Rhein-Neckar/Berlin, 04. September 2017. (red/pro) RNB-Redaktionsleiter Hardy Prothmann ist kein Fan der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel. Trotzdem nimmt er sie in Schutz – vor einer „Mediendemokratie“, die überwiegend nur noch auf Zoff und Skandalisierung aus ist. Hinzu kommen Stimmen und Stimmungen über die „sozialen Medien“, die man ganz überwiegend als asozial bezeichnen kann. Das politische Klima in Deutschland zeigt extreme Vergiftungserscheinungen. Verantwortlich dafür sind alle, die sich als Giftmischer betätigen.
Von Hardy Prothmann
Dr. Angela Merkel ist als „Teflon-Kanzlerin“ bezeichnet worden, eine, an der nichts haften bleibt, sondern alles abperlt. Das kann man so sehen. Man kann es aber auch anders sehen: Die Bundeskanzlerin zeigt über viele Jahre eine würdevolle Gelassenheit, die zu diesem Amt sehr gut passt.
In unzähligen Kommentaren wurde die Bundeskanzlerin dafür angegangen, teils angegriffen, teils verspottet. Bis hin zu AfD-Forderungen: „Merkel muss weg.“ Man stelle ich das mal vor, Frau Dr. Merkel würde sagen: „Gauland muss weg“. Das wäre im Wortsinn unerhört. Ist es das, was die Medien und Kommentatoren in asozialen Netzwerken wie Facebook wollen? Soll auch die politische Führung in diesem Land „Unerhörtes“ von sich geben?
Wollen wir Politiker wie Trump oder Erdogan, die aggressiv durch die Weltgeschichte poltern? Oder wollen wie eine politische Führung, die mit anderen im Gespräch bleibt und sich für eine ausgewogene Politik, also auch ausgewogene Verhältnisse – mit teils nur schwer auszuhaltenden „Kompromissen“ – zu anderen Ländern einsetzt?
Die „Mediendemokratie“ muss sich mal an die eigene Nase fassen und fragen, inwieweit man selbst für dieses öffentliche Klima verantwortlich ist, dass eindeutige Vergiftungserscheinungen aufweist? Und die Frage, inwieweit Verhältnisse zu anderen Ländern durch entsprechende Berichte vorsätzlich vergiftet werden?
Wollen wir türkische Verhältnisse?
Das Beispiel Türkei nehme ich hier als pars-pro-toto. Selbstverständlich sind die Äußerungen von Staatspräsident Erdogan und anderen türkischen Politikern häufig mindestens eine enorme Zumutung und manchmal sogar schier unerträglich. Die politischen Veränderungen in der Türkei und die hohe Zahl von Verhaftungen, die auch 14 Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft betrifft, verschärfen die Lage und stellen die Beziehungen zur Türkei nicht nur für Deutschland auf eine harte Probe. Und was folgt daraus? Alle Beziehungen abbrechen? Erst kalter Krieg und irgendwann dann ein echter?
Insbesondere die Entwicklungen in der Türkei sollten uns allen zu denken geben. Je verrohter die politischen Sitten werden, je extremer die Lagerbildung und die daraus resultierenden politischen Entscheidungen, umso instabiler wird eine Volksgemeinschaft. Und zwar auf allen wesentlichen Feldern, also Politik, Wirtschaft und auch Kultur/Gesellschaft.
Uns geht es gut – relativ gesehen
Die Situation ist paradox. Deutschland und den Deutschen geht es gut wie nie zuvor. Doch das politische Klima ist von einer teils dermassen aggressiven Grundstimmung beherrscht, die längst Maß und Mitte verloren hat.
Klar. „Gut“ ist relativ zu sehen. Reiche werden immer reicher und insbesondere die Mittelschicht ist unter Druck geraten. Doch im Vergleich zu den meisten Ländern dieser Welt leben wir auf einer Insel der Glückseligen und sind sogar in der Lage, über eine Million Menschen aus fremden Ländern aufzunehmen, ohne das alles zusammenbricht. Wir genießen Freiheiten, die anderswo überhaupt nicht selbstverständlich sind.
In Deutschland ist die Meinungsfreiheit grundgesetzlich geschützt. Ist das gut? Ja, aber relativ betrachtet führt die Überstrapazierung der Meinungsfreiheit ohne entsprechende Verantwortungshaltung nicht zu einem inhaltlichen Konsens, sondern wirkt wie eine Zentrifugalkraft, die die Gesellschaft auseinander treibt. Ist das gut? Sicher nicht.
Ja. Züge kommen zu spät, es gibt viele Sanierungsstaus, die Mieten steigen, bei vielen ist der Geldbeutel schmaler geworden. Es gibt viele, die einen zweiten Job brauchen, um über die Runden zu kommen und vielen schon meiner Generation (ich bin 50 Jahre alt) droht Altersarmut. Es gibt viel, was nicht gut läuft – aber ist, relativ betrachtet, wirklich in Summe alles so „schlimm“, dass Deutschland der „Untergang“ droht? Ganz sicher nicht.
TVDuell ohne Substanz
Von dringenden und drängenden innenpolitischen Themen und auch der gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands war im „TVDuell“ am Sonntagabend zwischen der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) und ihrem Herausforderer Martin Schulz (SPD) viel zu wenig die Rede. Die „Schuld“ daran haben aber nicht die Spitzenkandidaten, sondern die vier Interviewer Maybrit Illner (ZDF), Peter Klöppel (RTL), Sandra Maischberger (ARD) und Claus Strunz (SAT.1). Ganze 50 von 95 Minuten ging es in der Sendung nur um die Flüchtlingskrise. Der bekannte Spiegel-Reporter Cordt Schnibben kommentierte das auf Facebook lakonisch:
Sehe gerade die Sendung „AfD fragt, Merkel und Schulz antworten“
Die Debatte, die vor zwei Jahren mit einer „Glorifizierung“ der „Wir schaffen das“-Kanzlerin und einem „Willkommensrausch“ weiter Teile der Bevölkerung begann, ist längst in eine „Merkel ist schuld“-Debatte umgeschlagen. Doch beides ist nicht zutreffend.
Frau Dr. Merkel hat im September vor zwei Jahren eine weitreichende Entscheidung getroffen, die unser Land und andere über viele Jahrzehnte beschäftigen wird. Wie dieses Ereignis, aus humanitären Gründen die Grenzen zu öffnen und über eine Million fremder Menschen aufzunehmen, uns und unsere Gesellschaft prägen wird, haben wir allerdings alle selbst mit in der Hand.
Schuld-Zuweisungen sind keine politische Gestaltung
Die „Schuld“-Frage ist komplex, eine einfache Antwort nicht zu finden und selbst wenn man diese hätte – was würde sich ändern? Nichts würde sich ändern. Entscheidend ist, sich die Entwicklung in aller Komplexität anzuschauen, daraus Erkenntnisse zu gewinnen und Handlungen abzuleiten, die für die Zukunft tragfähig sind. Wer hier einfache Parolen ausgibt oder sich auf einfache Parolen verlässt, handelt verantwortungslos. Wer sich nur in Schuldzuweisungen ergeht, gestaltet nicht, sondern bringt nur gegeneinander auf.
Dazu gehört auch, bisherige Blicke auf die Welt zu verändern. Nordafrika, der nahe Osten, Syrien und auch die Türkei sind Nachbarstaaten Europas. So wie der Rhein teils Deutschland von Frankreich trennt, liegt zwischen diesen Staaten und Europa das Mittelmeer – scheinbar viel größer, aber per Boot oder auf der früheren Balkanroute teils zu Fuß leicht zu überqueren oder zu umgehen. Die physische Welt ist hochgradig mobiler als in früheren Jahrzehnten, hinzu kommt die extrem beschleunigte Mobilität des virtuellen Datenaustauschs, die sowohl die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen entscheidend verändert, wie auch „Menschenmassenbewegungen“ ermöglicht, wie sie vor wenigen Jahren noch nicht vorstellbar waren. Auch der zunehmende Terror basiert entscheidend auf der Digitalisierung, bis die Daten konkrete Taten werden.
Alte Denk- und Verhaltensmuster müssen sich ändern
Althergebrachte Rollen und Denkmuster haben für die Zukunft keinen Bestand. Beide Entscheidungen der Bundeskanzlerin waren richtig und falsch zugleich in diesem Zusammenhang. Richtig war die unmittelbare Abwendung einer humanitären Katastrophe, falsch war, es soweit kommen zu lassen. Denn die Massen standen nicht plötzlich vor der Grenze, wer das behauptet, lügt. Richtig ist die Entscheidung, diese Entwicklung zu unterbinden, falsch ist, dass bislang zu wenig getan worden ist, um die Ursachen zu beeinflussen und in anderen Ländern humanitäre Einrichtungen zu schaffen, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen.
Richtig ist, Forderungen an die verantwortlichen Politiker zu stellen, falsch ist, dies mit Schaum vorm Maul zu machen. Richtig ist, Ursachen, Wirkungen und Folgen zu analysieren, falsch ist, ständig den Erregungspegel hoch zu halten, denn wer erregt ist, trifft keine ausgeruhten, vernünftigen Entscheidungen.
Zuspitzung hat nichts mit verantwortlicher Politik zu tun
Wer zum Beispiel den Abbruch der Beziehungen zur Türkei fordert, kann dies tun. Der muss aber auch darlegen, was die Folgen sein könnten und wie man diese bewältigt. Sobald die Türkei das Flüchtlingsabkommen nicht mehr einhält, haben wir ruckzuck mehrere Millionen neuer Flüchtlinge in Europa. Würde die Bundeskanzlerin den Ton zusätzlich verschärfen – wem würde man die Schuld geben? Richtig, Frau Dr. Merkel. Das tut sie aber nicht und ihre Haltung verdient Anerkennung, denn jede aktive Verschärfung würde die schon vorhandenen Probleme mit großer Sicherheit dramatisch zuspitzen.
Man kann sich über einen theoretisch konstruierten „Schießbefehl“ erregen, man kann aber auch realistisch zur Kenntnis nehmen, das zuerst an der türkisch-syrischen Grenze geschossen worden ist und nun auch in Libyen. Der Schutz dieser Grenzen erfolgt nicht durch einen theoretischen Schießbefehl, sondern faktisch durch reale Schüsse. Die Schießbefehle sind also konkret, weil aber weit weg, erregen sie hier kaum die Gemüter.
Man kann und muss die Bundeskanzlerin kritisieren. Insbesondere bei der Bankenrettung, der Flüchtlingskrise und nun auch bei der Dieselkrise hat sie nicht so gehandelt, wie es notwendig gewesen wäre – nämlich vorausschauend und gestaltend. Mit verantwortlich sind aber auch die Koalitionspartner, die sie hatte und hat, also FDP und SPD.
Zu wenig Fakten, zu wenig Analyse
Frau Dr. Merkel und ihre CDU sind zudem ebenso wie die anderen Parteien mitverantwortlich für das Entstehen und das Erstarken der AfD. Zuviel politisches Geplänkel, zu viele Nebelkerzen und vor allem zu viel Selbstbezüglichkeit haben diese Entwicklung vorangetrieben. Die sich daraus entwickelnde Extremlagerbildung bringt Entwicklungen nicht voran, sondern lähmt und sorgt so für noch mehr Unzufriedenheit. Wenn sich Menschen durch CDU, SPD, Grüne, Die Linke und FDP nicht mehr repräsentiert fühlen, wenn man diesen Parteien keine Gestaltungskompetenz mehr zutraut, dann bilden sich zwangsläufig andere Lager. Statt sich zu fragen, welche Verantwortung man selbst hat, dass dieser „Feind“ sich entwickelt hat, begnügt man sich mit der Pflege des Feindbildes.
Das wird in der politischen Analyse der Medien nicht verstanden oder vielleicht auch bewusst ignoriert, weil der „Aufreger“ schneller zusammengeschrieben ist, als eine ordentliche Faktenrecherche, deren Analyse und Einordnung. Statt hier mit großer Ruhe und Beharrlichkeit vorzugehen, beschäftigt man sich mit Fake News und postfaktischen Informationen, statt ordentliche Informationen in den Vordergrund zu stellen. Und ständig giert man nach dem Aufreger, nach Streit und wenn es den nicht gibt, konstruiert man ihn. Wenn nicht die Fetzen fliegen, wird das als langweilig statt spannend bewertet.
Dramatische Folgen
Die Folgen sind dramatisch: Insbesondere Tageszeitungen verlieren immer mehr Auflage und damit Leser und die Jugend sowie junge Erwachsene werden weder durch Tageszeitungen noch durch öffentlich-rechtliche Angebote erreicht. Formate wie das missglückte TVDuell werden zu recht als verunglückte Show-Sendungen eingeordnet.
Man wandert ab zu anderen Angeboten wie Facebook, das sich mittlerweile in Teilen zum weltweit größten asozialen Netzwerk der Welt entwickelt hat. Die Nutzer und damit große Teile der Gesellschaft spalten sich in immer mehr Interessengruppen auf und bewegen sich in ihren Filterblasen, von denen viele immer extremer werden. Menschen, die den Willen verloren haben, sich inhaltlich vernünftig mit Themen auseinanderzusetzen, dafür aber die Erfahrung machen, dass man mit Radau und Hetze sehr viele Aufmerksamkeit erhält, bekommt man nur schwer zurück. Denn eine faktenorientierte Auseinandersetzung ist im Vergleich viel mühsamer und anstrengender, verbunden mit der Gefahr, tatsächlich einsehen zu müssen, dass die eigenen „Argumente“ widerlegt werden.
Tatsache ist, dass insbesondere im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise viele Forderungen der AfD umgesetzt worden sind. Zwar nicht im Detail, weil die AfD keine praktikablen Lösungen vorgeschlagen hat, aber im Grundsatz schon. Doch kaum ein Medium berichtet das zutreffend, weil man die AfD nicht „bestätigen“ will. Wozu führt das? Die politisch Unzufriedenen erkennen das und werden noch unzufriedener, weil auch sie sich durch eine „Lückenpresse“, leider zu recht, bestätigt fühlen.
Merkels Machtbasis ist ihre Ruhe
Die Bundeskanzlerin inhaltlich zu kritisieren – dafür gibt es viele Gründe. Aber ihre Ausgeruhtheit anzugreifen und daraus zu folgern, sie „schläfere“ Deutschland ein, ist kompletter Blödsinn. Gerade diese Ruhe ist Teil ihrer Macht und verantwortlich für ihre hohen Sympathiewerte in der Bevölkerung. Je zoffiger sich Politik und Medien geben, umso mehr verlieren diese. Einerseits durch Menschen, die sich peinlich berührt zurückziehen und andererseits, indem sich die Unzufriedenen in der Zoff-Partei AfD oder in Splittergruppen im Internet sammeln.
Diese Entwicklung hat allen etablierten Parteien geschadet, wie die Verluste bei den Parteimitgliedern ebenso zeigen, wie die Ergebnisse der vergangenen Wahlen und auch der kommenden Bundestagswahl. Unbeschadet bleibt Dr. Angela Merkel. Nicht, weil sie alles gut macht, sondern vor allem, weil sie kein Öl ins Feuer gießt und kein Gift versprüht. Sie lässt sich nicht provozieren – davon könnten sich viele eine Scheibe abschneiden. Eine Demokratie muss immer auch streitbar sein im Wettbewerb um Ideen und Lösungen, wird sie aber streitsüchtig, dann bleiben Ideen und Lösungen auf der Strecke und es geht nur noch um Beschädigung.
Für die vorgelebte unaufgeregte Haltung verdient die Bundeskanzlerin, wie ich meine, nicht nur meine 50 Cent als Anerkennung. Sie wird diese Wahl gewinnen und in eine vierte Amtszeit gehen. Aller Voraussicht nach wieder in einer großen Koalition. Dafür trifft sie keine Schuld. Ihre Stärke ist die Schwäche der CDU und auch der anderen Parteien keine alternative Persönlichkeit hervorgebracht zu haben, die Frau Dr. Merkel ablösen könnte. Ihr Stärke ist aber noch viel mehr die Schwäche der anderen Parteien, mit unaufgeregter Sachpolitik zu punkten.
Was ihr fehlt und auch hier kann man sie zu recht kritisieren, ist Pathos und Empathie. Sie hat nicht die Strahlkraft früherer Kanzler und ist irgendwie die Weiterentwicklung eines Helmut Kohl, dessen Fähigkeit des Aussitzens sie perfektioniert hat. Was ihr komplett fehlt, ist, dem Land und den Bürgern eine Idee von Deutschland im Hier und Jetzt und für die Zukunft zu geben – denn offenbar braucht es mehr als nur wirtschaftliche Stabilität, um Menschen zufrieden zu stellen. Martin Schulz ist nicht in der Lage, dieses Vakuum zu füllen, deswegen ist er auch chancenlos als Herausforderer.
Die Prozente, die die AfD voraussichtlich bei der Bundestagswahl erreichen wird, werden alle Parteien abgeben müssen. Am stärksten vermutlich die SPD, aber auch Die Linke und Bündnis90/Die Grünen sowie die CDU. Einziger Profiteur unter den etablierten Parteien wird die FDP sein, die mit der AfD plötzlich wieder mehr Gewicht erhält, weil deren Wähler nichts mit CDU, SPD, den Grünen oder der Linken anfangen können, dafür aber die FDP als eine Alternative zur Alternative für Deutschland halten.
Anm d. Red.: Ja, auch das Rheinneckarblog ist in Teilen über eine gewisse Zeit zu krawallig gewesen. Dafür gibt es viele Gründe, insbesondere massive Angriffe von allen möglichen Seiten, auf die wir nicht immer souverän und ausgeruht reagiert haben. Unsere regelmäßige Leserschaft hat bemerkt, dass wir das selbstkritisch und auch durch Kritik der Leserschaft erkannt haben und seit geraumer Zeit eine andere Ausrichtung verfolgen. Das kostet uns teils die Aufmerksamkeit derer, die nach Aufregern gieren, um das Erregungsniveau hoch zu halten. Das nehmen wir in Kauf und arbeiten daran, noch hintergründiger und analytischer zu werden. Um dies leisten zu können, benötigen wir Geld – sofern Sie noch keinen Rheinneckarblog-Pass haben, freuen wir uns, wenn Sie sich diesen bald besorgen.
Quelle Vorschaubild: Quelle: Von Armin Linnartz, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16103982