Südwesten/Mannheim/Rhein-Neckar, 28. Juni 2018. (red) Notstand in den baden-württembergischen Gefängnissen: Die Justizvollzugsanstalten des Landes sind dramatisch überfüllt. In den vergangenen zwei Jahren ist der der sowieso schon hohe Ausländeranteil sprunghaft angestiegen – und rund tausend Gefangene müssen sich gar gemeinschaftlich in Einzelzellen zwängen. Obwohl in Hessen noch viele Haftplätze frei wären, muss Baden-Württemberg mit der Lage allein klarkommen.
In der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim saßen einst die Mitglieder der “Rote Armee Fraktion” (RAF) ein. Einige der Top-Terroristen nahmen sich hinter Gittern das Leben, anderen wurde der Prozess gemacht.
Nun könnte Deutschlands wohl berühmtester Knast wieder Geschichte schreiben. Seit Anfang Mai sind hier 273 neue Haftplätze geschaffen worden, aber sie reichen noch immer nicht. Denn Baden-Württemberg Gefängnisse sind rappelvoll. Die Zustände sind beengt, die Gebäude marode, teils kann nicht einmal mehr die Hygiene sichergestellt werden. Das zeigt eine exklusive Recherche des Rheinneckarblogs.
Notbelegung – auch in Mannheim
Aktuell gibt es im Land 7.574 Haftplätze im offenen und geschlossenen Vollzug, teilte ein Pressesprecher des Justizministeriums auf Anfrage mit. Die meisten davon – knapp 4.500 – sind als Einzelhaftplätze vorgesehen. Doch weil der Bedarf so groß ist, werden diese Zellen längst mit zwei oder mehr Häftlingen belegt. Am 23. April 2018 waren 1.173 Gefangene „gemeinschaftlich in Hafträumen untergebracht, die nach der festgesetzten Belegungsfähigkeit für eine Einzelunterbringung ausgewiesen sind“, erklärte der Ministeriumssprecher.
Ein Landtagsdokument wird sogar noch deutlicher: Es ergebe sich eine „angespannte Belegungssituation insbesondere im Bereich des geschlossenen Männervollzugs“. Daher sei vielfach eine „Notbelegung“ nötig, heißt es in der Antwort von Justiz- und Finanzministerium auf einen Antrag des Grünen-Abgeordneten Jürgen Filius und seines CDU-Kollegen Dr. Bernhard Lasotta. Die Ressorts verweisen auf Richtlinien, die es den Anstalten im Krisenfall erlauben, bis zu sechs Häftlinge in Einzelzellen unterzubringen.
Im “Haftplatzspiegel” für den Justizvollzug ist anknüpfend an die Belegungsfähigkeit der Justizvollzugsanstalten die Anzahl der für eine Einzel- beziehungsweise für eine gemeinschaftliche Unterbringung vorgesehenen Hafträume ausgewiesen. Ab 1. Mai 2018 ergeben sich laut dem Stuttgarter Justizministerium bei einer Belegungsfähigkeit – ohne Jugendarrestanstalten – von 7.498 Haftplätzen 4.482 Haftplätze für eine Einzel- und 3.016 für eine gemeinschaftliche Unterbringung.
Die größte von 17 Justizvollzugsanstalten im Südwesten befindet sich in der Herzogenriedstraße in Mannheim. Eigentlich ist Platz für 691 Inhaftierte, tatsächlich wegen Bauarbeiten aber nur für 626 – hier sitzen aber 670 bis 675 Personen ein. “Die Zahlen variieren immer, aber wir sind klar überbelegt”, sagt der Leitende Regierungsdirektor Holger Schmitt.
Zum Beispiel durch “Ersatzfreiheitsstrafen”: Zum Stichtag 31. März 2018 waren 530 Gefangene zur Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe in den baden-württembergischen Justizvollzugsanstalten inhaftiert. Dies entspricht einem Anteil von 7,5 Prozent an der Gesamtbelegung zu dem genannten Stichtag.
Nun rächt sich offenbar, dass in den vergangenen Jahren zahlreiche Gefängnisse geschlossen wurden. Neben Offenburg waren das die Außenstellen Crailsheim, Kehl, Heidelberg, Heidenheim, Ellwangen sowie die offene Einrichtung Klein-Comburg, wie aus dem Dokument hervorgeht. Die Außenstelle Pforzheim dient inzwischen als Abschiebehaftanstalt.
Platz gibt es noch im offenen Vollzug: Zum Stichtag 31. März 2018 waren 243 freie Haftplätze nicht belegt.
Begründet wurden all die Schließungen mit dem Haftplatzentwicklungskonzept „Justizvollzug 2015“ und einer „grundlegenden Strukturverbesserung“, so das Ministerium. Kleinere Gefängnisse galten nun als unwirtschaftlich. Gebaut wurde stattdessen neben Stuttgart auch in Offenburg und Heilbronn; in Rottweil sollte ein neues Gebäude eigentlich schon 2015 fertig sein. Doch der neue Standort erwies sich als nicht günstig – die Planungskosten schnellten von 120 auf 200 Millionen Euro in die Höhe. Nun sollen die dringend benötigten 500 Plätze (rund 400 mehr als in der jetzigen JVA Rottweil, genannt “Café Landes” bereit stehen) erst im Jahr 2025 kommen – zehn Jahr später als geplant.
Auch die Intimsphäre stößt an räumliche Grenzen
Aber nicht nur der Vollzug platzt aus allen Nähten, auch in den Untersuchungshaftanstalten steigen die Belegungszahlen. Für die Strafgefangenen heißt das: zusammenrücken, im Behördendeutsch: „Nachverdichtung“. Die gesetzlichen Mindestgrößen für Haftplätze würden „vielfach nicht eingehalten“, erklärt das Ministerium in der Landtagsantwort von Mitte Mai. Selbst bei der Intimsphäre stoße man „an räumliche Grenzen“. Die überbelegten Zellen verfügen demnach über keine abgetrennte oder separat entlüftete Toilette. Betroffen sind rund 600 Häftlinge.
Warmes Wasser gibt es demnach nur für die Frauen in Schwäbisch Gmünd. Alle anderen Hafträume verfügen über keinen entsprechenden Anschluss. Werktäglich duschen können sich in Baden-Württemberg nur diejenigen Gefangenen, die „mit körperlich anstrengender oder schmutzanfälliger Arbeit betraut sind“, die einen externen Termin oder einen Arztbesuch haben. Für alle anderen gilt die „Musterhausordnung des Ministeriums“, wonach zweimal duschen pro Woche genügen muss.
Ekel-Alarm herrscht in den Knastküchen: Hinsichtlich des Bauzustands bestehe „ein Sanierungsbedarf“, es gebe in den meisten Anstalten „deutliche Gebrauchs- und Abnutzungsspuren“, teilte das Ministerium mit. Teils könnten Lebensmittel nicht mehr „nach dem vorgeschriebenen und regelmäßig kontrollierten Hygienekonzept“ gereinigt, desinfiziert und gelagert werden. Renovierungen sind demnach nur in den Küchen in Adelsheim (Jugendstrafanstalt) und Freiburg vorgesehen – für letztere sind im Haushalt 24 Millionen veranschlagt.
Auch Gewalt und Straftaten sind in den JVAen des Landes ein Problem. 2017 zählte das Justizministerium 344 Fälle von Angriffen auf Bedienstete, Körperverletzungen unter Gefangenen, Drogendelikten und Brandstiftungen, für das laufende Jahr bis Ende April 63 solcher Fälle. 87-mal gab es im vergangenen Jahr den Verdacht vorsätzlicher Misshandlung von Gefangenen durch Mitgefangene, 18-mal in diesem Jahr. Zudem gab es im vergangenen Jahr sieben Suizide in den Haftanstalten des Landes, dieses Jahr noch keinen (Stichtag: 25. April).
Der Flüchtlingszustrom 2015 war im Konzept “Justizvollzug 2015” nicht vorgesehen
Was die Bauplaner in ihrem Konzept „Justizvollzug 2015“ offenbar nicht vorgesehen hatten, war das Jahr 2015. In diesem Jahr kamen nicht nur besonders viele Asylsuchende nach Deutschland. Es war auch das Jahr, das bei der Häftlingsstatistik einen Wendepunkt markiert.
Der Ausländeranteil unter den Häftlingen stieg danach geradezu sprunghaft an, wie eine Statistik zeigt, die das Justizministerium auf Anfrage des Rheinneckarblogs bereitstellte. Hatten am Stichtag 31. März 2015 nur reichlich ein Drittel der Häftlinge (39,1 Prozent) keinen deutschen Pass, waren es 2016 schon 44,6. Im Jahr 2017 betrug der Anteil an Ausländern und Staatenlosen an den Gefangenen bereits 46 Prozent, am 31. März 2018 48,5 Prozent. Aktuell sind 3.596 Personen aus 96 Nationen eingesperrt. Wie viele Inhaftierte einen deutschen Pass, aber Migrationshintergrund haben, ist nicht bekannt.
Der Blick auf die Nationalitäten zeigt jedoch, dass die am häufigsten betroffenen Gruppen nicht diejenigen sind, die auch einen Flüchtlingsstatus erhalten. Die meisten Gefangenen waren zum Ende des ersten Quartals Türken (499): Ihr Anteil betrug 6,7 Prozent an den Häftlingen. Danach folgten Gambier (277), Rumänen (257), Algerier (234) und Italiener (219). Nur 1,99 Prozent der Insassen waren Syrer (148).
Damit haben die Gefängnisse in Baden-Württemberg eine höhere Ausländerquote als jene in den Nachbarländern. In Rheinland-Pfalz betrug der Anteil an Nichtdeutschen am 31. März 2018 gerade mal 28,7 Prozent, in Hessen reichliche 44,6 Prozent. In beiden Bundesländern stellen Türken ebenfalls die größte Ausländergruppe, wie die Justizministerien mitteilten.
Personalprobleme
Erstaunlich: Obwohl die Quote an Nichtdeutschen so markant niedriger ist, hat auch der rheinland-pfälzische Justizvollzug Platzprobleme – wenn auch nicht so dramatisch wie in Baden-Württemberg. Im Nachbarland waren zum Ende des ersten Quartals 573 Inhaftierte gemeinschaftlich in Doppelzellen untergebracht, die eigentlich für die Einzelunterbringung vorgesehen seien. In diesen Fällen sei aber „der Haftraum ausreichend groß und der Sanitärbereich abgetrennt“, so ein Pressesprecher. Es würden sich „in der Regel“ genügend Gefangene finden, die „einer Doppelbelegung ausdrücklich zustimmen“.
Engpässe hat Rheinland-Pfalz vor allem beim Personal. 5,8 Prozent der Stellen im Vollzug sind dort unbesetzt, zum Vergleich: In Baden-Württemberg sind es derzeit 4,4 Prozent. Laut dem Mainzer Justizministerium sei der Betrieb zwar noch „aufrecht zu erhalten“, doch stoßen die Einrichtungen „immer mehr an die Grenzen“, zumal „die Arbeitszeitvorschriften zu beachten“ seien. Die personelle Ausstattung des Justizvollzugs werde aber im kommenden Haushalt beraten.
“Im Rahmen des aktuellen Doppelhaushalts 2018/2019 sind dem Justizvollzug im Bereich des mittleren Vollzugsdienstes weitere 130 Stellen neu zugegangen, die aufgrund der erforderlichen zweijährigen Ausbildung naturgemäß noch nicht mit Beamten/Beamtinnen besetzt werden konnten. Darüber hinaus gehen dem Justizvollzug Baden-Württemberg in den Jahren 2018 und 2019 insgesamt 20 zusätzliche Stellen zur Stärkung der Ausbildungskapazität für den mittleren Vollzugsdienst im Justizvollzug zu”, teilt das Ministerium auf Anfrage mit.
Hohe Kosten pro Insasse
Rheinland-Pfalz gibt schon jetzt deutlich mehr Geld pro Häftling aus als Baden-Württemberg: Der durchschnittliche Tagessatz lag 2017 bei 143,04 Euro (Monat: 4.29o Euro), während er im Südwesten nur bei 118,09 Euro (Monat: 3.540 Euro) lag. In Hessen betrugen die täglichen durchschnittlichen Ausgaben etwa 133,52 Euro (Monat: 4.005,6 Euro). Von Krise ist in dem nördlichen Nachbarland indes nichts zu spüren – weder beim Personal noch bei den Hafträumen. Im geschlossenen Vollzug hat Hessen aktuell sogar 663 Plätze frei.
Wäre es da nicht denkbar, dass länderübergreifend zusammengearbeitet wird, um die Notlagen zu überbrücken? Das Stuttgarter Ministerium verneint das – und verweist auf das Gesetz: „Die Verlegung einer pauschalen Anzahl von Strafgefangenen aus Gründen des anhaltenden Belegungsdrucks ist nach bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung, der die dargestellte Verwaltungspraxis entspricht, ausgeschlossen.“
Das Problem muss das Land also schon selbst lösen.