Rhein-Neckar/Viernheim, 30. Juni 2016. (red/pro) Über die Geiselnahme von Viernheim, bei der der 19-jährige Geiselnehmer am 23. Juni erschossen worden ist, haben wir aktuell berichtet und ergänzende Artikel geliefert, zuletzt am 24. Juni. Veröffentlichte Spekulationen über die Lebensumstände des getöteten jungen Mannes finden Sie im Gegensatz zu anderen Medien bei uns nicht. Aus gutem Grund. Wir haben eine klare journalistische Haltung. Dazu gehört auch die Achtung von Persönlichkeitsrechten, selbst bei – vermeintlichen – Straftätern wägen wir immer ab, was „öffentlich“ von Interesse ist und was nicht.
Kommentar: Hardy Prothmann
Ein junger Mann (19) erscheint am frühen Nachmittag des 23. Juni bewaffnet im Viernheimer Kinopolis. Der Tatverdächtige soll 18 Geiseln genommen haben. Ein Großaufgebot der Polizei sichert das Gelände und der Tatverdächtige wird kurz darauf von Spezialeinsatzkräften (SEK) der Polizei erschossen. Die Staatsanwaltschaft Darmstadt ermittelt.
Mit diesem ersten Absatz sind Sie auf dem Stand der Dinge über die nachrichtenrelevanten Fakten.
„Abartige“ Spekulationen
Fast alle regionalen Medien stürzen sich auf die Geiselnahme von Viernheim, insbesondere eine Mannheimer Lokalzeitung, die allerdings kaum gesicherte Fakten berichten kann, dafür aber umso mehr „spekuliert“.
Alles, was Tageszeitungsredakteuren oder ihren Kollegen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk als „abartig“ erscheint, wird gesammelt, in irgendwelche Zusammenhänge gestellt und als „Sensation“ verbreitet. Und über soziale Netzwerke greifen viele Nutzer alles begierig auf, was von sensationsgeilen Journalisten an privaten Informationen öffentlich verbreitet wird.
Das Wohnhaus des getöteten 19-Jährigen wird ausgekundschaftet, fotografiert und gezeigt. Die Nachbarschaft wird „befragt“. Und jede Menge Details aus dem Privatleben des mutmaßlichen Geiselnehmers werden veröffentlicht. So seine sexuelle Orientierung, die vermeintlichen Familienverhältnisse, „Berichte“ der Nachbarn, Postings bei Facebook, seine Herkunft. Und das alles wird zu einer Soße zusammengerührt, die nach Sensation schreit.
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Selbstverständlich recherchieren auch wir beim Rheinneckarblog – in alle Richtungen. Wir kennen die Facebook-Seite des Getöteten. Wir haben mit vielen Quellen gesprochen und wir haben uns gegen Veröffentlichungen entschieden, weil weder die sexuelle Orientierung, noch die Familienverhältnisse, noch „Interessen“, noch andere vermeintlich „skandalöse Fakten“ nach unserer Einschätzung öffentlich relevant sind.
Das ist Standard bei uns – Recherchen machen wir viele, doch Vieles davon kommt nicht an die Öffentlichkeit, weil es dort nichts zu suchen hat.
Weder die sexuelle Orientierung noch andere Privatheiten sind relevant für diese Tat
Es hat niemanden zu interessieren, welche sexuelle Orientierung der Getötete hatte. Denn es gibt keinerlei Hinweise, dass diese Orientierung irgendetwas mit der Tat zu tun hat. Und auch nicht mit den Geiseln, dem Ort des Geschehens und dem Ablauf.
Es ist vollständig irrelevant, mit welchen Familienmitgliedern der junge Mann welche Schwierigkeiten hatte, weil alle Ergebnisse der Recherchen eben keine öffentliche Relevanz ergeben. Dass sich Eltern mit Kindern streiten, dass sich Paare streiten, dass nicht alles immer eitel Sonnenschein ist, das ist „normal“, kommt in den „besten Familien“ vor.
Und es ist auch vollständig „normal“, wenn sich jemand in ein „Fabelwesen“ verwandelt und sich verkleidet – aktuell erleben wir das bei jedem Fußballspiel, Jahr für Jahr zur Faschingszeit und auf Festivals oder Paraden. Insbesondere ein „federführender“ Redakteur der Mannheimer Lokalzeitung sollte das am Besten wissen, weil er eine Pappnase vor dem Herrn ist. Insbesondere dieser Redakteur ist noch nie durch Spekulationen aufgefallen, ob „Karnevalisten“ möglicherweise als Päderasten überprüft werden müssten, weil sie kleinen Mädchen mit bierseliger Freude gerne in den Schritt gucken.
Vorurteile für Abonnenten
Natürlich schreiben Lokalzeitungen vor allem für ihre Abonnenten, die zunehmend älter und verbiesterter werden – ganz ohne Verkleidung. Für die sind alle „abartig“, die „Ballerspiele“ machen und sich mit Fabelwesen befassen, während sie ihren Enkeln noch vor ein paar Jahren fasziniert „Harry Potter“ vorgelesen haben – auch, wenn diese schon längst eingeschlafen waren. Harry Potter ist Mainstream, also normal, auch wenn es eigentlich nichts anderes ist als „Rocket Raccoon“, worauf der Getötete stand. Diese fiktionale Komikfigur eines hochintelligenten Waschbärs wurde durch den Beatles-Song „Rocky Raccon“ inspiriert und ist Teil der „Guardians of the Galaxy“.
Sporadisch ist der Actionbombast und die Verbeugung vor Genre-Ikone „Star Wars“ etwas zu viel, aber die Effektqualität und der verspielte Ton überzeugen. Gleiches gilt für einen rotzfrechen, sprechenden Waschbären und seinen einsilbigen Baum-Begleiter – Comicneuzugänge, die Publikumslieblinge mit Kultqualität werden könnten,
kündigte das Kinopolis im Sommer 2014 den Film an.
Die Märchen der Gebrüder Grimm waren mal „en vogue“ – durchsetzt von Tod, Elend und Grausamkeiten. Bis heute gelten sie als „Kulturgut“ – bei alten Menschen und Zeitungsredakteuren. Die jüngeren Generationen kennen diese Märchen nicht mehr. Sie kennen andere Stories, die Redakteuren fremd sind und die diese deshalb „abartig“ finden.
Geht es nach den Erwartungshaltungen von „Tageszeitungsjournalisten“, hat man manchmal den Eindruck, dass eigentlich mit der Tat sofort alle Ermittlungen abgeschlossen sind, es mindestens eine, besser zwei „fundierte“ wissenschaftliche Analysen gibt, eine umfangreiche politische Debatte stattgefunden haben muss und ab besten auch das Ergebnis eines eindeutigen Bürgerentscheids vorliegen sollte.
Spekulationen über allen Anstand hinaus
Ist das alles nicht der Fall, ergeht man sich halt in „Rätsel raten“ und „Spekulationen“. Immer hart am Rande der Verletzung von Persönlichkeitsrechten und je wehrloser und „ungefährlicher“ das Opfer, umso mehr darüber hinaus. „Ungefährlich“ meint, nicht prominent, vermutlich kein Anwalt, also Feuer frei. Anstand spielt keine Rolle mehr. Und linke Journalisten sehen in dem jungen Mann bereits einen möglichen Nazi.
Diese Spekulationshysterie sensationsgeiler Journalisten ist widerlich und eklig. Seriöser Journalismus leidet darunter, weil wir für die Verfehlungen von anderen mit „verhaftet“ werden. „Lügenpresse“. „Mainstream-Medien“. „Die Medien“. Das sind wir alles nicht – und werden doch einfach pauschal „mit verurteilt“.
Es wird im Fall des „Geiselnehmers von Viernheim“ kein Urteil geben – weil Tote nicht verurteilt werden können. Jedenfalls nicht vor deutschen Gerichten.
Polizisten sind keine Rambos
Ob der oder die schießenden SEK-Beamten zu Recht gehandelt haben, müssen wir abwarten, dazu laufen die Ermittlungen. Es gibt Überwachungskameras, deren Bilder werden ausgewertet und können möglicherweise sehr genau „Auskunft geben“, wie die Situation vor Ort war.
Uns ist kein „schießwütiger“ Polizist in unserem Berichtsgebiet bekannt und insbesondere SEK-Einheiten sind ebenfalls nicht für unnötige „Ballereien“ bekannt, sondern erledigen selbst komplizierte Zugriffe meist ohne größere Schäden für alle Beteiligten. Diese Menschen sind nicht für das Töten von Menschen trainiert, sondern für das Lösen bedrohlicher Situationen. Polizisten sind keine Rambos.
Der Geiselnehmer von Viernheim war kein Verbrecher. Er war auch kein Terrorist oder Extremist – verschiedene Medien versuchen ihn aber dazu zu machen. „Abartig“, wie man ihm das hinkonstruieren will.
Gewalt im sozialen Nahfeld
Die Mannheimer Polizei hat nach unseren Recherchen ebenfalls keinen Fehler gemacht. Es gab Mitte April einen Vorfall im Haus des Getöteten mit seinem Vater: „Gewalt im sozialen Nahfeld“, nennt das die Polizei. Es kam zu wechselseitigen Körperverletzungen und dem Einsatz von Reizgas. Die Polizei ermittelte gegen beide Beteiligte – das Verfahren dürfte eingestellt werden, weil einer nun tot ist.
Der junge Mann hatte einen „kleinen Waffenschein“. Den kann jeder Bürger beantragen. Wer ihn erhält, darf eine Schreckschusswaffe im öffentlichen Raum tragen. Verdeckt. Selbst bei einer Vorladung auf einem Polizeirevier. So geschehen beim Getöteten, zehn Tage nach der „familiären Gewalt“. Der Besitz solcher Waffen ist generell allen volljährigen Personen erlaubt.
Die Polizei hat die zuständige Behörde bei der Stadt informiert. Inklusive Hinweis, dass der junge Mann „auffällig“ ist. Er kam mit Schreckschusswaffe auf ein Polizeirevier. Er durfte sie tragen. Auch dort. Er hatte den „kleinen Waffenschein“.
Auffällig ist noch längst nicht verdächtig oder gar schuldig
Doch was heißt das? Wie viele „auffällige“ Menschen kennen Sie? Wie viele „Idioten“ haben trotzdem einen Führerschein? Wie viele Chefs sind „unfähig“? Wie viele Mitarbeiter? Wie viele Autofahrer? Wie viele Diskussionsteilnehmer? Wie viele Vereinskameraden?
Keine Frage – der Fall „Geiselnahme Viernheim“ muss geklärt werden. Auch die Frage: Wieso hatte dieser auffällige junge Mann einen „kleinen Waffenschein“? Hier ist allerdings die Stadt Mannheim als „Waffenbehörde“ in der Pflicht, nicht die Polizei. Noch mehr in der Pflicht ist die Politik – hier muss entschieden werden, ob man Gesetze anpasst. Aber selbst schärfere Gesetze werden Menschen nicht davon abhalten, diese zu brechen.
Die Mannheimer Polizei hatte nach dem Vorfall zwischen den streitenden Familienmitgliedern keine „Aktien“ in der Sache. Tatort ist Viernheim, die Staatsanwaltschaft Darmstadt ermittelt und hessische Polizisten haben das Anwesen des Getöteten in Mannheim untersucht. Wie Behörden arbeiten, wissen leider viele Journalisten nicht ansatzweise.
Was, wenn…?
Und man kann weiter fragen: Was, wenn der junge Mann den Waffenschein entzogen bekommen hätte? Hätte das diese Geiselnahme verhindert? Kolportierte Aussagen des Geiselnehmers aus Facebook geben scheinbar Hinweise auf die „Gefährlichkeit“ des jungen Mannes. Als wenn Liebeskummer und Lebensfrust für Menschen dieses Alters irgendwie auffällig wären.
Wichtiger als das aktuelle Wühlen in schmutziger Wäsche ist die generelle Frage, wer Waffen besitzen darf? Schreckschusswaffen darf jeder über 18 Jahre besitzen – das durfte also auch der Geiselnehmer. „Führen in der Öffentlichkeit“ darf man sie nur mit „kleinem Waffenschein“. Das durfte der Geiselnehmer auch, weil er wohl die formalen Kriterien erfüllt hat.
Die entscheidende Frage ist – wieso darf man eigentlich Schreckschusswaffen in der Öffentlichkeit tragen, wenn man einen „kleinen Waffenschein“ hat? Wieso darf man Waffen tragen, die so echt aussehen, als wären es „scharfe“ Waffen? Was soll das? Wo reagiert hier die Politik verantwortlich? Wieso wird das erlaubt?
Diese Fragen stellen Tageszeitungen und öffentlich-rechtliche Sender zum aktuellen Fall nicht.
Nicht-Informationen durch klassische Medien
Die „klassischen“ Medien informieren auch nicht, dass Deutschland trotz der offenen Fragen eines der härtesten Waffengesetze der Welt hat. Und dass im Vergleich zu den USA in Deutschland nur sehr wenige Menschen durch Waffen getötet werden. In den USA kann jeder überall Waffen kaufen – sogar Sturmgewehre. Weit über 34.000 Menschen werden Todesopfer dieser Waffen – Jahr für Jahr. Zum Vergleich: Deutschland hat ein Viertel der Einwohner der USA und liegt statistisch bei rund 150 Schusswaffen-Toten pro Jahr.
Solche zusätzlich recherchierten Informationen würden die sensationsgeilen Stories kaputt machen – deswegen recherchiert man das gar nicht erst oder lässt solche Informationen unter den Tisch fallen.
Der Fall des Geiselnehmers von Viernheim ist kein Fall, den man willenlos ausschlachten muss, wie das gewisse Medien tun.
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Dieser Fall ist tragisch. Es gab möglicherweise viele soziale Probleme. Wie in vielen Familien.
Grundsätzliche Ordnung des Rechtsstaats bei vielen Medien unbekannt
Die Mannheimer Polizei hat nach Auskunft der Behörde ihre Sache ordentlich gemacht. Sie hat gegenüber der Stadt Mannheim Hinweise gegeben, dass der Geiselnehmer möglicherweise nicht geeignet sei, eine Schreckschusswaffe zu führen. Die Stadt muss den Vorfall prüfen und sollte dies offensiv öffentlich kommunizieren.
Die Haltung gewisser Medien zeigt aber auch: Die grundsätzliche Organisation und die Funktionen innerhalb eines Rechtsstaats sind dort oft weitgehend unbekannt. Wir haben Gesetze und Anordnungen, an die sich Behörden zu halten haben. Alles andere wäre Willkür.
Nur weil sich zwei Personen streiten oder sich jemand verkleidet, macht man sich hierzulande zum Glück weder verdächtig noch strafbar. Nur, weil man ein wenig „seltsam“ ist, steht man zum Glück auf keiner Fahndungsliste. Solange keine konkreten Hinweise auf strafbare Handlungen oder deren Vorbereitung vorliegen, hat sich der Staat aus dem Privatleben der Bürger herauszuhalten. Es wäre von Vorteil, wenn das gewisse private Medien gleich täten.
Was aktuell in Sachen „Geiselnahme Viernheim“ passiert, erinnert an die Amokläufe von Winnenden und Erfurt. Allerdings nicht, weil die Geiselnahme und die Amokläufe vergleichbar wären. Sondern weil aggressive Medien verbrannte Erde hinterlassen haben – in ihrer Gier, bis in intimste Bereiche der Menschen einzudringen und jedes noch so unwichtige Detail als vermeintlichen Skandal in die Öffentlichkeit zu zerren.
Niemand muss sich wundern, wenn gewisse Medien dann zeitgleich ebenfalls sensationsgeil vermelden, die Menschen fühlten sich „verunsichert“, wie aktuelle Umfragen ergeben haben sollen.
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