Heidelberg/Rhein-Neckar, 17. September 2015. (red/ms) Der Heidelberger Gemeinderat kam am vergangenen Mittwoch zu einer Sondersitzung zusammen. Auf der Tagesordnung stand neben den Formalitäten nur ein Punkt: Die „Zuspitzung der Flüchtlingslage in Heidelberg“. Wie Landesbranddirektor Hermann Schröder mitteilte, plane die Landesregierung, drei Viertel der Flüchtlinge, die Baden-Württemberg zugewiesen werden, zunächst im Heidelberger Patrick Henry Village unterzubringen. Dort wolle man sie registrieren und eine medizinische Untersuchung durchführen, bevor man sie auf andere Unterbringungen in Baden-Württemberg verteile.

Volles Haus am Mittwoch im Gemeinderat – rund 150 Bürger/innen verfolgten die Sondersitzung.
Von Minh Schredle
Rund 150 Besucher – darunter auch Polizeipräsident Thomas Köber – und ein gutes Dutzend Journalisten sind vor Ort. Schon das verdeutlicht, wie groß das Interesse an der Entwicklung des Patrick Henry Village (PHV) ist – zumal die Sondersitzung sehr kurzfristig angekündigt worden ist.
Ausgangslage für die außerplanmäßige Sitzung waren Medienberichte, denen zufolge das PHV zur Zentralen Aufnahmestelle für bis zu 10.000 Menschen ausgebaut werden solle. Die Zahl von 10.000 Menschen wurde vom Integrationsministerium bislang nicht bestätigt – aber auch nicht dementiert.
PHV wird aller Voraussicht nach zur Zentralen Aufnahmestelle
Was dagegen seit vergangenem Mittwoch klar ist: Das Land plant die Aufnahmekapazitäten im PHV deutlich zu erweitern. Das PHV soll weder eine bedarfsorientierte Erstaufnahmestelle bleiben, noch zu einer „herkömmlichen“ Landeserstaufnahmestelle werden – sondern „zu einer Art Drehkreuz, einer zentralen Aufnahmestelle“, wie Herrmann Schröder es bezeichnet.
Herr Schröder ist als Landesbranddirektor Referatsleiter für die Flüchtlingsunterbringung in Baden-Württemberg. Am Mittwoch erläuterte er dem Gemeinderat die Vorhaben des Landes. Dabei handle es sich angeblich „nicht um eine Verkündung“, sondern um einen „Vorschlag zur künftigen Nutzung“, den man zusammen mit der Stadt Heidelberg „gemeinsam gestalten“ wolle.
Etwa drei Viertel der Flüchtlinge, die in Baden-Württemberg ankommen, sollen demnach zwischenzeitlich nach Heidelberg weitergeleitet werden. Das PHV wird zur zentralen Aufnahmestelle.
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Lesetipp: Integrationsministerin Öney zur Flüchtlingsunterbringung
„Wir prüfen alle Kasernen“
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Bis ein Flüchtling überhaupt erst seinen Asylantrag stellen kann, muss eine Vielzahl von Formalitäten erfüllt werden. Da die meisten Landeserstaufnahmestellen in Baden-Württemberg am Rande ihrer Kapazitäten sind, kommt es teilweise sogar dazu, dass Flüchtlinge auf Land- und Stadtkreise verteilt werden, noch bevor sie überhaupt ihren Asylantrag stellen konnten, geschweige denn ihr erstes „Interview“, also die Befragung zum Asylbegehren, geführt haben.
Die Technologie, um Flüchtlinge zu registrieren, erkennungsdienstlich zu erfassen und medizinisch zu untersuchen, ist an unterschiedlichen Standorten unterschiedlich gut. Oft führt es zu Verzögerungen und Komplikationen, weil diese notwendigen Schritte nicht reibungslos durchgeführt werden können.
Heidelberg soll „Baden-Württembergs München“ werden

Oberbürgermeister Dr. Würzner machte einen sehr nachdenklichen Eindruck.
In Heidelberg soll künftig ein Großteil all dieser Maßnahmen durchgeführt werden: Drei Viertel aller Flüchtlinge, die in Baden-Württemberg ankommen, sollen solange in Heidelberg bleiben, bis ihre Formalitäten abgewickelt sind und sie ihren Asylantrag stellen können. Das soll nach Angaben von Herrn Schröder im Idealfall gerade mal zwei Tage pro Person dauern und maximal 14 Tage.
In Summe würden also angesichts der aktuellen Zahlen nach unserer Schätzung übers Jahr rund 60.-80.000 Personen nach Heidelberg kommen, von wo aus sie anderen Unterbringungen zugewiesen werden.
Nach den Plänen des Landes sollen im PHV etwa 600 Personen pro Tag registriert werden können – das sind 4.200 pro Woche. Oberbürgermeister Dr. Eckart Würzner fragte, ob Heidelberg zu „so etwas wie Baden-Württembergs München“ werden solle. Herr Schröder darauf:
Ja. Bloß geordneter.
Bedingungen wie in Heidelberg gebe es laut Herrn Schröder nirgendwo sonst in Deutschland. Hier könne man die Aufnahmekapazitäten ohne großen Aufwand deutlich erhöhen:
Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass die Flüchtlingszahlen in absehbarer Zeit wieder abnehmen. Stattdessen gibt es viel eher deutliche Hinweise, dass der Zuzug nach Baden-Württemberg noch deutlich zunimmt.
In dieser „krisenartigen Situation“, die man jeden Tag „irgendwie auf’s Neue meistern“ müsse, sei man laut Herrn Schröder darauf angewiesen, alle Möglichkeiten zu nutzen.
Wie Integrationsministerin Bilkay Öney gegenüber dem Rheinneckarblog auf Anfrage mitteilte, würden Land und Bund derzeit sämtliche frei verfügbaren Kasernen auf ihre Nutzbarkeit zur Flüchtlingsunterbringung überprüfen.
„Wo anders werden Zeltstädte aufgestellt – da können wir doch kein Dorf leer stehen lassen.“
Der Heidelberger Gemeinderat sprach größtenteils sein Verständnis für die Vorhaben des Landes aus und zeigte sich überwiegend zuversichtlich, dass die Herausforderung zu bewältigen sei.
Laut Stadträtin Beate Deckwart-Boller sei ein „Drehkreuz zwar weit entfernt von den eigentlichen Idealen grüner Flüchtlingspolitik“. In Massenunterkünften würde kein Mensch leben wollen. Doch man erkenne die Notlage des Landes an. Man brauche so schnell wie möglich Lösungen:
Jetzt zu helfen, ist unsere humanitäre Verpflichtung. Wo anders werden Zeltstädte aufgestellt – da können wir doch kein Dorf leer stehen lassen.
Prof. Dr. Anke Schuster (SPD) forderte, dass nicht nur in Heidelberg, sondern bundesweit Kasernen vermehrt zur Unterbringung von Asylbewerbern genutzt werden.
Überfordert oder nicht?
Prof. apl. Dr. Nicole Marmé sagte, auch die CDU sehe, dass schnelle Lösungen gefragt wären. Aber:
Warum ausgerechnet Heidelberg?
Sahra Mirow (Die Linke) entgegnete darauf:
Warum denn nicht Heidelberg? Wir erfüllen doch alle Voraussetzungen, die es braucht. Und in der aktuellen Situation muss jeder leisten, was er leisten kann. Eine Aufstockung ist in unseren Augen also absolut notwendig.
Auch ein Fraktionskollege von Frau Dr. Marmé – Herr Waseem Butt – sprach sich deutlich dafür aus, alles zu tun, was Heidelberg leisten könne:
Ich selbst habe vor 25 Jahren am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlt, auf der Flucht zu sein. Wer das erlebt hat, will alles dafür tun, diese menschen würdig aufzunehmen.
Diesen Worten stimmte die Mehrzahl der Stadträte zu. Eindeutig ablehnend waren lediglich die Äußerungen der beiden AfD-Stadträte Matthias Niebel und Anja Markmann, die sich bereits jetzt schon fremd in „ihrem Heidelberg“ fühlen.
„Vertrauensverhältnis in erheblicher Schieflage“
Während die Heidelberger Stadträte viel Verständnis für die Vorhaben des Landes zeigten, kritisierten nahezu alle in ihren Stellungnahmen eine „desaströse Informationspolitik“.
Frau Grüne sagte, man wolle keine Halbwahrheiten und falschen Prognosen mehr und Versprechen, die nicht eingehalten werden können:
Wir vertragen die Wahrheit ganz gut.
Dr. Ursula Lorenz (FDP) bezeichnete die Informationspolitik des Landes als „empörend“. Man wisse nicht mehr, ob man Zusagen wirklich Glauben schenken könne, hieß es mehrfach im Gemeinderat. Oberbürgermeister Dr. Würzner sagt dazu:
Die Kommunikation des Landes ist in keinster Weise akzeptabel. Es kann nicht sein, dass ich als Oberbürgermeister wesentliche Informationen erst aus den Medien erfahre. Und es muss klar sein: Unser Vertrauensverhältnis zur Regierung ist in erheblicher Schieflage.
Man wolle daher verbindliche, schriftliche Zusagen.
Belegung wurde nicht reduziert
Herr Schröder bedankte sich ganz zu Beginn seines Vortrags für „das Fünkchen Vertrauen, das die Stadt Heidelberg dem Land noch entgegenbringt“. Was ihn wenig später zur folgenden Aussage über das PHV bringt, ist unklar – viele Bürgerinnen und Bürger schnaubten regelrecht:

Landesbranddirektor Hermann Schröder.
Wir haben all unsere Zusagen eingehalten.
Zwar wurden Shuttle-Busse geschaffen, Sanitäranlagen errichtet und das Bettenlager im Casino aufgelöst.
Das wichtigste Versprechen aber wurde nicht erfüllt: Ministerpräsident Kretschmann sagte bei einem Vor-Ort-Termin zu, dass die Belegung mittelfristig wieder auf unter 2.000 Menschen reduziert werde.
Doch das Gegenteil ist geschehen: Laut Herrn Schröder leben aktuell 3.651 Menschen auf dem PHV – und aller Wahrscheinlichkeit nach werden es in naher Zukunft deutlich mehr.
Wer hat was aufgestockt?
Außerdem behauptete Herr Schröder, die Sicherheit im PHV sei gewährleistet, da man die dauerhafte Polizeipräsenz vor Ort personell deutlich aufgestockt habe.
Das ist nur bedingt korrekt: Es stimmt zwar, dass es inzwischen eine ständige Präsenz auf dem PHV gibt. Allerdings stockte die Landesregierung bislang dafür keine der versprochenen neuen Stellen beim Polizeipräsidium Mannheim auf, wie Polizeipräsident Thomas Köber gegenüber dem Rheinneckarblog bestätigt. Herrn Köber zufolge setze er das bereits vorhandene Personal an anderen Stellen ein:
Auf dem PHV hat es immer mal wieder Unruhe gegeben und teils musste die Polizei mehrfach pro Nacht mit Großaufgeboten anrücken. Am 04. September haben wir unsere Präsenz vor Ort dauerhaft aufgestockt – seitdem ist es ruhig. Kein einziges Mal mussten zusätzliche Kräfte angefordert werden.
Insofern sei diese Entscheidung der richtige Schritt gewesen. Dennoch wünsche er sich – wie vermutlich jeder Polizeipräsident – eine Aufstockung des Personals durch das Land Baden-Württemberg.
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Lesetipp: Wie „Fakten schaffen“ jegliches Vertrauen zerstört
Der Verrat
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Nach den Angaben von Herrn Schröder soll die zentrale Aufnahmestelle in Heidelberg zeitlich befristet betrieben werden. Wie lange sie in Betrieb sein wird, ist allerdings unklar. Eine Frist wurde gar nicht erst angesetzt. Herr Schröder sagt dazu:
Niemand kann die Flüchtlingszahlen von Morgen vorhersagen.
Auch die spannendste Frage blieb unbeantwortet – obwohl sie mehrfach gestellt wurde: Wie viele Flüchtlinge sollen denn nun im PHV leben? Herr Schröder sagt darauf ausweichend:
So wenige wie möglich.
Die Zahl würde maßgeblich davon abhängen, wie viele Flüchtlinge nach Baden-Württemberg kommen und davon, wie reibungslos Registrierung und Untersuchung verliefen.
Das ist nachvollziehbar. Beunruhigend ist dagegen, dass Herr Schröder sich nicht auf eine Belegungsobergrenze festlegen wollte – obwohl er auch danach mehrfach gefragt wurde.
Dieses Vertrauen darf nicht ausgenutzt werden
Herr Schröder sagte, wenn Registrierung und medizinische Untersuchung in zwei Tagen abgewickelt werden können, würde das Lager bei 600 Registrierungen pro Tag nur von 1.200 Personen bewohnt werden.
So weit, so klar. Aber: Was wenn sich Verfahren verlängern, beispielsweise wegen technischer Defekte? Was, wenn mehr als 800 Flüchtlinge pro Tag in Baden-Württemberg ankommen und Heidelberg drei Viertel davon aufnehmen soll?
Dann würde die Zahl der Flüchtlinge im PHV schneller zunehmen, als die Formalitäten abgehandelt werden können. Auf Dauer würde das womöglich zu einer dramatischen Überbelegung führen. Die Kapazitäten des PHV sind groß – aber irgendwann sind auch sie erschöpft.
Um das Vertrauen der Stadt Heidelberg wirklich zurück zu gewinnen, muss das Land eine verbindliche Obergrenze festlegen – und diese auch einhalten. Der Großteil des Gemeinderat hat aller Widrigkeiten zum Trotz eine riesige Kooperations- und Hilfsbereitschaft gezeigt. Erneute „Enttäuschungen“ wären eine fatale Botschaft der Landespolitik für sämtliche Kommunen in Baden-Württemberg.