Rhein-Neckar, 04. April 2016. (red) Die Flüchtlingskrise ist ein internationales Problem, das kein Land alleine lösen kann. Es sind sensible Zeiten. Statt sich gemeinsam konstruktiv einzubringen, diskutiert die Öffentlichkeit über zulässige und unzulässige Satire einzelner Personen. Wie denkt jemand darüber, der nicht nur türkisch oder deutsch denkt, sondern beide Welten kennt?
Von Cem Yalçinkaya
Ich bin 1986 als Mannheimer mit türkischen Wurzeln geboren. Meine Heimat ist Mannheim. Also Deutschland. In der Türkei habe ich Freunde und Familie.
Das Anwerbeabkommen mit der Türkei von 1961 hat die Bundesrepublik und die Türkei nachhaltig verändert und miteinander verbunden. Die Arbeitsmigration sicherte nicht nur den deutschen Wirtschaftsboom, sondern stabilisierte den NATO-Partner Türkei und war für viele Einwanderer die Chance zur Emanzipation.
Mannheim, Frankfurt, das Ruhrgebiet und weitere Ballungsgebiete sind für viele Türken längst Heimat geworden. Größtenteils sind, wie bei mir, noch starke Bindungen durch Familie und Freunde zum Herkunftsland der Eltern und Großeltern vorhanden.
Positive Entwicklungen

Cem Yalçinkaya. Foto: privat
Die aktuelle türkische Administration hat seit 2001 durch Strukturreformen und dem folgenden Wirtschaftsboom großen Teilen der Bevölkerung bisher nicht dagewesene Chancen und Teilhabemöglichkeiten eröffnet. Die Dominanz des Militärs wurde zurückgedrängt. Die Vielfalt in der Türkei wurde immer sichtbarer.
Die Infrastruktur wurde nachhaltig modernisiert. Ein symbolisches Beispiel hierfür ist die Eisenbahnstrecke Marmaray, welche mit einem Eisenbahntunnel unter dem Bosporus die beiden Kontinente Europa und Asien verbindet.
Im Rahmen der Bildungsexpansion wurden landesweit in allen Provinzen Hochschulen eröffnet. Mit dem Wegfall des Kopftuchverbots an Hochschulen, wurden jungen Frauen der Weg zur Bildung und Emanzipation eröffnet. Die Müze Kart (Museumskarte) ermöglicht, für einen relativ geringen Betrag, den landesweiten Besuch vom Kultusministerium geförderten Museen beispielsweise dem Topkap? Palast oder der Hagia Sofia in Istanbul.
Die Türkei – ein offener Prozess
Der Abschluss des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens stellt einen Neuanfang da. Die Türkei befindet sich in einem offenen Prozess. Aktuelle türkische Herausforderungen sind die Fortsetzung des demokratischen Reformprozesses, die Bewältigung des Zustroms von Geflüchteten, der Umgang mit Protestbewegungen und die Weiterentwicklung der politischen Parteien zur Kompromiss- und Koalitionsfähigkeit.
Deutschland kann sein langjähriges gutes Verhältnis und seine Mitbürger mit türkischen Wurzeln nutzen und ein Unterstützer für weitergehende Reformen und der Stabilisierung der Demokratie werden. So könnte eine Partnerschaft wie mit Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg und mit Polen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entstehen.
Die Türken können mit den Deutschen und die Deutschen mit den Türken viel bewegen.
Der wiederbelebte EU-Beitrittsprozess wird Mindeststandards im Land bei Dingen wie Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit, aber auch beim Handel oder bei den Arbeitsbedingungen der Menschen erhöhen und bietet beiden Seiten Chancen.
Kritik ja, Schmähung nein
Der türkische Staatspräsident Erdogan muss sich kritische Satire gefallen lassen. Punkt.
Er muss sich aber keine rassistischen Schmähungen gefallen lassen, wie Herr Böhmermann diese im ZDF veröffentlicht hat. Punkt.
Macht mal einen Punkt
Kanzlerin Dr. Angela Merkel hat richtig und zutreffend reagiert, indem sie diese vollkommen unnötige Provokation als „bewusst verletzend“ bezeichnet hat. Weiter sollte man sich damit überhaupt nicht beschäftigen.
Ich plädiere für einen ehrlichen, aber fairen Umgang. Denn anders kann man keine Win-Win-Situation erreichen. Die Türken können mit den Deutschen und die Deutschen mit den Türken viel bewegen.
Zur Person:
Cem Yalçinkaya (30) ist Bauingenieur und Mitglied im Migrationsbeirat Mannheim seit Ende 2015. Er ist politisch aktiv bei den Jusos und der SPD Mannheim. Seine Motivation: Soziale Gerechtigkeit und Beteiligung der Bürger.
Anm. d. Red.: Unsere Kolumne Montagsgedanken greift außerhalb des Terminkalenders Themen auf – ob Kultur oder Politik, Wirtschaft oder Bildung, Gesellschaft oder Regionales oder Verkehr. Teils kommen die Texte aus der Redaktion – aber auch sehr gerne von Ihnen. Wenn Sie einen Vorschlag für Montagsgedanken haben, schreiben Sie bitte an redaktion (at) rheinneckarblog.de, Betreff: Montagsgedanken und umreißen uns kurz, wozu Sie einen Text in der Reihe veröffentlichen möchten. Natürlich fragen wir auch Persönlichkeiten an, ob sie nicht mal was für uns schreiben würden…