Ahrtal, 09. August 2022. (red/pro) Aktuell hat die Bild-Zeitung eine “Story” gebracht, die typisch für das Boulevard-Blatt ist: “Selbstmorde in Ahrweiler – die Tragik nach der Flutkatastrophe”. Die Zeitung bezieht sich auf eine Anfrage der AfD im Landtag Rheinland-Pfalz. Danach gab es seit der Flutkatastrophe im Ahrtal 20 Suizide. Aber nicht im Stadtteil Ahrweiler, sondern im gesamten Landkreis, in dem 135.000 Menschen leben. Von der Flut waren und sind rund 40.000 Menschen betroffen. Das ist billiger Boulevard, kein Journalismus.
Kommentar: Hardy Prothmann
“Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast”, ist ein altbekannter Spruch. Er ist wahr, weil das immer wieder passiert. Er ist völlig falsch, weil Wissenschaftler und Statistiker ganz überwiegend eine ordentliche Arbeit abliefern, die dann aber für Propaganda oder was auch immer “zurechtgebogen” wird.
So auch aktuell. Es gab im gesamten Kreis Ahrweiler seit der Flutkatastrophe 20 Suizide. Das ist die behördlich mitgeteilte Zahl. Allerdings ist der Kreis Ahrweiler nicht das Ahrtal. Im Kreis leben rund 135.000 Menschen. Von der Flut vor einem Jahr waren rund 40.000 Menschen, also weniger als ein Drittel betroffen.
Statistik ist immer etwas “rückwärtsgewandt”, weil nicht alle Daten tagesaktuell vorliegen. Das Statische Bundesamt informiert auf der Website zum Thema:
“Im Jahr 2020 starben in Deutschland insgesamt 9 206 Personen durch Suizid – das waren über 25 Personen pro Tag. Männer nahmen sich deutlich häufiger das Leben als Frauen, rund 75 % der Selbsttötungen wurden von Männern begangen. Das durchschnittliche Alter von Männern lag zum Zeitpunkt des Suizides bei 58,5 Jahren. Frauen waren im Durchschnitt 59,3 Jahre alt. Im Vergleich zum Vorjahr (9 041 Suizide) ist ein leichter Anstieg zu verzeichnen. Insgesamt ist die Zahl der Suizide jedoch in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen: 1980 nahmen sich beispielsweise noch rund 50 Personen pro Tag das Leben.
Die am häufigsten gewählte Suizid-Methode war sowohl bei Frauen als auch bei Männern die Selbsttötung durch “Erhängen, Strangulieren oder Ersticken”: Fast die Hälfte aller Männer, die Suizid beging, starb auf diese Art und Weise (49,9 %). Bei den Frauen waren es 31,5 %, die diese Art der Selbsttötung wählten.
Innerhalb der Bundesländer lagen deutliche Unterschiede bezüglich der Suizidraten vor: Betrachtet man die Sterberate je 100 000 Einwohner gab es in Nordrhein-Westfalen mit 7,6 Suiziden pro 100 000 Einwohner die wenigsten Selbsttötungen. Am höchsten fiel die Quote mit 15,9 in Sachsen-Anhalt aus.”
Anm. d. Red.: Hinweis: Das sind Zahlen von 2020.
Suizide finden also leider immer wieder statt. Bei Männern viel häufiger als bei Frauen – was eine eigene Betrachtung wert wäre. Doch im Vergleich zu früheren Zeiten gehen die Zahlen deutlich zurück. Warum? Auch das kann man prüfen. Unsere These: Bessere Lebensbedingungen, Thematisierung, psychosoziale Betreuung.
Betrachtet man nun das Verhältnis, kommt der Landkreis Ahrweiler auf einen Prozentsatz von 14,8 Fällen auf 100.000 Einwohner, also weniger als in Sachsen-Anhalt, obwohl es dort keine verheerende Flutkatastrophe gab. Betrachtet man das Verhältnis von 40.000 Betroffenen zu 135.000 Einwohnern, sind das etwa 30 Prozent, was exakt 6 Suiziden entspricht.
Im Vergleich sind 6 Suizide im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe, wie uns der Opferbeauftrage Detlef Placzek mitgeteilt hat, eindeutig im statistischen Mittel bezogen auf den gesamten Landkreis. Und zwar exakt.
Damit steht fest: Es ist bis heute überhaupt kein “Flut-Effekt” feststellbar, der auch nur ansatzweise die Suizid-Rate abweichend vom Landkreis irgendwie erhöht hätte.
Alle, die das behaupten und wie die Bild noch völlig falsch betiteln, “in Ahrweiler” (etwa 7.500 Einwohner), was ein Stadtteil der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler ist, verhalten sich völlig verantwortungslos, wollen Stimmung wachen. Für welche Agenda auch immer.
Umgekehrt wäre es sinnvoll, die These zu recherchieren: “Obwohl es eine so fürchterliche Katastrophe gab, schlägt sich das überhaupt nicht in einer wahrnehmbaren Steigerung von Suiziden nieder. Wie kommt das? Was ist der Grund dafür?
Doch das würde Recherchearbeit bedeuten – für Boulevard-Medien und Blasen in sozialen Netzwerken. Die wissen aber vorher schon, was “die Wahrheit” ist und konstruieren sich ihre “Fakten” so wie sie wollen. Nicht, wie sie sind.
Das seit Monaten andauernde “Bespielen” des Themas könnte zwei weiteren Menschen seit Februar das Leben gekostet haben und weiteren das Leben kosten, indem man völlig unverantwortlich und ohne Sinn und Verstand das Thema immer wieder in den Vordergrund bringt, was gefährdete Personen triggern könnte. Möglicherweise möchte man ja, dass es noch mehr Tote gibt, um dann zu beweisen “wie schlimm alles ist”.
Hinweis: Wenn Sie oder Ihnen nahestehende Personen von Depressionen betroffen sind und/oder Suizid-Gedanken haben, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.
Die Caritas bietet eine Onlineberatung für Jugendliche bis 25 Jahre. Auf der Seite erhalten die Betroffenen Hilfestellungen von Gleichaltrigen, und zwar anonym und kostenlos.
Die Aufnahme der LVR-Klinik in Bonn ist Tag und Nacht erreichbar. Kontakt: Aufnahme- und Krisenzentrum LVR-Klinik, Kaiser-Karl-Ring 20, 0228/5511 und im Internet.