Ludwigshafen, 25. November 2015. (red/cr) Woher kommt eigentlich mein Sitznachbar, und warum? Ob mit oder ohne Migrationshintergrund, ein Jahr lang haben sich Schüler der Berufsbildenden Schule Technik 1 Ludwigshafen mit Migrationsgeschichten auseinandergesetzt. Und zwar nicht als theoretischem Unterrichtsthema. Unter dem Titel “migrostories” haben sie sich gegenseitig interviewt und nachgefragt. Das Ergebnis ist ein Film, der am Freitag im Stadtmuseum von Ludwigshafen vorgestellt wurde. Auf dem offenen Kanal Ludwigshafen wird er am kommenden Freitag noch einmal zu sehen sein.
Von Christin Rudolph
Woher kommt eigentlich mein Mitschüler – und warum ist er jetzt hier in Ludwigshafen? Was habe ich damit zu tun? Und kann man nicht auch statt einem Migrationshintergrund einen Migrationsvordergrund haben?
Diese und andere Fragen haben 17 Schüler der Berufsbildenden Schule Technik 1 Ludwigshafen filmisch ungesetzt. Ein Jahr lang haben sie konzipiert, geplant, geübt, Fragen gestellt und alles schließlich an einem einzigen Tag gedreht.
Ihren Film “migrostories” stellten sie am Freitag im Stadtmuseum von Ludwigshafen vor. Auf dem Offenen Kanal Ludwigshafen wird er am kommenden Freitag noch einmal zu sehen sein. Zusätzlich gibt es eine DVD und eine Broschüre.
Starke Partner für starken Film
Ermöglicht wird migrostories durch das bundesweite Programm “Mein Land – Zeit für Zukunft” der Türkischen Gemeinde in Deutschland und durch die Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Rahmen von “Kultur macht stark – Bündnisse für Bildung”.
So konnten sich der Freundeskreis Ludwigshafen Gaziantep e.V., der Freundeskreis Stadtmuseum Ludwigshafen e.V. und die berufbildende Schule Technik 1 Ludwigshafen zu einem “Bündnis für Bildung” zusammenschließen und so schon das erste migrostories-Projekt 2014 unterstützen.
Guter “Technikhintergrund”
Die Berufsbildende Schule Technik 1 ist Teil des Georg-Kerschensteiner-Berufsbildungszentrums in Ludwigshafen und umfasst die Bereiche Metalltechnik, Elektrotechnik und Informationstechnik. Die Schule gliedert sich in eine Berufsschule, eine Berufsoberschule, eine Fachschule und ein berufliches Gymnasium. Die 17 Projektteilnehmer sind alle Schüler des beruflichen Gymnasiums.
Projektleiter ist Mario Di Carlo, Teil des Teams von medien+bildung.com, die Medienprojekte an Bildungseinrichtungen in Rheinland-Pfalz technisch und medienpädagogisch unterstützen. Zusätzlich begleiteten zwei Lehrerinnnen des beruflichen Gymnasiums das Projekt.
Eigenständige Weiterentwicklung
“Beim ersten migrostories-Projekt 2014 wurden Migrationsgeschichten anders aufgegriffen”, erzählte Omar Ali, der in beiden Jahren beim Projekt mitgearbeitet hat.
Letztes Jahr ging es um Migrationsgeschichten zwischen Ludwigshafen und Gaziantep. Was ist die Heimat? Dort in Südostanatolien oder hier?
Gaziantep ist die türkische Partnerstadt von Ludwigshafen. Durch die Kooperation mit dem Freundeskreis Ludwigshafen Gaziantep e.V. war so das Thema den Schülern vorgegeben. 2015 nahmen sie hingegen sehr viel selbst in die Hand. Von der Idee zur Konzeption bis zur Durchführung haben sie so viel selbst erarbeitet und organisiert, dass die Betreuer in diesem Jahr eher ein eigenständiges Schüler-Projekt begeleiteten.
Individuelle Geschichten
Sogar diese Abschlussveranstaltung hier haben sie selbst organisiert!
Hans-Uwe Daumann ist beeindruckt und freute sich, dass die Fortsetzung des Projekt-Formats für die nächsten zwei Jahre gesichert ist. Herr Daumann ist der Geschäftsführer von medien+bildung.com und Mitglied des Freundeskreises Ludwigshafen Gaziantep e.V., der auch dieses Jahr wieder das Projekt unterstützt. Das Projekt dieses Jahr den individuellen Migrationsgeschichten der Mitschüler zu widmen sei naheliegend gewesen, so Projektteilnehmer Omar Ali:
Denn in unserer Schule gibt es über 40 verschiedene Nationalitäten. Jeder hat seine eigene Migrationsgeschichte. Ofelia zum Beispiel ist Ossi.
Er deutet auf seine Mitschülerin Ofelia Bachmann, die ebenfalls moderiert. Viele der 17 Teilnehmer können einen Migrationshintergrund vorweisen. Manche aber auch nicht, damit niemand vom Projekt ausgeschlossen ist – und die Perspektive derer nicht verloren geht, die keine solche Migrationserfahrung erzählen können.
Stimmt, was sagen eigentlich die ganzen Deutschen dazu? – Ja, das können wir ja nächstes Jahr machen!
Die Moderatoren schienen am Ende der Projektarbeit noch genauso begeistert von Thema zu sein wie am ersten Tag. Für sie ging es bei der Arbeit an dem Projekt nicht nur um das direkte Thema “Migration”. Sie als Schüler eines technischen Gymnasiums hatten die Möglichkeit, vor aber vor allem hinter der Kamera an einem Film zu arbeiten. Die verschiedenen technischen Aspekte beschrieben die Schüler als größte Herausforderung. Birgitt Booz, eine der betreuenden Lehrerinnen, zog eine sehr positive Bilanz.
An unserer Schule wachsen die Kulturen zusammen. Und die Projektarbeit verändert die Teilnehmer.
In ihrem Grußwort fasst die Integrationsbeauftragte der Stadt Ludwigshafen, Hannele Jalonen die Situation in Ludwigshafen zusammen. Es sei nicht ungewöhnlich, Nachbarn mit Migrationshintergrund zu haben.
Ludwigshafen ist ein gutes Beispiel für ein gelingendes Zusammenleben.
Außerdem stabilisiere die Einwanderung die Gesellschaft in Hinblick auf den demografischen Wandel. Auch deshalb sei migrostories ein wichtiges Projekt, bei dem die Jugendlichen ihre Integration und auch den Heimatbegriff reflektieren. Sie selbst sei Finnin. Dazu merkte Frau Jalonen an, dass Heimat ins Finnische und zurück ins Deutsche übersetzt “Zuhauseland” bedeutet.
Dazu kann ich nur sagen: Ich selbst habe zwei Zuhauseländer.
Schüler fragen Schüler
Zu Beginn des 48-minütigen Films wird die Schule kurz vorgestellt. Aussagen von Lehrern stellen den Bezug zum Thema Migartion her. Auch wird auf ein Theaterstück verwiesen, das im Rahmen einer Schultheaterwoche der Jahrgangstufe 12 im Sommer aufgeführt wurde.
Das Stück „Flucht über das Meer“ handelt, wie der Name vermuten lässt, von der Flucht über das Mittelmeer. Es spielten Schüler mit und ohne Migartionshintergrund mit und sogar Schüler, die selbst nach Deutschland geflüchtet sind.
Der Hauptteil des Films besteht aus Interviews. Drei Moderatoren interviewen ihre Mitschüler zu ihren individuellen Geschichten. Bahram Teymouri zum Beispiel. Bei der Machtübernahme der Taliban flohen seine Eltern mit ihm aus Afghanistan in den Iran.
Dort war er neun Jahre lang. “Allerdings durften Ausländer nicht zur Schule gehen”, erzählt er, und so kam seine Familie nach Deutschland.
Wurzeln nicht vergessen
Der Anfang war hart, in den ersten zwei Monaten in Deutschland hat er nichts anderes getan als Deutsch zu lernen. Inzwischen ist er froh hier zu sein, besonders gut findet er an Deutschland die vielen Freizeitmöglichkeiten und Vereine.
Ich bin angekommen, wo ich hinwollte. Also zum Abi.
Nach dem Abschluss will er Bauingenieurwesen studieren, sich selbstständig machen und parallel in Deutschland und in Afghanistan arbeiten. Afghanistan brauche schließlich viel Hilfe beim Wiederaufbau der Kriegsschäden.
Deutschland und Afghanistan haben mir etwas gegeben, das will ich zurückgeben.
Leben in zwei Ländern gleichzeitig
Eine ganz andere Geschichte erzählt Sergaj Necaev im Film. Er stammt aus Russland, als Sohn eines Russen und einer in Russland lebenden Deutschen hat er die doppelte Staatsbürgerschaft – und ist immer hin- und hergerissen zwischen den zwei Ländern. Seine Verwandeten teilen sich auf beide Länder auf, mit seinen Eltern wechselte er den Wohnort ständig von einem Land zum anderen und zurück.
Er ist jetzt in Deutschland, um seinen Abschluss an einem deutschen Gymnasium mit sehr viel Praxisbezug zu machen. Auch Praktika zu bekommen sei in Deutschland viel leichter. Man sieht ihm aber an, dass er diese Möglichkeiten lieber in Russland hätte. Er gibt zu:
Eigentlich wäre ich lieber in Russand, weil dort meine ganzen Freunde sind.
Am Ende des Films, gewissermaßen als Zusammenfassung steht ein Gedicht von Omar Ali.
…deutscher als die meisten Ausländer / Ausländischer als die meisten Deutschen / Nichts Halbes und nichts Ganzes
Er ringt teils ernst, meist aber mit viel Selbstironie um seine Identität. Sein Fazit – er ist einfach ein Mensch, unabhängig von einer Nationalität.