen.
Die bisherige Bilanz fällt allerdings ernüchternd aus. Mitglieder des Handwerkstags stellten 2014 gerade mal 15 Auszubildende mit laufenden oder abgeschlossenen Asylverfahren ein. Sie kamen in den Bereichen Sanitär und Anlagenmechanik, Klima, Elektronik und Optik unter.
Hindernisse für eine Einstellung seien fehlende Deutschkenntnisse, der unklare Aufenthaltsstatus und hohe bürokratische Hürden. Ohne die Unterstützung von Ehrenamtlichen sind diese Probleme oft nicht zu meistern.
Außerdem halten sich viele Zuwanderer in Städten auf – es besteht laut dem Baden-Württembergischen Handwerkstag aber insbesondere im ländlichen Raum Nachwuchsmangel.
Hier ist also definitiv noch Luft nach oben. Aber was passiert abseits der Wirtschaft? Was sind die bisherigen Maßnahmen der Politik für die Integration asylsuchender Fachkräfte in den Arbeitsmarkt? Und wie lässt sich ihre Wirksamkeit messen?
Bisher keine konkreten Zahlen
Ergebnis unserer Recherche ist: Im Grunde ist es unmöglich, konkrete Zahlen über die bisherige Neueinstellung von asylsuchenden Fachkräften in Baden-Württemberg für das Jahr 2015 zu erhalten. Wir haben an verschiedensten Stellen nachgefragt – derzeit können noch keine verlässlichen Angaben gemacht werden.
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Die baden-württembergische Niederlassung des Arbeitsamts darf nach eigenen Angaben nicht den Grund der Zuwanderung erheben. Man unterscheidet also nicht zwischen verschiedenen Gruppen von Ausländern. Eine bundesweite Stichprobenerhebung des Instituts für Arbeitsmarkts- und Berufsforschung (IAB) ergab eine Beschäftigung von 38,1 Prozent unter Personen aus Asylzuzugsländern. Zahlen für Baden-Württemberg hat das IAB jedoch nicht erhoben.
Kein Deutsch – keine Ausbildung
Diese unklare Sachlage leistet natürlich Vorurteilen und Ressentiments Vorschub. Der Vorwurf: Die Asylsuchenden suchten vor allem die soziale Hängematte. Tatsache ist: Sie haben ganz überwiegend keine andere Möglichkeit.

Ablehnung erfahren Flüchtlinge, weil sie angeblich die „soziale Hängematte“ suchen – tatsächlich behindert neben den fehlenden Sprachkenntnissen die Bürokratie eine schnelle Einbindung in den Arbeitsmarkt.
Beispiel Ausbildung: Für Volljährige besteht keine Schulpflicht – also dauert der deutsche Spracherwerb viel länger als bei regelmäßiger Beschulung. Und ohne gute Deutschkenntnisse kann auch keine Ausbildung begonnen werden – auch hier muss man in die Berufsschule. Insbesondere technische Berufe fordern zudem mit komplexen Fachbegriffen und Beschreibungen von Maschinen und Software.
Erste Initiativen – es wird Zeit brauchen
Das Ministerium für Soziales, das Integrationsministerium und das Kultusministerium haben im März 2015 ein Programm aufgesetzt. Die Initiative „Chancen gestalten – Wege der Integration in den Arbeitsmarkt öffnen“ konzentriert sich besonders auf eine frühe Erhebung der Ausbildung und Arbeitserfahrung von Zuwanderern sowie den schnellen Erwerb von Deutschkenntnissen und beruflicher Qualifikation.
Schon in den Landeserstaufnahmeeinrichtungen (LEA) sollen die beruflichen Fähigkeiten, Schulabschlüsse und Ausbildungen der Migranten abgefragt werden. Dafür schuf man 7,6 neue Personalstellen – die Mitarbeiter nehmen nun nach und nach ihre Arbeit auf. Zu ihren Aufgaben gehört ebenso die Beratung Asylsuchender bei der Anerkennung ihrer Abschlüsse und Qualifikationen.
Auch die Deutschkurse, die bisher erst als Teil der Integrationskurse stattfanden, sollen nun früher einsetzen. Hier schrieb das Land die Teilnahme am Förderprogramm „Deutsch für Flüchtlinge“ aus. Allerdings ist es Stadt- und Landkreisen vorbehalten, die bereits Netzwerke für die Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt vorweisen oder entsprechende Maßnahmen planen. Derzeit wird entschieden, welche Kreise bei dem Programm mitwirken werden. Es bleibt jedoch zu fragen, warum dieses Programm nicht als allgemein verpflichtend geplant ist.
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Als weitere Maßnahme werden in Mannheim, Ludwigsburg, Karlsruhe, Tübingen und Albstadt Migranten im Rahmen des Programms ins praktische Arbeiten eingewiesen. Daneben sollen engmaschige Netzwerke zwischen Institutionen (z.B. Arbeitsamt), Verbänden (Handwerkskammer) und Gemeinden aufgebaut werden.
Das Programm klingt umfassend und durchdacht – eine bisherige Bilanz kann hier noch nicht vorlegt werden. Betrachtet man die Punkte des Programms, wird schnell klar, dass die Maßnahmen längerfristig wirken müssen. Außerdem liegt die Sache ähnlich wie bei anderen Problemen der derzeitigen Zuwanderungswelle: Die Politik hat das Ausmaß nicht schnell genug erkannt – dadurch kommt es zu großen Zeitverlusten.
Schnelle Lösungen? Fehlanzeige!
Dementsprechend wird es Jahre dauern, bis die Maßnahmen greifen. Insbesondere im Bereich der Deutschkenntnisse und der Berufsausbildung fehlen vielen Zuwanderern Qualifikationen, bestätigt die bundesweite Studie des Instituts für Arbeitsmarkts- und Berufsforschung (IAB). Viele verfügen zwar über Universitätsabschlüsse, aber die Anzahl derer mit nicht belegbarer Berufsausbildung liegt bei weitem höher.
Das IAB prognostiziert, dass eine erfolgreiche Einbindung von Asylsuchenden und -berechtigten frühestens erst nach den nächsten vier Jahren zu verzeichnen sein dürfte. Nach Einschätzung des Instituts verfügen die Asylsuchenden jedoch über einen großen Vorteil: Viele von ihnen sind jung – 2014 waren 81% Prozent der bundesweiten Asylantragsteller 35 Jahre und jünger.
Sie bringen ein großes berufliches Potential mit, das es in den nächsten Jahren erfolgreich einzubinden gilt. Um das zu erreichen, müssen zunächst alle erdenklichen Mittel genutzt werden. Man kann nur hoffen, dass die Bevölkerung längerfristig besonnen bleibt und diese Anstrengungen mitträgt. Schnelle Lösungen für die Integration asylsuchender Fachkräfte in den Arbeitsmarkt sind derzeit nämlich nicht zu haben.
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