Hamburg/Rhein-Neckar, 30. Juni 2016. (red/ms) Soziale Netzwerke werden in Deutschland inzwischen häufiger als Nachrichtenquelle genutzt als Zeitungen – zumindest laut dem aktuellen Reuters Digital News Report. Klar ist: Die Mediennutzung befindet sich im Wandel. Im Interview mit dem Rheinneckarblog erläutert der Wirtschaftsjournalist Dr. Holger Schmidt mit welchen Entwicklungen zu rechnen ist.
Interview: Minh Schredle
Soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter, Youtube und Co. werden in Deutschland inzwischen häufiger als Nachrichtenquellen genutzt als Zeitungen, vermeldet der aktuelle Reuters Digital News Report. Printmedien verlieren zunehmend Leser, gleichzeitig informieren sich immer mehr Menschen über soziale Netzwerke – 2015 sollen es 31 Prozent der Bevölkerung gewesen sein, ein Zuwachs von sechs Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr. Wie wird sich diese Dynamik Ihrer Einschätzung nach weiterentwickeln?
Dr. Holger Schmidt: Ich glaube, dieser Trend wird sich fortsetzen. Medien stellen ihre Inhalte zunehmend auch über soziale Netzwerke bereit. Die ersten haben schon vor vielen Jahren damit angefangen und inzwischen kann man im Konkurrenzkampf um Reichweite kaum noch darauf verzichten. Die Verbreitung von Artikeln über Facebook und Co. kann die Zugriffszahlen enorm erhöhen. Die Nutzung wird sich also noch weiter in Richtung der Plattformen verstärken. Aktuell gibt es zumindest keinen Trend, der dem entgegensteht.
„Ich sehe nicht, warum das Tempo runter gehen sollte“
Das Tempo ist rasant: Gegenüber dem Vorjahr gaben von den Befragten nur noch 29 Prozent an, Zeitungen zu lesen – das sind neun Prozentpunkte weniger. Internetmedien verzeichnen seit Jahren Zuwachs. Wird es mit dieser Geschwindigkeit weitergehen? Oder ist eine Entschleunigung absehbar?
Schmidt: Im Moment sehe ich nicht, warum das Tempo deutlich runter gehen sollte. Viele Medien stellen fast ihr gesamtes Angebot über soziale Netzwerke zur Verfügung und posten hier einen Großteil ihrer Artikel.
Daher wird sich die Nutzung sozialer Netzwerke als Nachrichtenquelle eher noch intensivieren.
Parallel gibt es in Deutschland gerade einen Trend zu mehr Bezahlschranken: Online-Inhalte können nur noch gegen Geld gelesen werden, dann wird für einzelne Texte gezahlt oder als Digitalabo. Aber das hält Medienhäuser natürlich nicht davon ab, ihre Inhalte trotzdem über soziale Netzwerke zu verbreiten…

Die Ergebnisse der Studie beziehen sich nicht nur auf Deutschland – weltweit wurden dieses Jahr insgesamt 53.330 Personen aus 26 Ländern befragt. Die Studie finden Sie hier.
Soziale Netzwerke wie Facebook arbeiten in aller Regel mit Algorithmen, um Nutzern vor allem die Inhalte anzuzeigen, von denen sie glauben, dass sie sie interessieren würden. Wenn ich einen Beitrag like oder teile, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ich mehr Beiträge dieser Art angezeigt bekomme. Inwiefern beeinflusst das unsere Mediennutzung?
Schmidt: Es kommt dadurch natürlich zu einer Beeinflussung der Wahrnehmung. Über die genauen Funktionsmechanismen dieser Algorithmen wissen wir aber nicht allzu viel, denn die werden in aller Regel geheim gehalten. Was wir aber recht sicher sagen können: Dort wird nicht nach journalistischen Kriterien entschieden, was angezeigt wird. Sondern eher nach Nutzungsverhalten.
Personalisierte Newsstreams
Das bedeutet?
Schmidt: Das Phänomen wird als „Filterbubble“ bezeichnet: Die Netzwerke werten aus, was mir und meinen Freunden gefällt und ob es hierbei Muster gibt: Welche Inhalte teile ich besonders häufig? Wofür vergebe ich Likes? Welche Links klicke ich an? Das wird ausgewertet und dann werden mir mehr Beiträge angezeigt, die in diese Richtung gehen. In Bezug auf Nachrichtennutzung führt das zu einer Verflachung.
Wie meinen Sie das?
Schmidt: Wenn man sich das mal anschaut: Einfache Geschichten, die man mal eben im Vorbeigehen liken kann, finden tendenziell mehr Aufmerksamkeit und Beachtung als umfangreiche Hintergrund-Geschichten, für die man sich richtig Zeit nehmen muss und die höhere Konzentration erfordern. So finden flache Inhalte im Verhältnis mehr Verbreitung. Außerdem führen die Filterbubbles zu Verzerrungen: Dann bekommen wir nämlich hauptsächlich Beiträge angezeigt, die ohnehin schon unserer Meinung entsprechen – die wir dann wiederum eher liken als Beiträge, die unseren Ansichten komplett entgegengesetzt sind, wodurch sich der Effekt der Filterbubble wiederum verstärkt.
Eine Blackbox
Bekomme ich also über soziale Netzwerke nur noch angezeigt, was mir sowieso schon gefällt? Wie stark ist der Effekt der Filterbubble?
Schmidt: Das wissen wir nicht, weil der Algorithmus nicht offengelegt ist. Also bleiben die Aussagen hier ein Stück weit Spekulation. Es gibt immer wieder Gerüchte, dass soziale Netzwerke auch politisch Einfluss nehmen. Erst im Mai hat beispielsweise ein amerikanisches Magazin über ehemalige Facebook-Mitarbeiter berichtet, die behaupten, das Netzwerk würde die Inhalte konservativer Medien eher zurückhalten. Wenn hier gezielt gesteuert wird, wäre das natürlich eine massive Verzerrung der Wahrnehmung. Das sind Behauptungen – handfeste Beweise gibt es bislang aber keine. Der Algorithmus ist eine Blackbox.
Verzerrungen im Unbekannten
Unabhängig davon ist es ja für sich schon ein Problem, wenn man überwiegend nur noch Beiträge angezeigt bekommt, die ins ohnehin schon vorhandene Weltbild passen oder die gefallen sollen. Auch im Fernsehen oder in der Zeitung, allgemein gesagt: im Journalismus, werden Vorauswahlen für die Konsumenten getroffen, allein schon bei der Themenwahl, worüber man berichtet. Aber das scheint ein anderes Ausmaß zu haben…
Schmidt: Natürlich hat jede Redaktion politische Tendenzen. Es gibt eher konservative und eher progressive Blätter – das weiß man in der Regel aber auch als Leser. Wenn man etwa die taz und die FAZ vergleicht, ist jedem Leser klar, dass sich die eine Zeitung eher an das linke Spektrum wendet und die andere eher konservativ zu verorten ist. Wenn es hier Verzerrungen gibt, dann ist das dem Leser meist bewusst. Auf Facebook ist das anders, weil der Nutzer ja meistens nicht weiß, ob es eine politische Absicht hinter einem Beitrag gibt und wenn ja, in welche Richtung die geht. Das steht im Gegensatz zur bewussten Entscheidung: Ich will ein bürgerlich-liberales Blatt oder ein alternatives Medium.
Wenn man statt über soziale Medien über google sucht – was ja ebenfalls eine sehr beliebte Methode ist, um an Informationen zu gelangen – werden einem ebenfalls personalisierte Suchergebnisse vorgelegt. Gibt es dabei nicht die gleichen Probleme? Ist die Filterbubble nicht ein generelles Problem des Internets?
Schmidt: Ich glaube, dass der Effekt der Verzerrung hier nicht ganz so stark ist. Google entscheidet ja nicht danach, was meine Freude teilen, liken und suchen, sondern nur danach, was ich suche. Vermute ich zumindest, denn auch hier sind die Algorithmen unbekannt. Aber ich denke, man kann sagen, dass die Auswahl nach andern Kriterien erfolgt und die Verzerrungseffekte hier insgesamt nicht ganz so stark ausfallen.
Reichweite gegen Abhängigkeit
Über soziale Medien werden auch Inhalte verbreitet, denen nicht immer unbedingt die höchste Glaubwürdigkeit zuzumessen ist. Gleichzeitig ist die Internetnutzung für Medienangebote unverzichtbar. Wenn man sich mit den aktuellen Trends und Entwicklungen auseinandersetzt: Wie muss die Medienwelt reagieren?
Schmidt: Einerseits gibt da einen alten Spruch: Die Medien müssen dort sein, wo die Nutzer sind. Der Zug zu den Plattformen folgt also den Nutzerinteressen, das ist ganz eindeutig so. Andererseits steigt so natürlich die Abhängigkeit von diesen Plattformen. Das ist natürlich auch gefährlich, wenn beispielsweise Facebook – wie gerade jetzt geschehen – den Algorithmus ändert, um weniger Beiträge von Nachrichtenmedien und wieder mehr Posts von persönlichen Freunden im Newsfeed zu zeigen.
„Die Plattform gewinnt immer“ lautet ein Satz in der digitalen Ökonomie. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen Facebook und Verlagen.
Aktuell geben Unternehmen ein Stück ihrer Eigenständigkeit auf und hoffen, dass sich das bezahlt macht. Dabei werden unterschiedliche Strategien verfolgt: Versuche ich als Medium wieder mich als eigene Marke zu stärken und auf kostenpflichtige Inhalte zu setzen. Oder ist mein Ziel die maximale Reichweite? Und wenn ich auf kostenpflichtige Inhalte setze: Will ich dann von wenigen Leuten jeweils viel Geld oder von vielen Leuten wenig Geld. Bis jetzt hat sich hier, auch international, noch kein Königsweg etabliert. Wenn es einen gibt, dann hat ihn noch niemand gefunden.
Rückbesinnung auf Qualität?
Sie haben vorhin eine Verflachung der Inhalte angesprochen, da in sozialen Netzwerken gerne leichte Kost verbreitet wird. Filterbubbles beschränken das Meinungsspektrum. Zeitungen verlieren seit Jahren Leser. Wie ist es vor diesem Hintergrund um die Zukunft des Journalismus bestellt?
Schmidt: Zeitungen sind in einer Krise, weil die Werbung noch schneller als die Leserschaft verschwindet. Ich denke aber nicht, dass Printausgaben bald aussterben, sondern für ein bestimmtes Klientel das Medium der Wahl bleiben. Und ich hoffe darauf, dass im Journalismus wieder eine Rückbesinnung auf Qualität stattfindet.
Im Moment habe ich ein bisschen das Gefühl, wenn man sieht, was in sozialen Netzen bevorzugt geteilt wird, dass in vielen Debatten inhaltlich nur an der Oberfläche gekratzt wird und das sehe ich mit Sorge.
Aus der Sicht des Journalisten hoffe ich, dass hier bald eine Wende kommt – auch in der Mentalität der Konsumenten. Teils konnten wir das in junger Vergangenheit bei Filmen oder Serien sehen: Hier sind viele Nutzer bereit, für ein Angebot wie Netflix acht Euro im Monat zu bezahlen. Bei der Musik ist es mit Spotify so ähnlich. Bei Nachrichten haben wir das bis jetzt noch nicht gesehen. Aber ich hoffe wirklich, dass wir den Rückschlag des Pendels vom Nachrichtenfastfood zurück zum Qualitätsjournalismus, der eben auch ein bisschen Geld kostet, bald erleben werden.
Zur Person:
Dr. Holger Schmidt ist Journalist und studierte Volkswirtschafts-lehre. Er hat 14 Jahre lang für die FAZ geschrieben, heute ist er Chefkorrespondent mit Schwerpunkt Internet für den Focus.
Dr. Schmidt ist außerdem Dozent an der Technischen Universität Darmstadt (FB Wirtschaftsinformatik) und an der Hamburg Media School (Medienökonomie).