Von Alexandra Weichbrodt
Die Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers (PwC) hat für ihre Studie „112 – und niemand hilft“ 2,5 Millionen Arbeitsplätze untersucht und 40 Millionen Datensätze zu Arbeitsmarkt, Altersstruktur und Ausbildungsentwicklung analysiert. Mit dem Ergebnis, dass bereits 2020 rund 33.000 Vollzeitstellen in medizinischen Berufen unbesetzt sind. Zehn Jahre später, 2030, fehlen sogar 76.000 ausgebildete Arbeitnehmer.
Noch dramatischer klingen die Zahlen im Pflegebereich. Hier mangelt es im Jahr 2020 an 212.000 Vollzeitkräften, 2030 dann bereits an knapp 328.000. Damit wären 2030 fast 18 Prozent der benötigten Stellen nicht besetzt. Zum Vergleich: 2011 lag diese Quote bei rund acht Prozent.
PwC kommt in seiner Studie zu der Erkenntnis, dass die Nachfrage nach Gesundheits- und Pflegeleistungen aufgrund der Alterung unserer Bevölkerung erheblich steigen wird, das Arbeitskräfteangebot unter den gegebenen Bedingungen jedoch weit dahinter zurück bleibt. Konsequenz: Ein eklatanter Mangel an Arbeitskräften.
Auch Baden-Württemberg geht das Personal aus
Davon bleibt auch das Gesundheits- und Pflegewesen in Baden-Württemberg nicht verschont. Es mangelt in Baden-Württemberg bereits jetzt vor allem an Altenpflegehelfern und Altenpflegern und Allgemeinmedizinern. Dicht gefolgt von HNO-Ärzten und Augenärzten.
Bis 2030 steigt die Zahl nicht besetzter allgemeinmedizinischer Stellen von 2.700 auf 6.700. Besonders drastisch ist dieser Mangel bei den Fachärzten. Fehlten hier 2012 noch 100 Fachkräfte, werden es bis 2030 etwa 4.300 sein.
Ein ähnliches Bild bei den Pflegekräften im Gesundheitswesen. Derzeit fehlen rund 15.500 Angestellte im Gesundheitswesen. Bis 2030 verdoppelt sich diese Anzahl fast: 28.700 offene Stellen würde es geben. Noch dramatischer ist die Entwicklung in der Pflegewirtschaft. Von 1.800 nicht vorhandenen Kräften im Jahr 2011, steigert sich diese Zahl bis zum Jahr 2030 auf 22.900.
Rheinland-Pfalz besonders stark betroffen
Der Fachkräftemangel ist regional differenziert. Baden-Württemberg liegt im Landesvergleich im Durchschnitt. Im Vergleich werden Brandenburg und Rheinland-Pfalz von der Lücke zwischen Nachfrage und Angebot demnach am heftigsten unter dem Personalmangel der Zukunft leiden. Im Jahr 2030 könnten dort jeweils 28 Prozent der nachgefragten Stellen nicht adäquat besetzt werden, so die Schätzungen der Studie.
In Rheinland-Pfalz liegt der Ursprung dafür in der besonders ungünstigen demografischen Entwicklung. Die Bevölkerung von über 65 Jahren wird in Rheinland-Pfalz zwischen 2011 und 2030 um 64 Prozent zunehmen, während der Bundesdurchschnitt „nur“ um 32 Prozent wachsen wird, heißt es in der Studie. Entsprechend steige der Personalbedarf im Gesundheits- und Pflegewesen überdurchschnittlich an.
Fehlende Attraktivität der Berufe im Gesundheitswesen
Neben den demografischen Veränderungen sind es aber vor allem die Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen, die für diese schlechte Entwicklung verantwortlich sind. Häufig sind unattraktive Arbeitsbedingungen die Ursache dafür, dass ausgebildete Fachkräfte das Berufsfeld aufgeben oder wechseln.
So kommt die Studie auch zu der Erkenntnis, dass fast jeder vierte Arzt die ärztliche Tätigkeit früher oder später aufgebe. Viele Absolventen verzichten gar gleich auf eine Weiterbildung zum Facharzt und streben stattdessen gleich eine Karriere in der Wirtschaft oder Verwaltung an, beispielsweise bei Pharmaunternehmen oder Beratungsgesellschaften.
Vor allem im Pflegebereich sind die Anforderungen an Physis und Psyche besonders hoch. Durch die Nicht-Integration der Pflege in ärztliche Entscheidungen kombiniert mit einer als nicht angemessen wahrgenommenen Vergütung haben als Konsequenz, dass beispielsweise Krankenpfleger durchschnittlich nach zwölf und Altenpfleger nach rund acht Jahren den Beruf dauerhaft aufgeben – Identifikation mit der Arbeit und Bezahlung derselben passen nicht zusammen.
Hohe Arbeitsbelastung führt zum frühen Ausscheiden
Durch Schichtdienst klagen zudem viele, meist weibliche Fachkräfte, über eine schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Um mehr Fachpersonal im Gesundheitswesen zu halten, müssen bessere und flexiblere Kinderbetreuungsangebote geschaffen werden.
Den Fachkräftemangel in der Branche über Zuwanderung zu lösen, halten die Autoren der Studie für nicht realistisch. Das Interesse an Deutschland sei bei den ausländischen Fachkräften nicht ausreichend. Unabhängig davon gibt es besonders in den neuen Bundesländern viele ausländische Pflegekräfte.
Die Studie “112 – und niemand hilft” beinhaltet aber auch ein “optimistisches Szenario”. Diese sei zwar nur “unter erheblichen Anstrengungen” zu erreichen, könnte aber zu einem fast ausgeglichenem Verhältnis von Fachkräfteangebot und -nachfrage im Jahr 2030 führen.
Situation aber keinesfalls aussichtslos
Dazu müsste es Deutschland nur gelingen erheblich mehr Fachkräfte in eine Vollzeitanstellung zu bringen. Um rund zehn Prozent “Vollzeitquote” müssten alle Berufsgruppen steigen. Ein Angebot, welches vor allem von den Arbeitgebern geschaffen werden muss.
Aber auch der Arbeitnehmer sollte sich der Verantwortung bewusst werden und bereit sein, das Renteneintrittsalter um zwei Jahre zu verschieben sowie die Netto-Jahresarbeitszeit um etwa 20 Prozent steigern. Dies würde eine Wochenarbeitszeit von 49 Stunden oder die Einführung der Sechs-Tage-Arbeitswoche bedeuten. Nach unseren Recherchen ist sogar diese Zahl „schön“ gerechnet, denn die durchschnittliche Arbeitszeit vieler Ärzte beträgt heute schon deutlich über 50 Stunden in der Woche.
Es müssen aber auch Wege gefunden werden, ausgebildete Ärzte und Pflegekräfte, die nicht mehr im angelernten Beruf tätig sind, wieder für „ihren“ Beruf zu begeistern. Dies hat viel mit Ansehen, Anerkennung und Motivation zu tun. Auch ist es wichtig, das Fachkräftepotenzial in Gesundheitswesen und Pflegewirtschaft nachhaltig besser auszuschöpfen.
Enorme Herausforderung für die Politik
Die Auswirkungen der demographischen Entwicklung und der Alterung der Gesellschaft stellen Gesundheitswesen, Sozialsysteme und Politik vor enorme Herausforderungen. Auch andere Branchen befürchten oder haben bereits Fachkräftemangel und ergreifen Maßnahmen zur Nachwuchsgewinnung. Dies führt zu einer starken Konkurrenz auf dem Ausbildungsanbietermarkt.
Die Pflegeberufe und sozialen Berufe müssen im Wettbewerb mit Ausbildungsberufen in Handwerk, Industrie, Handel und Verwaltung bestehen. Zur Sicherung des künftigen Pflegekräftebedarfs müssen genügend Ausbildungsplätze in der Altenpflege angeboten werden. Daher hat die Landesregierung beschlossen, die Ausbildungsumlage in der Altenpflegeausbildung fortzuführen, um so zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben einen Kostenausgleich herzustellen.
„Pflegekräfte werden überall gesucht.“
Das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren Baden-Württemberg reagiert auf den drohenden Fachkräftemangel mit der Kampagne „Vom Fach – Für Menschen. Pflege- und Sozialberufe in Baden-Württemberg“.
Wir brauchen dringend mehr Kräfte in den Pflegeberufen, sozialen und hauswirtschaftlichen Berufen. Sie sorgen für die Pflege und Betreuung von Menschen und leisten so für unsere Gesellschaft einen unverzichtbaren Beitrag,
so Sozialministerin Katrin Altpeter.
Die Regierungskoalition habe sich zum Ziel gesetzt, Maßnahmen zu ergreifen, um dem Pflegekräftemangel zu begegnen, die Attraktivität der Pflege insgesamt zu steigern und auf eine neue gesellschaftliche Anerkennung der Pflege hinzuwirken. Die Informations- und Werbekampagne sei dafür ein wichtiger Baustein, so die Ministerin.
“Pflegeberuf krisensicher und zukunftsfest.”
Die Kampagne richtet sich nach den Worten von Altpeter an Schulabgänger und an Personen, die nach einer Familienphase, nach Arbeitslosigkeit oder beruflicher Umorientierung vor der Entscheidung einer (neuen) Berufswahl stehen. Es würden auch gezielt in Baden-Württemberg lebende Menschen mit Migrationshintergrund angesprochen. In Pflege und Betreuung sei diese Gruppe bisher unterproportional vertreten, obwohl die Zahl der älteren Migrantinnen und Migranten, die Hilfe benötigten, mehr und mehr zunehme, so die Ministerin.
Wir brauchen in unserer Gesellschaft ein neues Bewusstsein dafür, welch‘ hohe gesellschaftliche Bedeutung die Pflege- und sozialen Berufe haben und welche vielfältigen Perspektiven sie bieten.
So könnten in Baden-Württemberg alle, die sich für eine Tätigkeit in der Pflege oder Betreuung interessieren, entsprechend ihrer Qualifikation in einen dieser Berufe einsteigen und sich weiterqualifizieren.
Chance: Homogene Fachkräfteverteilung
„Pflegefachkräfte werden überall gesucht“, so die Ministerin. „Ihr Arbeitsplatz ist krisensicher und zukunftsfest, die Arbeit anspruchsvoll und sie verlangt Eigenverantwortung und Selbständigkeit.“ Gerade junge Menschen hätten aber auch eine gewisse Scheu vor der Begegnung mit Krankheit, Gebrechlichkeit und Behinderung. Diese Hemmung abzubauen sei eines der Ziele der Kampagne.
Für Baden-Württemberg könnte außerdem die Möglichkeit bestehen, Fachärzte durch ein attraktives Umfeld aus Nachbarregionen wie Bayern, dem Saarland oder der Schweiz abzuwerben und im Umkehrschluss die Abwanderung dorthin zu vermeiden. Auch sind Ausbildungskooperationen mit anderen Bundesländern denkbar, um eine homogene Verteilung der Fachkräfte zu gewährleisten. So bildet beispielsweise das Saarland deutlich über Bedarf aus.