Bonn/Stuttgart/Rhein-Neckar, 07. Juli 2016. (red/ms) Nach nur etwa neun Wochen spaltet sich die Landtagsfraktion der AfD Baden-Württemberg. Nicht nur das: Eine Mehrheit von 13 der 23 Abgeordneten tritt auf einen Schlag aus. Ob diese nun eine neue Fraktion gründen können, ist fraglich – es gibt keine klare Rechtssprechung, da ein solcher Vorfall in der Geschichte deutscher Länderparlamente bislang einmalig ist. Allerdings gab es in den 1950er-Jahren eine Konstellation mit Parallelen: Damals spaltete sich die FDP im Bundestag in zwei Fraktionen auf.
Von Minh Schredle
Es ist ein Machtkampf zwischen Regierungsparteien: Im Januar 1956 bringen CDU und CSU einen Gesetzesentwurf in den Bundestag ein, der vorsieht, das sogenannte „Grabenwahlsystem“ einzuführen – die FDP befürchtet dadurch eine Benachteiligung und den Verlust zahlreicher Mandate.
Darauf reagiert schließlich der FDP-Landesverband Nordrhein-Westfalen – und löst die Koalition mit der CDU auf Landesebene. Anschließend bildet die FDP hier gemeinsam mit der SPD die Regierung.
Dies wiederum stößt auch parteiintern nicht auf uneingeschränkte Gegenliebe: 16 von 48 Bundestagsabgeordneten, darunter alle vier Minister, die die FDP gestellt hat, verlassen die Fraktion am 22. Februar 1956.
Erste „AFD“-Fraktion
In den Protokollen zur Bundestagssitzung am 08. März 1956 wird Dr. Eugen Gesternmeier (CDU), der Präsident des Bundestages folgendermaßen zitiert:
Meine Damen und Herren!
Die Fraktion der FDP hat unter dem 28. Februar 1956 mitgeteilt, daß die folgenden Abgeordneten ihren Austritt aus der Fraktion der FDP erklärt haben: Euler, Hepp, Dr. Wellhausen, Dr. Henn, Dr. Berg, Dr. Schäfer, Hübner, Dr. Preiß, Dr. Blücher, Körner, von Manteuffel (Neuß), Dr. Blank (Oberhausen), Lahr, Dr. Schneider (Lollar), Dr. Preusker, Neumayer. Mit Schreiben vom 5. März 1956 hat mir der Abgeordnete Dr. Schneider (Lollar) mitgeteilt, daß sich diese 16 aus der Fraktion der FDP ausgetretenen Abgeordneten zu einer neuen Fraktion zusammengeschlossen hätten, die die Bezeichnung „Arbeitsgemeinschaft Freier Demokraten (AFD)“ (sic!) führe und der 15 Mitglieder und ein Gast angehörten.
Die Gründung der AFD wurde aber nicht einfach ohne Widerspruch hingenommen. Nach einer Unterbrechung der Sitzung führt Dr. Ewald Bucher (FDP) noch am gleichen Tag aus:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Zu der zu Beginn der heutigen Sitzung erfolgten Mitteilung über die Bildung einer „Arbeitsgemeinschaft freier Demokraten“ als Fraktion gebe ich namens der Fraktion der Freien Demokratischen Partei folgende Erklärung ab:
1. Die genannte Vereinigung besteht aus 14 Abgeordneten, die sich als Mitglieder der FDP betrachten, und den Abgeordneten Dr. Berg und Euler als Gästen. Entgegen der dem Herrn Präsidenten gemachten Mitteilung ist Abgeordneter Dr. Berg nicht mehr Mitglied der FDP; er hat am 24. Februar 1956 durch Telegramm an den Kreisverband Altena der FDP seinen Austritt aus der FDP erklärt. Der etwaige Versuch, diese Austrittserklärung zu widerrufen, ist rechtlich unbeachtlich. Die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 bis 3 der Geschäftsordnung in Verbindung mit dem Beschluß des 2. Deutschen Bundestages gemäß Drucksache 45 sind somit nicht gegeben. Es handelt sich bei der Vereinigung um keine Fraktion.
2. Außerdem ist es nicht möglich, daß etwa ein und dieselbe Partei durch mehrere Fraktionen im Bundestag vertreten ist. Dies widerspricht der Stellung der Parteien nach Art. 21 des Grundgesetzes und dem Sinn des § 10 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages.
3. Die neugebildete Vereinigung hat nicht das Recht, sich des Namens „Freie Demokraten“ zu bedienen.
4. Da die unter Ziffer 2 angeschnittene Frage von grundsätzlicher, über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung ist, behalten wir uns die geschäftsordnungsmäßig erforderlichen Schritte gemäß § 129 der Geschäftsordnung vor. Ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten diese formulierte Erklärung noch durch die Mitteilung ergänzen, daß, wie wir erst jetzt erfahren haben, auch der Abgeordnete Dr. Martin Blank seinen Austritt aus der FDP erklärt hat, so daß es sich nur um 13 plus 3 Abgeordnete handelt.
Nach der damals gültigen Rechtslage muss eine Bundestagsfraktion aus mindestens 15 Abgeordneten der gleichen Partei bestehen, ansonsten bedarf die Gründung der Zustimmung des Gremiums. In der folgenden Sitzung am 08. März beantragt die AFD daraufhin nach §10 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Bundestags die Zustimmung zur Gründung einer neuen Fraktion.
Im Antrag wird weiter ausgeführt, es bestehe nicht der Anspruch, eine politische Partei zu vertreten. Nach den Protokollen zur Sitzung bat Dr. Buchner daraufhin unmittelbar gefordert, nicht ohne weitere Vorberatungen über den Antrag abzustimmen. Nach kurzer Beratung wurde der Antrag schließlich in Ältestenrat verwiesen – die Protokolle zur Sitzung sind nicht öffentlich.
Umstrittene Debatte
Am 15. März vor 60 Jahren werden die Beratungen im Bundesrat allerdings fortgesetzt. Präsident Gerstenmeier spricht von „einer langen Aussprache im Ältestenrat“ – dennoch folgt eine Diskussion zwischen Abgeordneten von SPD und CDU über die juristische Grundlage.
Laut Dr. Walter Menzel (SPD) erfülle die Gruppe gar nicht die Bedingungen, um eine Fraktion zu bilden. Er fordert weitere Beratungen im Ausschuss für Geschäftsordnung. Die Zwischenzeit könnten die drei parteilosen Abgeordneten nutzen, „der Öffentlichkeit endlich zu sagen, woran sie politisch künftig glauben wollen“ und welcher Partei sie künftig angehören werden.
Namensänderung durchgesetzt
Nach Argumentation der CDU brauche es das gar nicht, wenn stattdessen eine Billigung des Bundesrats vorliege. Auch das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit wird mehrfach erwähnt – juristisch scheint aber dennoch ein dehnbarer Interpretationsspielraum der Gesetzestexte vorzuliegen. Schließlich erklärt Dr. Gerstenmeier:
Meine Damen und Herren! Was Sie jetzt gehört haben, ist im wesentlichen ein Ausschnitt aus der außerordentlich lebhaften und eingehenden Diskussion im Ältestenrat über diese Frage. Ich glaube, daß wir damit die Debatte über diesen Punkt schließen und zur Abstimmung kommen können.
Inzwischen wird aber nicht mehr über die Gründung einer „Arbeitsgemeinschaft Freier Demokraten“-Fraktion abgestimmt. Offenbar wurde dem Wunsch der FDP entsprochen und eine Namensänderung verhandelt.
„Demokratische Arbeitsgemeinschaft“-Fraktion mit 13 FDP-Mitgliedern
Mehrheitlich beschließt der Bundesrat die „Demokratische Arbeitsgemeinschaft“-Fraktion zu beschließen, der fortan die 16 Abgeordneten angehörten, die aus der FDP-Fraktion ausgetreten sind. Die Union will künftig nicht mehr mit der „originalen“ FDP regieren, sondern nur mit der Demokratischen Arbeitsgemeinschaft.
Auf dem FDP-Bundesparteitag vom 20. bis zum 22. April 1956 werden schließlich die 13 Abgeordneten, die nach Abspaltung von der Fraktion noch FDP-Mitglieder blieben, aus der Partei ausgeschlossen. Die 16 Mitglieder der „Demokratische Arbeitsgemeinschaft“-Fraktion gründen schließlich am 23. April 2016 die Freie Volkspartei (FVP).
Eine Partei, zwei Fraktionen
Diese besteht allerdings nur etwa ein Jahr – am 20. Januar 1957 fusioniert sie mit der nationalkonservativen Deutschen Partei (DP), die zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls im Bundestag vertreten war. Auch die Fraktionen verschmelzen im Zuge der Zusammenführung.
Viel Lärm um Nichts also?
Nicht unbedingt. Abgesehen von einem parteipolitischen Kleinkrieg könnte der Sachverhalt zu einem Präzedenzfall für die Spaltung der Alternative für Deutschland (AfD) im Landtag Baden-Württembergs werden. Auch wenn die Konstellationen unterschiedlich gelagert sind, ist eine Tatsache nicht von der Hand zu weisen: Es hat in einem deutschen Parlament bereits zwei Fraktionen derselben Partei gegeben und zwar noch bevor die Mitglieder der Spalt-Fraktion aus der Partei ausgeschlossen worden waren.
Übertragbarkeit fraglich
Inwiefern sich das Beispiel auf Baden-Württemberg übertragen lässt, ist dennoch fraglich. Die Geschäftsordnungen von Landtag und Bundestag unterscheiden sich teils erheblich, außerdem sind einige Jahrzehnte seit der angestrebten Gründung der ersten AFD-Fraktion im Bundestag vergangen.
Auch die Landtagsverwaltung ist aktuell unschlüssig, was juristisch möglich ist – das soll in den kommenden Wochen durch ein Gutachten geprüft werden. Auch wenn es weitreichende Konsequenzen auf die Betriebskosten und Arbeitsweise deutscher Parlamente haben könnte, wenn es einer einzelnen Partei tatsächlich erlaubt sein sollte, mehrere Fraktionen parallel zu bilden, ist nach dem aktuellen Stand nicht auszuschließen, dass es sich im Bereich des juristisch möglich befindet.
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