Weinheim/Rhein-Neckar, 03. November 2014. (red/pro) Aktualisiert. Der zivile Widerstand gegen den Bundesparteitag der rechtsextremen NPD in Weinheim war eine Katastrophe. Wer was anderes behauptet, lügt sich und anderen in die Tasche. Das Problem liegt in der Struktur – denn die gibt es nicht. Während eine Partei mit gerade mal etwas über 5.000 Mitgliedern bundesweit wieder einmal lokal für Aufregung sorgt, schafft es eine Stadt mit 44.000 Einwohnern und eine Region mit einer Million Einwohnern nicht, sich entschieden und eindeutig gegen den brauen Mob zu stellen. Das ist eine politische Bankrotterklärung.
Von Hardy Prothmann
Während in der Weinheimer Stadthalle Neonazis ihren Bundesparteitag abhalten, echauffiert sich ein Erster Bürgermeister Dr. Torsten Fetzner gegen die deutsche Gerichtsbarkeit (Video auf Facebook):
Es erfüllt mich mit Ärger und Wut, dass wir von einem Gericht dazu gezwungen werden, unsere Stadthalle der NPD zur Verfügung zu stellen. Es freut mich aber sehr, dass sich ein regionales und überregionales Bündnis heute zusammengefunden hat, um unserem Protest gegen rechts Ausdruck zu verleihen.
“Ärger und Wut” gegen die Verfassung – gegen blöde Medien?
Kann das sein? Steht hier ein demokratischer Bürgermeister und zweifelt mit “Ärger und Wut” das Baden-Württembergische Verfassungsgericht an, während hinter ihm eine Partei tagt, die die Bundesregierung ein Regime nennt und Deutschland “unsouverän”, weil ohne ordentliche Verfassung? Es kann sein und die “gute” Menge gibt dem Bürgermeister Recht – sie johlt und buht gegen ein Verfassungsorgan. Gegen die Entscheidung des Staatsgerichtshofs, der nur bei Streitigkeiten entscheidet, die die Landesverfassung betreffen.
Dieser Bürgermeister wirft uns in einem Facebook-Kommentar vor, wir seien “blöd”, weil wir anlässlich unserer Berichterstattung nochmals ein Foto gezeigt haben, auf dem ein breit grinsender SPD-Oberbürgermeister Heiner Bernhard den NPD-Kreisvorsitzendem im Arm hat. Dieses Foto haben wir erstmalig im Dezember 2013 veröffentlicht und danach nicht mehr. Aber es dokumentiert, dass ein Weinheimer Oberbürgermeister offensichtlich zu blöd war, sich mit dem NPD-Kader ablichten zu lassen, weil er diesen nicht erkannt hat.
Dieser Bürgermeister ist auch Mitglied von Bündnis90/Die Grünen.* Im Februar 2014 besuchte Jan Jaeschke den Neujahrsempfang der Grünen und schüttelte kräftig grüne Hände. Niemand erkannte ihn. Als wir den Landtagsabgeordneten Hans-Ulrich Sckerl mit der Begebenheit konfrontieren, antwortet dieser, man müsse Herrn Jaeschke nicht kennen.
Arrogante Haltung: Der, den man nicht kennen muss
Wahrheitswidrige Beschuldigungen
Der Landtagsabgeordnete Hans-Ulrich Sckerl (Bündnis90/Die Grünen) meinte gegenüber uns: “Es kann nicht sein, dass der Staatsgerichtshof uns zwingt, den Nazis die Halle zu überlassen und sogar ausdrücklich zulässt, dass dies am 9. November, dem Tag der Reichskristallnacht sein könnte. Darüber wird noch diskutiert werden müssen.”
Die Stadtverwaltung hat alles richtig gemacht und konnte zunächst die NPD erfolgreich abwehren. Ihr wurde vom Staatsgerichtshof jetzt aber jeglicher Rechtsschutz gegen das Urteil verwehrt. Es befremdet mich auch sehr, dass der Staatsgerichtshof selbst am Jahrestag der Reichsprogromnacht die Stadthalle der NPD überlassen wollte. Das ergibt sich aus seinem Beschluss, mit dem das Gericht die Stadt verpflichtet, an einem von vier November-Wochenenden zur Verfügung zu stellen. Dazu gehört auch der 9. November. Das hätte die Stadt beinahe gezwungen, einen geschlossenen Mietvertrag mit den christlichen Kirchen zu kündigen, die für den 9.11. eine große Gedenkveranstaltung zur Reichsprogromnacht in der Stadthalle angekündigt haben. Auch von einem Staatsgerichtshof erwarte ich politisches Fingerspitzengefühl.
Die Faktenlage ergibt folgendes Bild: Die NPD hatte nicht vor, am 09. November die Halle zu mieten, sondern wie geschehen am 01.-02. November. Der Zeitpunkt war früh gewählt. Die Unterstellung, dass der Staatsgerichtshof sogar den Tag der Reichskristallnacht für den Bundesparteitag der Neonazis verfügbar gemacht hat, ist schon fast eine bösartige Unterstellung eines Mitglieds des Verfassungsorgans Landtag gegen die Entscheidung des Verfassungsorgans Staatsgerichtshof. Denn das Parteiengesetz schreibt Bundesparteitage vor – würde man von staatlicher Seite eine Partei daran hindern, würde verfassungswidrig vorgehen. In der Entscheidung heißt es wörtlich:
Sowohl dem Rechtsschutzbegehren der Beschwerdeführerin als auch den Belangen der Stadt hat der Staatsgerichtshof dadurch Rechnung getragen, dass er der Stadt die Möglichkeit eingeräumt hat, aus den von der Beschwerdeführerin genannten Wochenenden eines auszuwählen.
Udo Pastörs, bis zum Wochenende NPD-Chef, wiederum beklagte eine “Manipulation bei der Hallenvergabe, die staatsanwaltlich überprüft werden solle”. Konkret: Er wirft der Stadt Weinheim vor, die Belegung gefälscht zu haben. Das wiederum ist ein schwerwiegender Vorwurf, der nur entkräftet werden kann, wenn entweder die NPD die Stadt verklagt und der Staatsanwalt ermittelt oder die Stadt Herrn Pastörs wegen übler Nachrede verklagt und die Staatsanwaltschaft ermittelt. Am Ende wird das vor Gericht entschieden.
Versagen auf der ganzen Linie
Ganz unabhängig davon, wie solche Ermittlungen und ein Urteil ausfallen mögen, kann man schon heute ein eindeutiges Urteil fällen. Die Stadt Weinheim und das angeblich existente “Bündnis für ein buntes Weinheim” haben eklatant versagt. Dass die NPD ihren 50. Geburtstag mit Neuwahlen des Vorstands mitten in der Stadt abhalten konnte, ist nicht die Schuld des Staatsgerichtshofs, sondern die des Oberbürgermeisters, des Ersten Bürgermeisters, des Gemeinderats, der politischen Parteien und sonstigen demokratischen Gruppen in und um Weinheim.
Was viele aufgrund ihres provinziellen Denkens nicht beachten: Die Akten zu Gerichtsverfahren füllen bei der NPD ganze Bibliotheken. Die Partei ist ständig im Rechtsstreit mit Kommunen und sie gewinnt immer öfter, weil bei ihr zentral alle Fälle zusammenlaufen, sie daraus lernt und genau weiß, wie man was beantragt und vor Gericht Recht bekommt. Das sind juristische Profis. Sicher: Es ist unerträglich, wie diese Partei den Rechtsstaat, den sie abschaffen will, instrumentalisiert. Beispielsweise auch durch das Demonstrationsrecht. Aber es ist noch unerträglicher, wenn Demokraten, Bürgermeister, Parteimitglieder von demokratischen Parteien und Landtagsabgeordnete die Bürger/innen für dumm verkaufen und sich nicht schämen, selbst Verfassungsorgane anzugreifen und “Ärger und Wut” über den Rechtsstaat zu äußern und damit verantwortlich sind, wenn das Vertrauen in den Rechtsstaat weiter beschädigt wird.
Beschämende Inszenierung
Es ist beschämend, wenn sich Vertreter des rechtsstaatlichen Systems gegen den Rechtsstaat wenden, nur weil sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben und nicht ihren Willen bekommen. Und auch die Konsequenzen sind beschämend. Warum, so muss man fragen, wurde nicht ordentlich juristisch geprüft und erkannt, dass die NPD die Halle bekommen würde? Warum hat man nicht seit Februar 2014 mobil gemacht und dafür gesorgt, dass in allen drei Zufahrtsstraßen zur Stadthalle nicht mindestens 1.000 Demonstranten wie ein Bollwerk stehen und mit zivilem Widerstand diesen Parteitag verhindern?
Wer heute, insbesondere als Landtagsabgeordneter Sckerl mit Beruf Jurist oder als Bürgermeister mit allen Möglichkeiten der juristischen Beratung, behauptet, dass man zufrieden mit 400 Gegendemonstranten sei und aufgrund “der Kürze der Zeit” keine Möglichkeit bestand, mehr Leute zu mobilisieren, sagt nicht die Wahrheit und ist nicht bereit, Konsequenzen zu ziehen. Wer zudem behauptet, die NPD werde nie mehr in der Stadt auftreten können, lügt.
Es sind immer die anderen verantwortlich
19 Monate lang haben die, die mit stolzer Brust nach dem Bundesparteitag der NPD 2013 in Sulzbach ein “breites Bündnis für ein buntes Weinheim” vor die Kameras und Mikrofone der Presse getreten sind, nichts, aber auch gar nichts auf die Beine gestellt – außer sich als “die Guten” zu inszenieren. So wie jetzt auch wieder. Im beschaulichen Vorort Sulzbach waren damals gut 250 Bürger – und zwar spontan. Damals wie heute nutzen Berufspolitiker und Berufsbedienstete der Stadt die Sorgen und die Bereitschaft von Bürgern als Bühne für die eigene Inszenierung.
Wenn ein Herr Sckerl mir auf die Frage antwortet, warum das Bündnis nichts auf die Beine gestellt hat, “darum muss sich der Oberbürgermeister kümmern”, bleibt man fassungslos zurück. Selbstverständlich hat er Recht – die Vorbildfunktion des Oberbürgermeisters ist wichtig. Aber die eines Landtagsabgeordneten auch und die der Parteien.
Politik- und Medienverachtung
Tatsächlich finden sich aber immer weniger Bürger/innen, die sich mobilisieren lassen, weil sie enttäuscht sind von diesen Vorbildern. Der Kollege Stefan Niggemeier hat das aktuell in der FAZ hervorragend beschrieben: Es gibt aktuell keine Politik- und Medienverdrossenheit mehr – das ist längst in Verachtung umgeschlagen. Weil die Bürger/innen spüren, dass sie viel zu oft mit halbwahren, falschen oder auch manipulierten Informationen zu tun haben. Von der Politik und leider auch von verschiedenen Medien.
Aktuelle Studien belegen, dass 25 Prozent der Bevölkerung fremdenfeindliche Einstellungen haben. Quer durch alle Bevölkerungsschichten, quer durch alle Berufe. Das heißt, dass das 11.000 Weinheimer sind. Zehn Stadträte gehören dazu, ein Viertel der Stadtverwaltung. Sehr bald kommen viele Ausländer als Flüchtlinge in die Stadt – das wird Ressentiments noch verstärken. Die, die sich auf Versammlungen, Demos und Neujahrsempfängen immer selbst auf die Schulter klopfen und sich als Demokraten feiern, wollen nicht erkennen, dass die Entwicklung enorm negativ ist. Die Demokratie wird längst nicht nur durch die kleine NPD bedroht, sondern durch viele andere Extremisten – was schnell auch im eigenen Ort Thema werden kann.
Extremismus ist lokal nicht zu bewältigen
Auch in Köln leben nicht 4.000 Hooligans – die kamen von überall. Wenn sich in Weinheim rund 200 NPD-ler treffen, kommen die auch aus ganz Deutschland. Wenn die NPD über die Gemeinden zieht und Kundgebungen abhält, ob in Sinsheim, wo der Oberbürgermeister empfiehlt, die Rollläden runterzulassen oder in Ladenburg oder in Hemsbach – wo ist da der zivile Widerstand? Wo sind die klaren Zeichen aus der Bevölkerung, dass man die Rechten nicht will?
Es geht auch nicht um Weinheim, sondern um alle Gemeinden in der Metropolregion. Die NPD demonstriert in Nordbaden, in Ludwigshafen, in Worms und anderen Städten und Gemeiden. Dafür ziehen sie Leute aus der Westpfalz, aus dem Kraichgau, aus Nordbaden, aus Karlsruhe heran. Ins Sinsheim organisiert man “Nachtwachen” – wann auch in Mannheim, Weinheim oder Schriesheim?
Wer glaubt, die anderen werden es schon richten oder das geht mich nichts an, hat nicht den Rechtsruck in Frankreich wahrgenommen. Sieht nicht, was in Ungarn oder in der Ukraine passiert. Interessiert sich nicht für die Vorgänge in der Türkei.
Alarmstufe Rot
Beim Kampf gegen Rechts geht es nicht ausschließlich um einen Kampf gegen die NPD, sondern gegen vielfältige rechte Strömungen und auch gegen Sänger wie Xavier Naidoo, die krudes Zeugs unters Volk bringen und dem Rechtsstaat seine Verfasstheit absprechen. Früher nannte man so etwas Agitation und Propaganda.
Wenn selbst Bürgermeister und Landtagsabgeordnete die Souveränität von Gerichtsentscheidungen massiv in Zweifel ziehen und sich sogar voller Wut dagegen stellen, dann ist Alarmstufe Rot angesagt. Denn dann haben alle Systemkritiker ihr Ziel erreicht – die Destabilisierung der demokratischen Verhältnisse hat begonnen.
Metropolregionales Bündnis gegen Rechts notwendig
Dagegen hilft nur ein gemeinsames Vorgehen. Die Metropolregion braucht eine von allen getragene Einrichtung, die mit Information und Aufklärung den Bürger/innen hilft zu erkennen, was rechts ist und was nicht. Zu erkennen, wo Gefahren drohen. Zu wissen, was man dagegen tun kann. Und die Möglichkeit, effektiven Widerstand zu organisieren und zu leisten. Die Schatten der Vergangenheit und die Schatten der Gegenwart zeigen, dass es irgendwann zu spät ist, wenn man zu lange untätig bleibt.
In Mannheim sitzt seit der vergangenen Kommunalwahl ein vorbestrafter Verfassungsfeind der NPD im Gemeinderat. Im Osten ist die NPD eine “normale” Partei. Nach Angaben der NPD sind die Mitgliederzuwächse in Westdeutschland am stärksten. Die AfD erlebt als rechtskonservative Partei einen kometenhaften Aufstieg. Die Hooligan-Szenen in deutschen Städten politisiert sich. Worauf wird also noch gewartet?
Anm. d. Red.: * Herr Bürgermeister Dr. Torsten Fetzner hat in einem Kommentar auf Facebook darauf Wert gelegt, dass er kein Mitglied von Bündnis90/Die Grünen ist.