Mannheim/Viernheim/Rhein-Neckar, 01. Juli 2016. (red/pro/Vorschaubild: SWR) Nach der Geiselnahme von Viernheim und dem Tod des Geiselnehmers steht die Frage im Raum: Wieso war der 19-Jährige weiterhin im Besitz der Schreckschusswaffe, obwohl behördlich erhebliche Zweifel an dessen Eignung bereits Ende April bekannt geworden waren? Der Landtagsabgeordnete Hans-Ulrich Sckerl kündigt auf Nachfrage an, Aufklärung in der Sache einzufordern.
Von Hardy Prothmann
Es ist jedes Mal derselbe Ablauf. Ob nach den Schul-Massakern von Erfurt und Winnenden oder den Doppelmorden von Eberbach und Dossenheim – immer wieder wird nach tödlichem Einsatz von Waffen die Verschärfung des Waffenrechts gefordert, bessere Kontrollen sollen es richten. Aber es passiert so gut wie nichts.
Hans-Ulrich Sckerl nimmt den Vorwurf nicht auf sich:
Änderungen am Waffengesetz scheitern nicht an uns Grünen, sondern insbesondere an der CDU. Alle bisherigen Initiativen von uns sind an den Konservativen gescheitert.
![untersuchungsausschuss sckerl-20141104 -IMG_8137](https://www.rheinneckarblog.de/files/2014/11/untersuchungsausschuss-sckerl-20141104-IMG_8137.jpg)
Hans-Ulrich Sckerl: „Wir wollen was tun – es scheitert an der CDU.“
Das Problem: Waffenrecht sei Sache des Bundes, nicht der Länder. Mit einer Ausnahme: Die Ausstellung des so genannten „kleinen Waffenscheins“ kann sehr wohl durch die Länder geregelt werden. Und offenbar wird das immer dringlicher, denn die Baden-Württemberger rüsten auf. Die Zahl der kleinen Waffenscheine ist im Land um zehn Prozent gestiegen – von 40.000 auf 44.000. Seit Herbst 2015 und erst recht seit der Silvesternacht von Köln. Die Menschen sind verunsichert und wollen sich schützen, mit Schreckschuss- oder Reizgaswaffen.
Erwerb und Besitz dieser Waffen ist volljährigen Personen erlaubt, sogar das Führen und die Benutzung – im privaten Raum. Um eine solche Waffe im öffentlichen Raum zu führen, sprich „schussbereit“ bei sich tragen zu dürfen, benötigt man den „kleinen Waffenschein“. Auch hier gibt es Einschränkungen. Das Führen bei öffentlichen Veranstaltungen wie Festen oder Demonstrationen bedarf einer zusätzlichen Genehmigung.
Das Innenministerium hat seit 2011 die Kontrolldichte erhöht und es gibt vermehrt unangemeldete Kontrollen, ob Waffen legal besessen werden und sachgerecht aufbewahrt werden. Aber die unteren Waffenbehörden sind personell zu schwach besetzt und die Kontrollen sind nur ein Teil der Lösung auf dem Weg zu weniger Waffen. – Hans-Ulrich Sckerl im Interview mit dem Rheinneckarblog am 08. Januar 2013 nach dem Doppelmord von Eberbach |
Der Geiselnehmer von Viernheim, ein 19 Jahre alter Mannheimer, hatte einen solchen Waffenschein. Aber offenbar nicht die nötige „Reife“. Bereits Ende April informierte die Polizei Mannheim die Stadt Mannheim, dass der junge Mann zu einer Vernehmung mit Waffe auf das Polizeirevier gekommen war. Grundsätzlich durfte er das – er hatte ja den „kleinen Waffenschein“. Das Verhalten des Mannes und die Tatsache, dass er zur Polizei mit Waffe ging (die er verdeckt trug, wie das vorgeschrieben ist), veranlassten die Beamten allerdings zu dieser Mitteilung an die Waffenbehörde der Stadt.
Auf Anfrage teilt die Stadt Mannheim mit:
Nach einer Mitteilung der Polizei wurde der Sachverhalt sofort bei der Stadt Mannheim geprüft. Nach Einschätzung des zuständigen Sachbearbeiters – ebenso wie nach der Auffassung des Polizeibeamten – lag keine akute Gefährdung vor. Ein Verfahren, um den kleinen Waffenschein zu entziehen, wurde nicht eingeleitet. Allerdings hätte dies nicht zum unmittelbaren Entzug des kleinen Waffenscheins geführt. Das Gesetz sagt hier, dass der Verlust des kleinen Waffenscheins nicht mit dem Entzug der Waffe einhergeht. Wenn es Bedenken hinsichtlich der Eignung zum Waffenbesitz gibt, muss die Behörde zunächst vom Besitzer ein amtsärztliches oder fachpsychologisches Gutachten mit einer Fristsetzung von mehreren Wochen verlangen. Für den Fall, ein solches Gutachten stellt eine Eignung in Zweifel, hätte die Verwaltung den kleinen Waffenschein entziehen können. Dies bedeutet aber nicht, dass der Betroffene die Waffe hätte abgeben müssen. Denn zum Kauf und Besitz von Schreckschuss-, Reizstoff- und Signalwaffen ohne Mengenbegrenzung bedarf es keines kleinen Waffenscheines. Der kleine Waffenschein erlaubt lediglich zusätzlich das Führen, d.h. das verdeckte Tragen in der Öffentlichkeit.
Hans-Ulrich Sckerl (Wahlkreis Weinheim) und sein Kollege Wolfgang Raufelder (Wahlkreis Mannheim-Süd) wollen aber selbst initiative werden und sich als Landtagsabgeordnete mit dem Vorgang befassen.
Der Kollege Raufelder und ich werden kommende Woche einen Abgeordnetenbrief an die Stadt Mannheim schicken,
sagt Hans-Ulrich Sckerl, innenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg. Die beiden Abgeordneten wollen persönlich von der Stadt Aufklärung, was nach der Meldung durch die Polizei unternommen worden ist.
Immerhin ist ein Mensch zu Tode gekommen, weil er eine Schressschusswaffe führen durfte.
Der Polizei ist beim Einsatz in Viernheim überhaupt kein Vorwurf zu machen, dass Sie den Mann in einer lebensbedrohlichen Situation erschossen hat,
sagt Hans-Ulrich Sckerl. Denn die Beamten hätten nicht einschätzen können, ob die Waffe „scharf“ gewesen sei oder eben nur eine Schreckschusswaffe.
Wir müssen dem Sachverhalt sehr konzentriert nachgehen und den Vorgang aufklären sowie Maßnahmen diskutieren. Das Thema muss angegangen werden, auch wenn das in der jetzigen Koalition nicht einfacher sein wird, als vorher,
sagt Herr Sckerl. Auch wenn es unter grün-rot vielleicht einfacher war – passiert ist tatsächlich auch von 2011-2016 nichts. Im damaligen Koalitionsvertrag stand:
Waffenrecht verschärfen
Über eine Bundesratsinitiative werden wir eine Verschärfung des Waffenrechts angehen, insbesondere mit dem Ziel, ein generelles Verbot für den Privatbesitz von großkalibrigen Faustfeuerwaffen durchzusetzen (mit Ausnahme der Jäger). Auch die Kontrolle der so genannten Altfälle unter den Sportschützen im Waffenrecht muss strenger und rechtssicher geregelt werden. Wir werden zudem rasch die erforderlichen Konsequenzen aus der vom Landtag bereits beschlossenen Evaluation der Kontrollen von Waffen und Munition ziehen. Wir streben eine dauerhafte höhere Kontrolldichte durch die Waffenbehörden an.
Dossier Waffen:
Wir haben zu den Doppelmorden von Eberbach und Dossenheim intensiv berichtet. Das Thema Waffen ist in unserer hintergründigen Berichterstattung häufig präsent. Hier ein Auswahl früherer Artikel:
Doppelmord Eberbach: Das sind zwei Tote zuviel
Doppelmord von Dossenheim: Schärfere Waffengesetze?
Unzufriedenheit über Nebenkostenabrechnung?: Ich bringe Euch alle um
Doch was bringen „Verschärfungen? „Da muss man sich keine Illusionen machen, es gibt nicht nur für scharfe Waffen, sondern auch für Schreckschusswaffen einen Schwarzmarkt“, sagt Herr Sckerl. Zugang und Berechtigung zu verschärfen, sei eine Maßnahme. Insgesamt die Zahl der Waffen zu reduzieren, sei das bessere Ziel.
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Doch genau das Gegenteil ist der Fall – durch die Möglichkeit des freien Erwerbs von Schreckschusswaffen gibt es eine unbekannte Anzahl von Waffen in Privatbesitz. Und öffentlich führen dürfen diese nun 44.000 Menschen in Baden-Württemberg. Rechnet man das auf die rund 6,7 Millionen Personen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren um, hat jeder 150ste möglicherweise eine Waffe bei sich oder ist zumindest berechtigt, im öffentlichen Raum eine solche zu führen. Dazu kommen noch Besitzer anderer Waffenscheine und natürlich alle illegal getragenen Waffen. Bundesweit wurden bislang über 300.000 „kleine Waffenscheine“ ausgestellt.
Bei der Stadt Mannheim kann man bequem den Antrag per Internet herunterladen – und sich selbst einschätzen, ob man „körperlich geeignet“, eine solche Waffe zu führen. Die psychische Eignung spielt scheinbar keine Rolle. Doch das ist nicht Sache der Stadt, sondern von Land und Bund, wie der Vorgang geregelt wird. Die untere Waffenbehörde hat nach den Vorgaben zu handeln.
![waffenschein stadt mannheim ex](https://www.rheinneckarblog.de/files/2016/07/waffenschein-stadt-mannheim-ex.jpg)
Angaben zur Sache, um einen „kleinen Waffenschein“ zu beantragen. Quelle: Stadt Mannheim
Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) kritisiert die frei erhältlichen Schreckschusswaffen seit langem, weil sie in Konfrontationen nicht von echten Waffen zu unterscheiden seien. Auch eine Registrierung der Waffenbesitzer würde nach deren Auffassung keine Entspannung bringen. Das Problem sei, dass weder eine Eignung noch eine Sachkunde tatsächlich geprüft werde.
Ebenfalls eigentlich absurd: Während der größte Teil der Besitzer scharfer Waffen solche Nachweise zu erbringen habe, dürfe nur ein kleiner Teil diese Waffen auch in der Öffentlichkeit „führen“, also bei sich tragen. Für Besitzer von „kleinen Waffenscheinen“ gilt dies nicht. Wie tödlich mitgeführte Schreckschusswaffen sein können, hat die Geiselnahme von Viernheim gezeigt.
Und dass sich immer weniger Waffenbesitzer um Auflagen scheren, konnte man zuletzt bei diversen Autokorsos nach Fußballspielen der EM beobachten, wo vollständig enthemmt mit Schreckschusswaffen herumgeballert worden ist.
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