Straßburg/Rhein-Neckar, 06. Juni 2013. (red/ld) “Wo sind die alle?”, das frage ich mich beim ersten Blick in den Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg. Von den 754 Abgeordneten sind gerade mal 15 im Saal anwesend und debattieren über Energiepolitik. Ich hatte hitzige Debatten erwartet, flammende Reden und vor allem präsente Abgeordnete. Aber dafür ist keine Zeit im legislativen Prozess. Denn die wichtigste Arbeit findet außerhalb des Plenums statt: In den kleinen Sitzungssälen, Büros und – besonders wichtig – in den Bars des Parlaments.
Von Lydia Dartsch
Der Blick auf die Tagesordnung lässt einen stressigen Tag erwarten: Von 09:00 bis 23:00 Uhr gibt es Debatten im Plenum. Doch der Blick in den Plenarsaal ernüchtert: Etwa zehn oder fünfzehn Abgeordnete sitzen dort, halten Reden oder hören zu. Am linken Rand der halbrund angelegten Sitzordnung gibt es Plätze für die Mitglieder der Kommission. Die rechte Seite ist für die Mitglieder des Rats der EU, der einfach “Rat” genannt wird. Der Parlamentspräsident, Martin Schulz sitzt in der Mitte des Plenums und leitet die Sitzung. Der deutsche Kommissar redet gerade: Der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger.
Es geht um erneuerbare Energien. Herr Oettinger berichtet über die Maßnahmen, die die Kommission vorschlägt. Man müsse versuchen, die Industrie vor hohen Stromkosten zu bewahren, um international wettbewerbsfähig zu bleiben, sagt er. Er wolle auch Verbrennung fossiler Brennstoffe zur Energiegewinnung berücksichtigen. Erst, als seine vier Minuten Redezeit abgelaufen sind, dürfen sich die Abgeordneten äußern. Das Verfahren heißt “Catch the Eye” – fange den Blick. 13 Abgeordnete haben sich gemeldet. Doch der Präsident lässt nur Wortmeldungen von je einer Fraktion zu:
Wir haben leider nicht genug Zeit, damit Sie alle zu Wort kommen können,
sagt er auf Englisch und gibt den Sprechern je eine Minute Redezeit. Danach unterbricht sie der Präsident und ruft den nächsten auf. Einige Abgeordnete werfen dem Energiekommissar Untätigkeit vor. Andere loben ihn und danken ihm für seine Arbeit. Zum Abschluss sprechen noch einmal der Hauptverhandlungsführer – der Abgeordnete, der mit dem behandelten Gesetz befasst ist und “Berichterstatter” genannt wird – und Herr Oettinger, als Mitglied der Kommission. Dann schließt der Präsident die Debatte:
Das war der Bericht zu den erneuerbaren Energien. Vielen Dank. Abstimmung ist morgen.
Es geht sehr geordnet, sehr diszipliniert und kollegial zu.
Was tun sie, wenn sie nicht im Plenum sitzen? Die Abgeordneten sind in Besprechungen oder treffen sich in der Members’ Bar. Hier haben nur Mitglieder des Parlaments und deren Gäste Zutritt. Die Parlamentsarbeit findet außerhalb des Plenarsaals statt.
Rasante Abstimmung – knappe Ergebnisse
Mittags um 12:00 Uhr finden Abstimmungen statt und je näher die Zeit heranrückt, desto mehr Abgeordnete strömen zu ihren Plätzen. Es wird unruhig. Die vorangegangene Debatte geht nahtlos in die Abstimmung über: Sie gehen Artikel für Artikel, Paragraph für Praragraph der Gesetze durch und stimmen über Änderungen und Ergänzungen ab:
Wer ist dafür? Dagegen? Enthaltungen? Angenommen!
Nach jeder Frage heben Abgeordnete die Hände. Ruck zuck entscheidet der Präsident, ob die gehobenen Hände in der Mehrheit sind. Man kommt kaum mit.
Das geht meistens schneller als wenn man elektronisch abstimmt,
sagt Franziska Brantner.
Die Abstimmungsrunden verlangen den Teilnehmern viel Aufmerksamkeit ab: Auf einen Blick müssen der Präsident und die Abgeordneten erkennen, ob die gehobenen Hände der Mehrheit entsprechen:
Die Abstimmungen sind meistens sehr knapp. Deshalb muss man aufpassen, ob sich der Vorsitzende nicht geirrt hat,
sagt Frau Brantner.
Wenn es besonders knapp aussieht, rufen die Abgeordneten schnell “Check!” und verlangen damit, das Ergebnis zu prüfen und elektronisch abzustimmen. Das muss schnell gehen, sonst ist der nächste Abstimmungspunkt aufgerufen und die Chance vorbei. Auch der Präsident ordnet Überprüfungen an, wenn er sich über das Ergebnis nicht sicher ist: Dann drücken die Abgeordneten auf eine Taste an ihrem Tisch und die Lampe neben dem Schalter leuchtet grün für Zustimmung, rot für Ablehnung oder weiß für Enthaltung:
Wenn man nicht aufpasst, kann es sein, dass Anträge abgelehnt werden, obwohl es eine Mehrheit gibt. Dann hat man Pech gehabt und das Thema kommt erst wieder in einigen Jahren auf die Tagesordnung,
sagt Frau Brantner. Auch namentliche Abstimmungen werden elektronisch per Knopfdruck durchgeführt. Die Ergebnisse lassen sich später im Internet zurückverfolgen. Zum Schluss wird noch einmal namentlich über das komplette Gesetz votiert.
Damit ein Gesetz beschlossen werden kann, braucht es die Mehrheit sowohl vom Parlament, als auch vom Rat. Im Parlament sind dafür zwei Lesungen vorgesehen. Stimmt der Rat oder das Parlament dem Gesetz in der zweiten Lesung nicht zu, kann eine dritte Lesung einberufen werden. Diese ähnelt dem Vermittlungsausschuss in der deutschen Gesetzgebung.
Kurz nach 13:00 Uhr sind die Abstimmungen durch. Mittagspause. Die Abgeordneten gehen in die Kantine des Parlaments. Diese Zeit nutzen sie für Meetings mit anderen Abgeordneten, um sich über ihre Arbeit auszutauschen und Strategien zu besprechen, wie sie ihre Änderungsvorhaben an den Gesetzesinitiativen der Kommission durchsetzen können. Wen muss man davon überzeugen? Wer hat noch an dem Thema gearbeitet?
Außerhalb des Plenums
Um 09:30 Uhr hatte der Tag in der Members’ Bar begonnen: Franziska Brantner trifft sich mit dem slowakischen Abgeordneten Eduard Kukan von der Fraktion der Europäischen Volkspartei (PPE) es geht um den Beitritt von Bosnien-Herzegovina und Mazedonien, der derzeit verhandelt wird.
Sie sprechen Englisch, diskutieren über die Formulierungen der Berichte: Wie könnte sich der Wortlaut später auswirken? Müsste man den Bericht anders formulieren? Es ist reine Textarbeit: Sie sprechen über Artikel. Wer nicht eingeweiht ist, erfährt nicht, worum es eigentlich geht. Die Abgeordneten sind im Thema, machen “Feinschliff”:
Artikel 7: Da würde ich das zweite Wort streichen und der dritte Satz macht eigentlich keinen Sinn.
sagt Franziska Brantner. Herr Kukan stimmt ihr zu und fragt:
Glaubst Du, dass der Rat zustimmen wird?
Der Rat ist im Gesetzgebungsverfahren das Gegengewicht zum Parlament und besteht aus den Ministern der Mitgliedsstaaten. Nur selten wollen diese von ihren Positionen abweichen.
Es kommt auf die richtige Wortwahl an
Das Treffen mit Herrn Kukan dauert eine halbe Stunde. Um 10:00 Uhr geht es zum nächsten Termin: Das Treffen der Schattenberichterstatter in einem Sitzungssaal im Winston-Churchill-Gebäude. Die Abgeordnete rennt los.
Bei den Schattenberichterstattern handelt es sich um Abgeordnete, die dem Berichterstatter bei dem Gesetz zuarbeiten, das er im Parlament beschlossen haben möchte. Franziska Brantner möchte ein Instrument für Stabilität im Euroraum erarbeiten. Artikel für Artikel besprechen die Abgeordneten die Änderungsvorschläge in den Vorlagen. Wieder Textarbeit und Strategie:
Glauben Sie, dass wir damit eine Einigung hinbekommen?
fragt einer der Abgeordneten. Gelingt es nicht, sich mit dem Rat zu einigen, droht ein Gesetz zu scheitern, an dem lange gearbeitet wurde.
Ein Gespräch mit der Repräsentantin
Das Treffen dauert eine halbe Stunde. Um 11:00 Uhr wartet eine Besuchergruppe auf Frau Brantner. Zurück ins Lousie-Weiss-Gebäude! Zu früh. Die Gruppe braucht noch ein paar Minuten. Die Zeit nutzt die Abgeordnete damit, mit einem Kollegen zu sprechen, den sie zufällig auf dem Gang trifft. Wieder Textarbeit.
In der Zwischenzeit ist die Besuchergruppe eingetroffen. Jemand fragt, wie unabhängig die Parlamentarier sind. Sie erklärt, dass sie mit anderen Abgeordneten nahezu unabhängig von der Parteilinie arbeiten kann, weil das Europäische Parlament keine Regierung wählt und damit die klassische Teilung in Regierung und Opposition nicht stattfindet.
Wer trifft den libyschen Außenminister?
Am Nachmittag steht die Besprechung der außenpolitischen Arbeitsgruppe der Grünen Fraktion an: Wer ist dabei, wenn der libysche Außenminister empfangen wird? Wer geht zur Aussprache mit dem ehemaligen serbischen Außenminister? Wie soll die Fraktion auf die Politik in Aserbaidschan reagieren und wer fährt bei welchen Delegationsreisen mit? An die Anwesenden geht außerdem der Appell, zum AFET-Ausschuss, dem Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten zu gehen, weil die Abstimmungen immer so knapp ausfallen:
Beim letzten Mal haben drei Stimmen gefehlt, um unseren Änderungsantrag zu beschließen,
sagt die österreichische Abgeordnete Ulrike Lunacek.
Um 16:00 Uhr zeichnet sie in der Voxbox die Begrüßungsrede für die Konferenz “The EU as a Peacemaker” auf, die sie organisiert. Darin wird es um die Vermittlungsfähigkeiten der EU in den internationalen Beziehungen gehen. Mit einem “Take” ist die Rede im Kasten und auf Frau Brantners USB-Stick. Weiter zur nächsten Besuchergruppe und zum nächsten Arbeitstreffen mit Abgeordneten in der Members’ Bar.
Fraktionssitzung mit Daniel “Dany” Cohn-Bendit
18:30 Uhr: Fraktionssitzung der Europäischen Grünen. Der Vorsitzende Daniel Cohn-Bendit fläzt sich lässig in seinen Stuhl und geht die Tagesordnung durch. Alle duzen sich, nennen sich bei Spitznamen.
Das ist seinem eher lässigen Führungsstil geschuldet,
sagt Franziska Brantner.
Die Themen der Sitzungswoche werden besprochen: Energiepolitik, die Bankenunion und die Offshore-Leaks. Themen sind auch aktuelle Ereignisse: Die Einstürze von Textilfabrikgebäuden in Bangladesh und die Frage nach der Schließung des Guantanamo-Gefängnisses durch die USA und warum das nicht so einfach geht: Wo sollen die Gefangenen hin? Ein EU-Land könne sie aufnehmen, schlägt ein Abgeordneter vor:
Ja, aber welches?
Die Sitzung dauert bis knapp 21:00 Uhr. Dann kehren die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter zurück in ihr Hotelzimmer. Die meisten werden von dort aus noch emails checken und Telefonate führen. Ein Nine-to-Five-Job geht anders.