Mannheim, 25. September 2016. (red/as) Lügen und falsche Hoffnungen gepaart mit einer unromantischen Liebe mit lebensveränderten Folgen: Der Sommer von Ayda und Ernst im idyllischen Kalami Beach auf Korfu. Das erste Stück des neuen Hausautors Akin Sipal am Nationaltheater Mannheim feierte gestern Premiere und beeindruckte mit literarischen Wort- und verwirrenden Lügengespinsten.
Von Annika Schaffner
Blaues Meer, rote Klippen und holländische Balletttänzerinnen: Kalami Beach auf Korfu ist die perfekte Urlaubsidylle. Und mittendrin ein Pärchen, das verschiedener nicht sein könnte und sich, so gar nicht idyllisch, lautstark anschreit.
Kalami Beach ist ein Stück voller Gegensätze. Eine Geschichte voller Zufälle. Das Studio im Werkhaus des Nationaltheaters Mannheim ist bis zum letzten Platz mit neugierigen Zuschauern gefüllt: alle wollen sehen, was der neue Hausautor Akin Sipal so drauf hat. Nach 19 hervorragenden Vorgängern ist dies eine gewaltige Herausforderung für den 25-jährigen Neuling.
Schauspiel und Publikum – Hand in Hand
Als die einzigen beiden Schauspieler des Stückes vor ausverkauftem Haus auf die Bühne treten, genauso jung und erfrischend wie der Autor, steht sofort eine Spannung im Raum: Die beiden schauen ins Publikum und scheinen sich vergewissern zu wollen, wer da ihrer Geschichte zuhören wird. Das Publikum auf der anderen Seite schaut genauso erwartungsvoll in die Gesichter der Schauspieler. Was wird passieren? Akin Sipal hatte angekündigt „Hand in Hand“ mit dem Publikum arbeiten zu wollen.
Das Publikum wird während des ganzen Stückes nicht einfach ignoriert, als wären sie in einem anderen Raum, sondern direkt als Zuschauer und Zuhörer angesehen. Die Schauspieler Hannah Müller und Fabian Raabe erzählen ihre Geschichte für das Publikum und an das Publikum gewendet, oft sogar in der dritten Person. Anfangs eine verwirrende Form, an die man sich aber schnell gewöhnt.
Ayda und Ernst treffen sich zwar in einer Urlaubsidylle, in der sie schon als Kinder spielten, wirken trotzdem nicht so richtig glücklich mit ihrem Leben. Ayda will sich anfangs sogar umbringen – so denkt Ernst zumindest über den Badeunfall. Ayda streitet dies ab. Das Publikum merkt: Man darf den beiden nichts glauben. Ernst rettet sie aus den Wellen und zwischen den beiden baut sich eine Art Beziehung auf.
Darf man das glauben?
Es scheint, als spiele für beide der Reiz des Fremden eine große Rolle, denn Ayda kommt aus Istanbul und Ernst aus Deutschland. Auch Akin Sipal hat einen türkischen Hintergrund, wer könnte die kulturellen Unterschiede besser beobachten? Doch der charakterliche Unterschied ist viel wichtiger als der kulturelle. Aydas dominante, leidenschaftliche Art überragt Ernst nicht nur stimmlich, sondern auch von der Körpergröße her. So entsteht auf der Bühne ein groteskes Paar, das sich mit viel Humor und einer übertriebenen Lockerheit anstatt mit Romantik und tiefgründigen Gesprächen lieben lernt.
Als sie nach kurzer Zeit ziemlich unromantisch miteinander schlafen, behauptet Ayda unfruchtbar zu sein. Nach einer Woche ist sie auf einmal doch schwanger – ein großer Schock für Ernst. Natürlich entsteht sofort ein Wirrwarr von Streitgesprächen zwischen Mann und Frau, die klischeehafter nicht sein könnten: Wie kannst du das nach einer Woche wissen? Wo soll das Kind geboren werden? Auch Abtreibung wird in dem Raum geworfen. Später behauptet Ernst aber, es sei nur ein Witz gewesen. Darf man das glauben?
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Zwischen all diesen Diskussionen erlebt der Zuschauer immer wieder Zeitsprünge in die verworrene Kindheit der beiden, zu Situationen, die sich auch am Kalami Beach abspielten, nur Jahre zuvor. Einmal erzählt Ayda, wie sie dachte, dass ihre depressive Mutter im Meer ertrunken ist, was sich später als Verwechslung herausstellte. Und Ernst berichtet über seinen strengen Vater, der ihn immer zum Tennis spielen gezwungen hat. Nur der Regen hätte ihn zumindest manchmal vor dem Sport retten können. Das Wasser, das Meer und das Ertrinken zieht sich zentrales Element durch das Leben der beiden.
Schauspiel als Hörspiel
Schließlich ist es Ayda, die schwach wird und Heimweh bekommt – obwohl sie immer Ernst als schwach verhöhnt, wenn er wieder mal über einer seiner Wehwehchen klagt. Sie vermisst ihr Stadtleben und Istanbul, fühlt sich überfordert mit einem Kind. Ohne weiter zu zögern erzählt sie Ernst, dass sie abgetrieben hat. Darf man das glauben? Nun wirkt Ernst fast enttäuscht und beschwert sich, dass sie ihn nicht gefragt hat. Die beiden trennen sich im Streit, scheinen genug voneinander zu haben.
Wenn Ernst und Ayda erzählen oder streiten, fühlt man sich oft wie in einem Hörspiel: Sie beschreiben genaue Details eines Ortes oder einer Situation mit teilweise mehrfach verschachtelten Sätzen, als würden sie ihre Geschichte vorlesen. Man muss als Zuschauer beziehungsweise Zuhörer seine Vorstellungskraft anstrengen.
Auf der anderen Seite sind englische Phrasen wie „fucking“ eingebaut, die sie lautstark rumschreien und die junge Seite der beiden zeigen. Literarisch ist Akin Sipal in jedem Fall sehr überzeugend und beeindruckend. Doch es sind Hannah Müller und Fabian Raabe, die sich in ihren Monologen, Dialogen und Diskussionen immer wieder selbst übertreffen und den anspruchsvollen Texten einen leidenschaftlichen, mitreißenden Charakter verleihen.
Es folgt eine einzige Szene, die wenigstens etwas Romantik aufzeigt: Ernst spielt Klavier und singt mit Ayda zusammen „Someone like you“. Es könnte die emotionale Abschiedsszene sein. Doch Korfu ist wie ein Magnet, der sie anzieht und das Leben der beiden bestimmt. Korfu ist wie der Nabel Europas, an dem im Urlaub alle zusammen kommen und trotz unterschiedlicher Kulturen plötzlich das gleiche Leben führen.
Faszinierende Umsetzung von Gegen-Sätzen
Nach drei Jahren treffen sich Ayda und Ernst wieder, wieder in der Lobby des Hotels am Kalami Beach. Ein lustiges Aufeinandertreffen, bis ein kleines Kind dahergelaufen kommt und Ayda „Mama“ nennt…
Man darf den beiden nichts glauben. Das Gespinst von Lügen zieht sich durch das ganze Stück. Beide spielen sich etwas vor, wollen etwas sein, das sie nicht sind und haben gleichzeitig nicht genug Vertrauen in ihren Partner.
Ayda und Ernst spiegeln mit ihrer Naivität, ihrer Art die ernsthaften Dinge einfach mit Humor zu überspielen, das Wehren gegen jegliche Emotionen oder Romantik und ihren unbegründeten Depressionen in vielen Situationen die junge Gesellschaft wider. Auch die Politik wird mit einbezogen, da immer wieder das scheiternde Europa eine Rolle spielt – verpackt in Leben und Lügen der zwei handelnden Personen mit all ihren Gegensätzen.
Für Akin Sipal, der sehr schüchtern, aber spürbar glücklich den Applaus für seine Premiere entgegen nimmt, ist sein Stück ganz banal „die Geschichte einer Begegnung“. Ihm ist eine faszinierende Umsetzung von „Gegen-Sätzen“ gelungen.
Auch von mir dafür Applaus!
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