Mannheim, 25. Januar 2016. (red/cr) Bis Sonntag präsentiert das Internationale Figurentheaterfestival Imaginale in sechs Städten Baden-Württembergs, darunter Mannheim mit der Alten Feuerwache und dem Jungen Nationaltheater, Figurentheater in all seinen Formen. Bei der Eröffnung in Mannheim am Freitagabend wurde gelacht, gehofft und verzweifelt – alles ohne Worte. Humorvoll und ohne Kitsch bringt „André und Dorine“ das Thema Alzheimer ganz nah an den Zuschauer. Der Verlust der Vergangenheit lässt auch die Gegenwart entgleiten – das betrifft nicht nur die ältere Generation.
Von Christin Rudolph
Noch bis Ende des Monats findet in Baden-Württemberg die fünfte Ausgabe des Internationalen Figurentheaterfestivals Imaginale statt. 32 Ensembles und Solisten aus 10 verschiedenen Nationen präsentieren in 34 Inszenierungen verschiedenste Formen des Figurentheaters. Dabei werden in Stuttgart, Mannheim, Heilbronn, Eppingen, Schorndorf und Ludwigsburg rund 80 Vorstellungen für Erwachsene und für Kinder gezeigt.
In Mannheim sind 14 Ensembles und Solisten aus Belgien, Spanien, der Schweiz, Italien, den Niederlanden, Frankreich, Norwegen und Deutschland mit 15 Inszenierungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf den Bühnen der Alten Feuerwache und des Jungen Nationaltheaters zu sehen.
Thematisch verbindet die Inszenierungen, so Schnawwl Intendantin Andrea Gronemeyer,
das Unheimliche. Puppen eignen sich gut dafür.
Tatsächlich drehen sich die Inszenierungen um Vertrautes, das unheimliche Züge annimmt. Ob es sich dabei um die vermeintlich bekannte Figur des Pinocchio, den Körper oder den eigenen Partner handelt, Puppen und menschliche Masken wirken vertraut und doch unheimlich, starr und künstlich.
Als Abschluss des Programmes in Mannheim wird in der Alten Feuerwache erstmals ein Puppetry Slam stattfinden. Bei dieser Veranstaltung kann sich jeder anmelden und eine Performance mit einer Puppe oder einem anderen Objekt präsentieren, solange sie selbst verfasst ist und nicht länger als sieben Minuten dauert. Am Ende wird ein Gewinner ermittelt.
Alt wird jeder
Eröffnet wurde das Festival am Freitagabend durch das spanische Kulunka Teatro mit ihrem Stück André und Dorine. Der voll besetzte Saal der Alten Feuerwache hoffte und verzweifelte, lachte und resignierte. Egal in welches Land und zu welchen Menschen André und Dorine kommen, ihre Geschichte ist immer auch die Geschichte der Zuschauer. Ganz ohne Worte versteht man die drei jungen Schauspieler und die Figuren hinter den Masken.
Die Protagonisten André und Dorine sind ein typisches altes Ehepaar. Er, ein Schriftsteller, hämmert mit Feuereifer sein neues Werk in die Schreibmaschine. Ihre große Leidenschaft ist das Cello-Spiel – wäre da nicht dieser Lärm. Aber natürlich will keiner der beiden nachgeben. Die Senioren verhalten sich wie Kleinkinder. Dabei wirken sie fast schon routiniert, eingespielt. Nicht nur die großartige schauspielerische Leistung der Darsteller macht Worte überflüssig. Das Paar André und Dorine wirkt, als hätten sie sich nichts mehr zu sagen.
Als es an der Haustür klingelt, will keiner der beiden aufstehen. Aus Faulheit heraus entsteht ein Katz-und-Maus-Spiel. Sobald der Sohn dann einmal in der Wohnung ist, will jeder der beiden gleichzeitig Aufmerksamkeit. Der Vater drängt ihm sein neues Manuskript auf und die Mutter „überrascht“ ihn mit einem hässlichen Pullover. Dabei ist die Lebenswirklichkeit des Sohnes eine ganz andere. Das sind Situationen, mit denen sich jeder Zuschauer identifizieren kann.
Schleichender Verlust
Man könnte meinen, dass es so ewig weiter geht – meinen André und Dorine wahrscheinlich auch. Als André erfährt, dass Dorine an Alzheimer leidet, will der zunächst nichts davon wissen. Doch bald kann er die Krankheit nicht mehr ignorieren. Das Hämmern der Schreibmaschine und der Klang des Cellos werden schleichend ersetzt durch eine einsame Mundharmonika – und mit einem Gefühl von Leere.
Dorine ist immer öfter verwirrt, vergisst alltägliche Dinge und mehr und mehr sich selbst. Selbst die Melodie, die sie immer auf dem Cello spielte und ihr Erkennungszeichen, verstummt, fällt dem Vergessen zum Opfer.
Beim Kampf mit seiner Frau, die plötzlich der festen Überzeugung ist, Socken müsse man an den Händen tragen, kann André schließlich nur verzweifeln.
Er beginnt sich zu erinnern, wie sie einander kennengelernt haben. Damals waren sie jung und voller Leidenschaft. In den übertrieben, fast verklärt wirkenden Rückblenden fallen aber vor allem Parallelen auf. Schon damals ging der Kugelschreiber nie, wenn man ihn brauchte, in den nervösen Gesten der Teenies erkennt man den Charakter der Figuren wieder.
Wann haben wir aufgehört, uns für einander zu interessieren? Wo ist die Leidenschaft hin? Warum ist nicht einfach alles wie früher? Was haben wir falsch gemacht?
Andrés Erinnerungen an die Vergangenheit geben der Gegenwart der Figuren mehr Tiefe. Und sie lassen die Angst durchsickern – wenn sich jemand nicht einmal mehr daran erinnert, wie man sich anzieht, was ist dann mit all den gemeinsamen Jahren? Was hat das Jetzt noch für einen Wert, wenn die Vergangenheit verschwindet?
Sie werfen Fragen auf, die weder der Zuschauer noch die Figuren beantworten können, die einem das echte Leben oft genauso schuldig bleibt. Um die Vergangenheit festzuhalten macht André das, was er immer noch am besten kann – er schreibt. Er schreibt seine Lebensgeschichte mit Dorine an seiner Seite auf.
Erinnerungen machen menschlich
Dieser neue Funken Hoffnung wird aber schon schnell erstickt. Die bittere Enttäuschung, keinen Zugang mehr zu einer einst so vertrauten Person zu haben, berührt tief und lässt einsam zurück. Jedes Aufheulen der Mundharmonika, dem musikalischen Motiv des Vergessens und der Distanzierung, lässt die Hoffnung schwinden.
Zwischen Resignation und Entsetzen finden sich immer wieder auch gegen Ende humorvolle Elemente, wenn zum Beispiel der Sohn in Anwesenheit der hübschen Haushaltshilfe versucht lässig zu wirken, obwohl er genau das Gegenteil ist. Selbst bei der Beerdigung von Dorine sorgt die Figur des Sohnes noch für Heiterkeit, da er zum Abschied den hässlichen Pullover trägt, den ihm seine Mutter zu Beginn geschenkt hat.
Die Beziehung zwischen dem Sohn und der Pflegerin seiner Mutter rundet schließlich die Erzählung ab. Sie erwarten ein Kind und am Ende findet er die aufgeschriebenen Erinnerungen seines Vaters. Das Leben geht also weiter. Der Sohn wird sich an André und Dorine, an ihre guten und schlechten Tage erinnern. Und das Publikum auch.