Rhein-Neckar, 28. Dezember 2016. (red/pro) Mit einer Meinung ist häufig die Frage nach der „Wahrheit“ verknüpft oder zumindest nach einfachen Bewertungen der Meinung, wie gut oder böse, richtig oder falsch. Wie wichtig Meinungen sind, zeigen die sich überschlagenden Meldungen über Propaganda, Fake News, Lügenpresse, Hate-Speech oder „postfaktisch“ – hier endet die Freiheit der Meinung, die nicht der eigenen Meinung entspricht, schnell und immer abrupter.
Von Hardy Prothmann
Wer gelegentlich mal im Grundgesetz nachliest, weiß, dass vor der Freiheit der Meinungsbildung die Freiheit des Glaubens und die der Entfaltung der Persönlichkeit gesetzt sind. Das heißt nicht, dass Religionsfreiheit und die Freiheit der Persönlichkeit wichtiger sind als die Meinungsfreiheit, aber diese Artikel kommen eben vor Artikel 5 Grundgesetz. In Artikel 1, Satz 1 steht festgeschrieben: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieser erste Satz bildet das Prinzip des modernen, demokratischen Rechtsstaats und gilt zuerst für den Rechtsstaat selbst – der darf den einzelnen Menschen nicht zum Objekt machen, sondern muss ihn als Subjekt schützen. Vor dem Staat und vor anderen. Der zweite Satz wird oft übersehen: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Zur Würde gehören die Gleichheit, die Persönlichkeit, der Glaube und die eigene Meinung.
Nirgendwo steht etwas von einer Wertung, sondern es geht um einen Wert an sich. Ob groß oder klein, stark oder schwach, wohlgewachsen oder nicht, Christ, Muslim, Jude oder sonst eine Religion oder Ideologie – das spielt grundsätzlich keine Rolle für den Wert dieser grundgesetzlichen Freiheiten. Das gilt auch für die Meinungsfreiheit. Eine differenzierte Meinung ist genauso geschützt wie eine eindimensionale – und zwar vor dem Zugriff des Staates. Nicht vor der Auseinandersetzung mit anderen Meinungen. Meinungen können weit verbreitet oder Einzelmeinungen sein. Sie können akzeptiert und nicht akzeptiert sein. Die grundgesetzliche Meinungsfreiheit entscheidet nicht zwischen richtig oder falsch und ebenso nicht zwischen wahr oder gelogen. Insofern ist jede Debatte über eine staatliche „Abwehrzentrale gegen Desinformation“, wie sie angeblich die Bundesregierung plant, obsolet.
Dafür oder dagegen?
„Ausländer raus“ ist eine ziemlich menschenverachtende und dumme Meinung, aber erlaubt. Das Bundesverfassungsgericht hat die Freiheit, diese Meinung haben zu dürfen, bestätigt. Diese Aussage alleine ist noch keine strafbare Volksverhetzung. Das gilt auch für „Soldaten sind Mörder“, um eine andere eindimensionale Meinung zu nennen. Auch „Wir sind das Volk“ dürfen einige hundert oder tausend Menschen einfach so meinen, auch, wenn sie sich damit ziemlich lächerlich machen.
In den jüngst vergangenen Jahren hat sich die Debatte über Meinungen in einer Weise zugespitzt, die längst bedrohlich geworden ist, weil es längst nicht mehr um den Austausch von Informationen, Argumenten und Fakten, sondern nur noch um ein: Bist Du dafür oder dagegen?
Dieser Punkt, die Ja- oder Nein-Antwort, ist immer ein grundsätzlicher. Auch in der direkten Demokratie, beim Volksentscheid beispielsweise. An diesem Punkt gilt nur noch Daumen rauf, Daumen runter – die Mehrheit ist entscheidend. Doch je knapper diese Mehrheit ist, desto weniger wird sie akzeptiert und dient nicht mehr der Entscheidung, sondern ist häufig Auftakt weiterer Konflikte. Siehe den Bürgerentscheid zur Buga23 in Mannheim. Denn wenn nicht eine sehr eindeutige Mehrheit dafür oder dagegen ist, stehen sich mitunter zwei unversöhnliche Lager gegenüber und die Suche nach einem Ende des Konflikts ist möglicherweise erst der Auftakt für Auseinandersetzungen, die sich so niemand vorstellen konnte.
Wer eine Debatte vom Zaun brechen will, muss seit gut zwei Jahren nur das Wort „Flüchtling“ äußern. Die einen finden, es sind „zu viele“, die anderen wollen noch mehr aufnehmen. Die einen wollen eine „Obergrenze“, die anderen finden das unerträglich. Die einen meinen, das Land versinke im Chaos, die anderen meinen, wer das meine, sei ein rechter Hetzer. Die einen meinen, es finde ein kontinuierlicher Rechtsbruch statt, die anderen halten sich an „Wir schaffen das“.
Die einen sagen „Fake News“, die anderen sagen: „So ist es.“ Hate-Speech ist immer das, was die von der eigenen, absoluten Meinung abweichende „Gegenseite“ äußert. Die einen haben Sorge vor einer „Islamisierung des Abendlandes“, die anderen bezeichnen diese Meinung als „schwachsinnig“. Die einen halten dies und jenes für Fakt, die anderen bezeichnen als „postfaktisch“, was nicht in ihr Weltbild passt.
Meinungsfreiheit ist immer auch Meinungsverantwortung
Und „die“ Medien, vermeintlich professionelle Dienstleister zur öffentlichen Meinungsbildung, werden von den einen als Lügenpresse verunglimpft und von anderen als Hetzmedium. Aber alle benutzen Medienberichte, um die eigene Meinung zu „belegen“. Die, die am lautesten über „Filterblasen“ oder „Echokammern“ lamentieren, sind meistens selbst Teil von diesen.
Der Fortschritt der demokratischen Meinungsbildung, die in unserer Gesellschaft durch den Wettbewerb von Argumenten stattfindet, ist enorm positiv. Bislang. Sie muss aber vor Ideologisierungen geschützt werden – von uns allen und oft auch vor uns selbst.
Meinungsfreiheit ist auch immer Meinungsverantwortung. Wer „Flüchtling“ als Schutzzone definiert, liegt falsch. Wer „Flüchtling“ als Diffamierungsinstrument benutzt, liegt auch falsch.
Wer Che Guevara nur als „Freiheitskämpfer“ sieht, ist ideologisch ebenso verblendet wie der, der meint, der Mann sei nur ein Terrorist gewesen.
Die „Wahrheit“ ist immer kompliziert
Die „Wahrheit“ ist immer komplizierter und kein Zitat dieser Welt enthält die Wahrheit – auch nicht das Grundgesetz.
Zur Erinnerung: Das Grundgesetz bietet einen staatlichen Schutzraum – vor allem vor dem Staat. Es definiert Freiheitsrechte und bildet die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Auf diesem Fundament können sich andere Ordnungen, so sie rechtskonform sind, etablieren. Niemand schreibt vor, was die Entfaltung der Persönlichkeit zum Ziel haben muss und welche Meinung man haben sollte. Und es ist durchaus möglich, die Freiheitsrechte zu beschränken.
Eine staatliche Zensur findet überall dort nicht statt, wo die Freiheit gewahrt bleibt – überall dort, wo dies nicht der Fall, kann der Staat zensieren oder muss das in seiner Schutzfunktion auch. Privat ist Zensur ganz überwiegend erlaubt und möglicherweise gesetzlich auch geboten.
Auf Facebook und in unserer Kommentarfunktion löschen wir quasi täglich „Meinungen“. Immer dann, wenn diese gegen unsere Netiquette verstoßen, also unsere Hausregeln. Und häufig dann, wenn sie inhaltlich ohne Aussage sind.
„Ausländer raus“ ist beispielsweise ein Kommentar, den wir, obwohl erlaubt zu äußern, nicht zulassen – schlicht und einfach, weil er inhaltsleer ist. Verfasst jemand eine Meinung mit Argumenten, die eine mögliche Sicht darstellt, die sich negativ gegenüber der Zahl von Ausländern äußert, kann es sein, dass wir das zulassen. Jemand anderes kann eine gegenteilige Meinung äußern. Dann sind wir im Wettbewerb der Meinungen und Argumente. Wer zum Beispiel vor Parallelgesellschaften warnt, hat nach unserer Auffassung eine begründete Meinung, weil es dieses Phänomen nachweisbar gibt und es unsere Gesellschaft nicht voranbringt, sondern für jede Menge Probleme sorgt. Wenn jemand die Notwendigkeit von Zuzug durch Ausländer argumentiert, beschreibt er ebenfalls eine begründete Meinung, weil Deutschland auf Zuzug von Ausländern angewiesen ist. Ob dies sinnvoll durch Flüchtlinge erfolgt, ist wieder eine zulässige Frage, zu der es viele Sichtweisen gibt, die miteinander konkurrieren.
Internet als größtes Medium der Menschheitsgeschichte
Viele Medien haben beispielsweise die AfD sehr lange nur negativ beurteilt – das ändert sich langsam, weil festgestellt wurde, dass diese Partei dabei ist, sich erfolgreich zu etablieren. Forderungen dieser Partei, wie die Schließung der Grenzen wurden durch deren Gegner als „menschenverachtend“ dargestellt. Nun sind die Grenzen zwar nicht geschlossen, aber fast und zwar nicht durch die AfD, sondern die Unionsparteien und die SPD. Die AfD kann das für sich als Erfolg verbuchen – nur berichtet kaum jemand darüber, weil man ja dann deren „Meinung“ bestätigen würde.
Medien, die einseitig und gefiltert arbeiten, müssen sich zu recht Kritik gefallen lassen. Aber bitte nicht „Staatsfernsehen“ oder „Lügenpresse“. Wer das meint, hat halt eine dumme Meinung. Zutreffend ist, dass es eine Vielzahl von Abhängigkeiten bei aller Freiheit der Medien gibt. Zutreffend ist aber auch, dass wie die Meinungen in der Bevölkerung die Meinungen in den Medien im Wettbewerb stehen. Der beste Beweis ist die massive Kritik an öffentlich-rechtlichen Sendern, die dort auch für Ärger sorgt. Ob sich gleich etwas bessert, steht auf einem anderen Blatt – aber die Kritik ist erlaubt und wenn sie argumentativ begründet ist, wirkt sie auch.
Argumente zu finden, Fakten zu prüfen, Zusammenhänge zu erkennen – das ist Arbeit. Das ist anstrengend. Wer heute „Staatsfernsehen“ und „Lügenpresse“ schreit, der hat offenbar nicht mitbekommen, dass die Medienmonopole vor der Zeit des Internets viel fester und meinungsbildender waren, als das heute der Fall ist.
Denn das Internet ist das größte Medium der Menschheitsgeschichte. Nicht wie gewohnt „formatiert“, also auf Papier begrenzt oder an Sendezeiten ausgerichtet. Sondern 24/7/365 verfügbar – überall auf der Welt. Es braucht nur ein Empfangsgerät und einen Anschluss an das Internet.
Anders als „klassische“ Medien ist das Empfangsgerät aber auch zugleich Sendegerät. Jeder kann nun kurz wie lang seine Meinung anderen mitteilen und sich aus unendlich vielen Quellen Informationen holen, um sich eine Meinung zu bilden. So viel Freiheit gab es noch nie zuvor.
Meinungsinzest erzeugt Schwachsinn
Richtig ist, dass klassische Medien über Jahre bis heute damit erhebliche Probleme haben – denn ihre Meinungsmacht schwindet und konkurrierende Meinungen können enorme Kraft gewinnen. Viele haben falsch und trotzig darauf reagiert. Andere Medien wie das Rheinneckarblog sind auf Basis des Internet entstanden und mischen bei der Meinungsbildung auch mit. Aber wie andere Medien auch eben professionell. Wir recherchieren Informationen, prüfen sie so gut es geht und stellen sie in einen differenzierten Zusammenhang. Wir sind dabei meist nicht dafür oder dagegen, sondern stellen ein sowohl-als auch dar.
Insbesondere in sozialen Medien entwickelt sich die Meinungsfreiheit seit geraumer Zeit in einer zunehmend bedenklichen Weise. Dort entstehen eben kaum soziale Gemeinschaften, die durch Vielfalt einen großen Raum aufmachen, sondern so genannte „Filterblasen“ – man tauscht sich nur doch mit „Gleichgesinnten“ aus. Es kommt zu einer Art Meinungsinzest – und welche fatalen Folgen Inzest hat, muss man niemandem erklären. Die reichen von Verformungen bis hin zum Schwachsinn.
Erstmals in der Menschheitsgeschichte kann sich tatsächlich jeder zu Wort melden und möglicherweise eine große Menge von Menschen erreichen. Darunter sind Meinungen, die die Grundlagen unseres Zusammenlebens schwer beschädigen. Ob wegen mangelndem Verantwortungsbewusstsein oder bösartigem Vorsatz.
Facebook dafür verantwortlich zu machen, zeigt nur die Hilflosigkeit vieler, die das Kernproblem nicht verstanden haben. Facebook ist nur eine technische Plattform. Die Posts schreiben Menschen. Andere Menschen teilen und erweitern diese. Gewisse Algorithmen von Facebook allerdings sind ein Problem – sie filtern Meinungen, die wir dann sehen und uns möglicherweise bestätigt fühlen, weil es ja so viele gibt, die auch meinen, was man selbst meint.
Wie steht es um Ihre Medienkompetenz?
Die meisten Menschen, die soziale Netzwerke wie Facebook, aber auch Foren benutzen, benutzen sie einfach – ohne darüber nachzudenken, wie sie das machen und was diese Kommunikation mit ihnen macht. Wer in einer Nutzergruppe „Verbrechen“ ist und täglich von anderen Nutzern Berichte über Kriminalität aus allen Ecken Deutschlands liest, der wird nach geraumer Zeit denken müssen, dass die Verbrecher Deutschland übernommen haben.
Haben Sie sich schon mal gefragt, wie gut eigentlich ihre Medienkompetenz ist? Was Sie über Algorithmen wissen? Über Kommunikationspsychologie? Wie viele unterschiedliche Quellen benutzen Sie, um sich eine Meinung zu bilden? Hunderte von anderen Nutzern? Sind das wirklich Quellen? Oder nicht nur ungeprüfte Einzelmeinungen von anderen, von denen man nicht weiß, wer sie wirklich sind und wie es um deren Kompetenzen bestellt ist?
Wir stellen uns diese Fragen ständig: Wer ist unsere Quelle? Wie qualifiziert ist sie? Ergeben die Informationen Sinn? Lassen sie sich durch andere Informationen prüfen? Fragen über Fragen, die sich automatisch ergeben, wenn man sich inhaltlich mit Dingen beschäftigt. Um Antworten zu finden, braucht es Zeit und Können. Und auch immer wieder eine kritische Sicht auf sich selbst.
Früher tauschte man Meinungen im Verein, auf dem Marktplatz aus – in kleinen, übersichtlichen Runden. Die Zahl der Meinungen war überschaubar – weil die Räume begrenzt waren und die Anzahl der Informationen auch.
Heute ist es viel einfacher, an Informationen zu kommen. Das macht es aber nicht einfacher – denn mehr Informationen heißt auch mehr Arbeit bei der Auswahl und Gewichtung. Das überfordert viele – auch, wenn die sich das nicht eingestehen. Also sucht man sich einfache Anschlüsse, die nicht überfordern. Damit werden die Sichtweisen immer einfacher und absoluter und möglicherweise extrem – ob links, rechts oder was auch immer.
AfD als Phänomen der entfesselten Meinungen
Die AfD ist eine Partei, die ohne Internet und soziale Netzwerke nicht vorstellbar ist – und an ihrem Entstehungsprozess ist der Verlauf des Extremen sehr spannend nachzuvollziehen. Gewisse Gruppen (Medien, Parteien, sonstige) stigmatisierten die Partei als rechtsextrem. Jede geäußerte Meinung wurde im Echoraum Politik verächtlich gemacht. Also wurden die Meinungsäußerungen immer härter, die Reaktionen immer verächtlicher.
Politiker anderer Parteien ahmten die AfD-Sprüche nach. Selbst ein Vizekanzler war bereit, die Leute, die nicht seiner Meinung entsprachen, als Pack zu verunglimpfen. Auf beiden Seiten „Dafür“ oder „Dagegen“ wurden die Positionen immer härter – bis zum offenen Hass. Wie sich das weiterentwickelt, ist noch unklar. Klar ist, dass beide Seiten die jeweils andere Seite verantwortlich machen und nicht auf ihre eigene Rolle schauen.
Der entfesselte Kampf um die „richtige“ Meinung hat längst den Raum der gemeinschaftlichen Freiheit verlassen und irrt durch die individuelle Verantwortungslosigkeit. Damit zerfällt Gemeinschaft in asoziale Gruppen, deren einzige Verbindung nur der Kampf gegeneinander ist. Nicht mehr die Konkurrenz.
Wer auf die Länder schaut, die nach der Kolonialzeit „Freiheit“ erlangt haben, kann sich ein Bild machen. Keinem dieser Länder ist es gelungen, eine funktionierende öffentliche Ordnung und Wohlstand zu erreichen. Sie wurden alleine gelassen mit ihrer Freiheit und können seit Jahrzehnten nicht damit umgehen – in den meisten Ländern gibt es deshalb keine Freiheit mehr.
Der Grund ist, dass es dort zu wenig verantwortliche Menschen gibt, die wissen, dass man mit Freiheit sorgsam umgehen muss und dies auch können. Wer Freiheit absolut definiert, wird Unfreiheit fördern.
Wer nochmals über den ersten Satz, Artikel 1 Grundgesetz nachdenkt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, sollte vor allem auf das Wort Würde achten. Die Würde wird garantiert und muss geachtet werden – man sollte damit auch selbst achtsam umgehen und sich würdevoll verhalten, damit die Achtung davor nicht verloren geht.