Mannheim, 06. Februar 2016. (red/cr) Am Donnerstagabend wurde im Nationaltheater gefragt “Welche Gesellschaft wollen wir eigentlich sein?”. Diesmal jedoch nicht auf der Bühne, sondern in einer Debatte unter Bürgern. Jagoda Marinic, die Leiterin des Interkulturellen Zentrums Heidelberg, Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz, der Publizist und Philosoph Wolfram Eilenberger und der Jurist und Karikaturist Klaus Staeck gaben zu Anfang Impulse, dann kam das Publikum zu Wort. Dabei wurde vor allem die Sorge deutlich, dass sich die Gesellschaft von Angst treiben lässt. Und dass es mehr Diskussionen über Grundsätzliches geben muss.
Von Christin Rudolph
Viele Besucher ist das Nationaltheater gewöhnt. Aber das Leute stehen müssen? Am Donnerstagabend versammelten die Menschen sich nicht, um eine Oper, ein Ballett oder Schauspiel zu sehen. Sie waren gekommen, um zu diskutieren.
Über sich selbst, über diejenigen, die nicht gekommen waren, über “die” und “uns”. Über die Gesellschaft.
Und was für eine Gesellschaft wir sein wollen. Offen, orientiert an Freiheits- und Menschenrechtsidealen? Eine, die alles für Sicherheit tut? Oder eine, in der “wir” “denen” ratlos gegenüber stehen? Eine gespaltene Gesellschaft, in der jeder entweder Neo-Nazi oder naiver Gutmensch ist?
Gerade durch die Flüchtlingssituation und die potentielle Bedrohung durch Terror werden diese Fragen aufgeworfen. In den Diskussionen steckt viel Energie. Jeder ist betroffen. Dadurch erfahren die Debatten aber auch eine starke Emotionalisierung. Vor allem in sozialen Netzwerken wird oft mehr beschimpft und beschuldigt als diskutiert.
Sachliche Diskussionen fehlen
In über 20 Städten in Deutschland finden derzeit sogenannte Townhall-Debatten zum Thema “offene Gesellschaft” statt, in denen – eingeleitet von kurzen Impulsen der Gäste auf dem Podium – das Publikum zur Diskussion eingeladen ist. Im Nationaltheater wollten rund 200 Menschen mitdiskutieren – viele standen den ganzen Abend über, um sich beteiligen und zuhören zu können.
Als Einführung gaben Jagoda Marinic, die Leiterin des Interkulturellen Zentrums Heidelberg, der Jurist und Karikaturist Klaus Staeck und Oberbürgermeister Dr. Kurz zu Anfang Impulse. Der Publizist und Philosoph Wolfram Eilenberger moderierte größtenteils. Die Statements der Gäste berührten sehr verschiedene Aspekte des übergeordneten Themas, sodass sich viele Anknüpfungspunkte ergaben.
Großen Beifall erntete vor allem Dr. Kurz mit seiner Aussage, die Menschen könnten aktuell nicht miteinander diskutieren, ohne dass die Gesprächsteilnehmer sofort in Ecken gestellt würden, die überhaupt nicht repräsentativ seien.
Unter anderem kommt auch Kritik am Begriff Willkommenskultur auf. Bei der Frage, was denn Gastfreundlichkeit ist, und ob Flüchtlinge und Einwanderer unsere Gäste sind, meldet sich eine Frau mit Akzent zu Wort. Sie selbst sei vor 30 Jahren nach Deutschland gekommen und sei die Debatte um Willkommenskultur leid, weil sie nicht als Gast aufgenommen worden war, sondern sofort Verantwortung tragen musste.
In einigen Wortmeldungen geht es um “die Medien”. Eine Frau erklärt aufgeregt, in den Zeitungen habe man vor Silvester “die Kriminalität nicht berichtet”, wenn es sich bei den Tätern um Flüchtlinge handelte. Das Publikum reagiert empört.
Diffuse Ängste, bedrohliche Entwicklungen und “die Medien”
Eine blonde Zuhörerin schildert ausführlich ihren Urlaub in Italien. Zunächst amüsieren sich die Podiumsgäste und das Publikum, als die Frau allerdings aus ihren Urlaubserlebnissen den Schluss zieht, “die Medien” würden falsch berichten, kommt Gemurmel auf.
Rege Zustimmung erhält dagegen ein junger Mann, der erzählt, er sei im Bereich der Arbeit mit Schwulen und Lesben tätig. Er erzählt eindrücklich, die Gespräche, die er beispielsweise von anderen in der S-Bahn mitbekomme, hätten sich verändert. Sie drehten sich vor allem darum, wie man sich am besten bewaffnen könne. Aggressivität und Radikalisierung hätten zugenommen. Etwas ungelenk stellt er fest, manche Deutsche seien einfach nur neidisch auf Flüchtlinge, weil sie so viel Unterstützung bekommen. Durch die Art seiner Darstellung wird deutlich, wie unbegründet dieser Neid ist.
Das Narrativ ist im Moment der Polizeibericht.
Dr. Kurz’ Feststellung vom Anfang der Diskussion hat sich in der Debatte widergespiegelt. Es wurde bei der Frage nach einer offenen Gesellschaft mehr über deren Sicherheit und Unsicherheiten gesprochen als über ihre Möglichkeiten. Auch deswegen bleiben viele Fragen offen. Am Ende des Abends ist klar, dass es noch viele Diskussionen braucht, bis die Gesellschaft weiß, wie sie sein will.