Edingen-Neckarhausen, 11. September 2015. (red/ms) Es gibt wohl kein Thema, das die Menschen zur Zeit mehr bewegt als Flüchtlinge – so auch in Edingen-Neckarhausen: Hier leben seit dem 10. September 58 Asylbewerber. Dazu fand noch am selben Tag eine Bürgerinformation statt. Der Andrang war gewaltig. Doch statt fremdenfeindliche Stammtisch-Parolen zu skandieren, wie es auf solchen Veranstaltungen häufig vorkommt, zeigten sich die Bürgerinnen und Bürger von Edingen-Neckarhausen als hilfsbereit und weltoffen.
Von Minh Schredle
Die Kapazitätsgrenzen im Bürgersaal des Edinger Rathauses sind nicht nur ausgereizt – sie sind überlastet.
Es sind nicht nur alle Stühle belegt. Es stehen nicht nur etliche Menschen dicht gedränt im Raum verteilt. Es sitzen nicht nur Menschen auf dem Boden. Sogar draußen, vor der Tür des Saals, warten noch Einige, die zwar nicht sehen können, was sich im Innern abspielt, aber zumindest hören wollen, was das “Bündnis für Flüchtlingshilfe Edingen-Neckarhausen” zu sagen hat.
Insgesamt sind fast 300 Bürgerinnen und Bürger der 14.000 Einwohner-Gemeinde anwesend – so einen gewaltigen Andrang dürfte das Rathaus im Ortsteil Edingen schon lange nicht mehr erlebt haben. Auch das verdeutlicht, wie sehr das Thema “Flüchtlinge” die Bevölkerung bewegt.
Seit dem 10. September leben auch in Edingen-Neckarhausen Asylbewerber – noch am gleichen Abend findet dazu eine Informationsveranstaltung für die Bürgerinnen und Bürger statt.
Veranstaltungen dieser Art dienen oftmals “besorgten Bürgern” als Plattform, um ihre diffusen Ängste und fremdenfeindlichen Parolen loszuwerden. Davon war in Edingen-Neckarhausen gestern kaum etwas zu erleben. Und das lag unter anderem auch an der hervorragenden Moderation, geleitet durch Silke Buschulte-Ding vom Bündnis für Flüchtlingshilfe.
Weltoffenheit zeigen
Dafür, dass so viele Menschen im Bürgersaal versammelt sind, ist es auffällig ruhig, als Bürgermeister Roland Marsch seine Eröffnungsansprache hält.
Er findet gleich zu Beginn deutliche Worte. Die Unterbringung von Flüchtlingen betreffe jeden Einzelnen – und dem müsse man sich stellen:
Wegducken ist nicht – Verantwortung ist gefragt.
Und Verantwortung heiße auch, die Asylbewerber nicht einfach nur unterzubringen und zu verwalten:
Wir wollen die neuen Einwohner in unsere Gesellschaft integrieren.
Niemand werde zum Helfen gezwungen. Man dürfe diskutieren. Man dürfe unterschiedliche Standpunkte haben. Man dürfe Kritik und Ängste äußern – “aber bitte konstruktiv”. Und:
Zeigen wir uns als weltoffene Gemeinde.
Für die Worte des Bürgermeisters gibt es Beifall. Ein großer Teil im Publikum wirkt aufgeschlossen, die Asylbewerber willkommen zu heißen. Doch sehr viele sitzen mit verschränkten Armen da und wirken mindestens skeptisch.
Konzentriertes Publikum
Dann übernimmt Silke Buschulte-Ding die Moderation. Zu Beginn erklärte sie, man wolle einen offenen Dialog mit der Bevölkerung suchen, statt einen Frontalvortrag zu halten. Tatsächlich dauerte es eine ganze Weile, bis die ersten Bürgerinnen und Bürger zu Wort kamen: Zuerst sind Hintergrundinformationen geliefert worden – etwa 1,5 Stunden lang.
Nach 30 Minuten fangen die ersten Zuschauer an zu murmeln. Nach einer guten Stunde wird das Hintergrundrauschen deutlich lauter. Doch der Großteil bleibt nach wie vor konzentriert, aufmerksam und nachdenklich. Auffällig ist: Fast alle Besucher bleiben bis zum Ende.
“Wann würden Sie Ihre Heimat verlassen?”
Frau Buschulte-Ding erwähnt, dass weltweit aktuell etwa 60 Millionen Menschen auf der Flucht wären – das entspreche einem von 122 Menschen.
Nicht immer könnten Asylanträge bewilligt werden. Nicht immer liege eine tatsächliche politische Verfolgung vor – aber immer “totale Perspektivlosigkeit in der Heimat”:
Bevor Sie über irgendjemanden urteilen, bitte stellen Sie sich selbst die Frage: Was müsste passieren, damit Sie Ihre Heimat verlassen?
Außerdem thematisierte Frau Buschulte-Ding den Vorwurf des “Asylbetrugs”:
Ist jemand ein Baubetrüger, weil sein Bauantrag abgelehnt wird? Ist jemand ein Subventionsbetrüger, weil sein Subventionsantrag abgelehnt wird?
Diese Vergleiche hinken allerdings ein wenig. Denn bevor über einen Bau- oder Subventionsantrag entschieden wird, werden im Gegensatz zum Asylverfahren keine Leistungen ausgezahlt.
Was die Vergleiche allerdings verdeutlichen: Das deutsche Recht eröffnet jedem die Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen – und es ist unabhängig von den Aussichten auf Erfolg völlig legal, diese Möglichkeit zu nutzen.
Überforderung ersichtlich
Auf den Vortrag von Frau Buschulte-Ding folgt eine kurze Diskussionsrunde. Neben Vertretern des Bündnis für Flüchtlingshilfe und zwei Sozialpädagogen ist auch Stefan Becker vom Landratsamt Rhein-Neckar anwesend.
Herr Becker ist Leiter des Ordnungsamts Rhein-Neckar, das unter anderem für die Unterbringung von Asylbewerbern zuständig ist. Laut Herrn Becker sei das eigentlich nur eines von sechs Referaten, für das er zuständig sei – doch mache im Moment gefühlte 99,9 Prozent seiner Arbeit aus.
_____________________
Lesetipp: Das Flüchtlingslager in Sinsheim wird am Montag aufgelöst
“Regierungspräsidium planlos – wohin mit 1.500 Menschen?”
_____________________
Der Rhein-Neckar-Kreis nehme laut Herrn Becker 5,65 Prozent der Asylbewerber auf, die in den Landeserstaufnahmestellen (LEA) Baden-Württembergs registriert werden. Das entspreche aktuell mehr als 600 Menschen im Monat. Dazu sagt Herr Becker:
Das sind Zahlen, bei denen wir leider nicht mehr allen eine ordentliche Unterkunft gewährleisten können.
Ohne ehrenamtliche Helfer wäre man “aufgeschmissen”. Doch im Rhein-Neckar-Kreis gebe es einen hohen Rückhalt in der Bevölkerung: Etwa 1.500 ehrenamtliche Helfer sind nach Angaben von Herrn Becker registriert.
“Überall geht es drunter und drüber”
Die ansteigenden Flüchtlingszahlen würden die Politik nichtsdestotrotz vor große Herausforderungen stellen – überall gehe es “drunter und drüber”. Dabei komme es zu erheblichen Verzögerungen im Asylverfahren.
Es komme laut Herrn Becker immer häufiger vor, dass Flüchtlinge von den LEAs auf Kommunen verteilt werden, noch bevor sie ihr ersten Interview geführt haben und sogar noch bevor sie überhaupt erst einen Asylantrag stellen konnten.
Es gibt durchaus Menschen, die schon seit über 12 Monaten hier in Deutschland sind und noch nicht interviewt worden sind. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) stapeln sich zur Zeit außerdem um die 270.000 unbearbeitete Anträge.
Das BAMF suche derzeit um die 2.000 Interviewer. Und nicht nur hier mangle es an Personal: Auch bei Sozialarbeitern gebe es bundesweit einen Engpass. Es sei quasi unmöglich, hier vorausschauend zu planen, sagt Herr Becker:
Die andauernd nach oben korrigierten Prognosen bei den Flüchtlingszahlen werfen jegliche Personalplanung völlig über den Haufen.
Im Rhein-Neckar-Kreis wären aktuell knapp 1.600 Menschen in regulären Gemeinschaftsunterkünften untergebracht, etwa 900 in Wohnungen und um die 460 Menschen in “Notunterkünften” – also zweckentfremdeten Turn- und Lagerhallen. Man habe darauf geachtet, nur alleinstehende Männer und keine Familien in diesen Notunterkünften unterzubringen.
Neue Familien
In Edingen-Neckarhausen sind am 10. September 58 Asylbewerber angekommen. Darunter keine alleinstehenden Männer, sondern ausschließlich Familien. Sie kommen aus Serbien, Albanien, Syrien, dem Irak und der russischen Föderation. Sie wohnen in der Gerberstraße im Gewerbegebiet.
Unter den Asylbewerbern sind acht Kinder im Kindergarten- und 16 Kinder im Grundschul-Alter. Für sie suche das Bündnis für Flüchtlingshilfe aktuell nach Spielsachen, sagt Uwe Wetz, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Gemeinderat Edingen-Neckarhausen.
Herr Wetz erwähnt, dass man auf Sachspenden angewiesen sei. Man wolle allerdings zunächst den konkreten Bedarf bei den Asylbewerbern ermitteln und dann eine Liste veröffentlichen, was benötigt wird. Diese wolle man in regelmäßigen Abständen über die Homepage der Gemeinde – Edingen-Neckarhausen.de – und im Mitteilungsblatt aktualisieren.
Dietrich Herold, Sprecher des Bündnis für Flüchtlinge, Gemeinderat und Kreisrat für die FDP, zeigt sich zuversichtlich, dass die Unterbringung gut gelingen wird und sagt:
Das Bündnis ist erst wenige Monate alt – und trotzdem haben wir schon um die 100 Helfer.
Dafür applaudieren die meisten der Anwesenden. Auch das macht deutlich, wie groß die Hilfsbereitschaft in Edingen-Neckarhausen sehr groß ist – davon können sich nach meiner Meinung andere Gemeinden, auch im Umkreis, gerne etwas abschneiden.
_____________________
Lesetipp: In Schriesheim werden Asylsuchende schon vor Ankunft vorverurteilt
“Wir sehen Flüchtlinge als lästiges Ärgernis”
_____________________
Als die Fragerunde eröffnet wird, erkundigen sich die Allermeisten nur nach weiteren Details, wie und wo sie helfen können. Dann – wie sollte es auch anders sein, meldet sich ein “besorgter Bürger” zu Wort.
Er faselt irgendetwas davon, dass Schweden mal eines der sichersten Länder der Erde gewesen sei und – nachdem man dort Asylanten aufnehme – Vergewaltigungen an der Tagesordnung seien.
Tatsächlich ist die Anzahl der Sexualdelikte in Schweden besorgniserregend hoch – aber schon lange bevor seit 2013 die Flüchtlingszahlen drastisch angestiegen sind.
“Besorgte Bürger” gibt es überall
Auf jeder Bürgerveranstaltung gibt es mindestens einen dieser “besorgten Bürger”, die die Stimmung gegen Asylbewerber aufheizen wollen – das kann man keiner Gemeinde zum Vorwurf machen. Viel spannender ist, wie die Mehrheit der Anwesenden damit umgeht.
In Schwetzingen und Weinheim wurde auf Bürgerinfos für offene Fremdenfeindlichkeit applaudiert – in Edingen-Neckarhausen wurde der “besorgte Bürger” ausgepfiffen.
“Vielleicht sind die ja gar nicht so übel”
Nicht alle Anwesenden erschienen zu Beginn der Veranstaltung überzeugt, dass eine Flüchtlingsunterbringung auch reibungslos verlaufen kann – fast alle schienen am Ende entschlossen, die neuen Einwohner willkommen zu heißen.
Sinnbildlich dafür die folgende Szene: Im Publikum sitzt ein älterer Herr mit Schnauzbart. Lange Zeit hatte er seine Arme verschränkt und wirkte sehr skeptisch. Manchmal schüttelte er den Kopf, manchmal schnaubte er auf – zum Ende hin lockert sich seine Haltung, er kratzt sich am Kopf. Und schließlich sagt er:
Naja. Man könnte ja schon mal ein gemeinsames Grillfest veranstalten. Vielleicht sind die ja gar nicht so übel.