Mannheim/Rhein-Neckar, 27. November 2015. (red/ms) Hans-Olaf Henkel meint, das Land und seine Bevölkerung wären kollektiv am Helfersyndrom und an Shizophrenie erkrankt. Also will der Ökonom therapieren und sein Rezept heißt ALFA. Die Partei will er im Mannheimer Schloss als die „Alternative für Anständige“ anpreisen – polemische Ausfälle kratzen an diesem Image.
Von Minh Schredle
Künftige Historiker werden sicher mit großem Interesse das politische Deutschland der Gegenwart erforschen – und ganz besonders die Veränderungen in der Parteienlandschaft. Weg von den Volksparteien, hin zu Parlamenten mit fünf, sechs oder sogar sieben Fraktionen.
Parteigründungen sind in Mode. Manche erleben einen kometenhaften Aufstieg – um schnell und klanglos wieder in der politischen Bedeutungslosigkeit verloren zu gehen, etwa die Piraten. Aktuell legt die AfD bundesweit an Stimmen zu, wie keine zweite Partei – obwohl sich die AfD intern schon nach nur zwei Jahren so massiv zerstritten hat, dass ehemalige Aushängeschilder und Gründungsmitglieder reihenweise die Partei verlassen haben.
Der Beliebtheit der AfD hat das keinen Abbruch getan. Im Gegenteil: Seitdem Frauke Petry beim Essener Parteitag zur Bundesvorsitzenden gewählt wurde, steht die Partei in Umfragen so gut dar, wie nie zuvor: Manche Institute sehen sie bundesweit mit um die zehn Prozent sogar als drittstärkste Kraft nach Union und SPD.
Gesellschaftliche Relevanz?
Das Selbstbild hat sich seitdem massiv verändert. Von der wirtschaftskundigen Professorenpartei, als die vor allem Bernd Lucke die AfD verstanden haben wollte, ist wenig übrig geblieben. Ein Großteil der enttäuschten Ökonomen, die sich von Rechten unterwandert sahen, verließ die Partei. Viele von ihnen sind heute Mitglieder von ALFA, die im Wesentlichen die gleichen Grundsatzforderungen wie die AfD von 2013 vertritt, sich aber fremdenfreundlicher und gutbürgerlicher gibt.
Doch während die AfD in allen großen Medien ein Dauerbrenner ist und kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendeine namhaftes Medium wie auch immer geartet über die Partei berichtet, spielt ALFA medial bislang kaum eine Rolle. Die Parteigründung war noch ein großer Aufreger, danach ist es sehr ruhig geworden. Nicht weil es nichts Berichtenswertes gäbe – sondern weil nicht berichtet wird.
Am Donnerstag kamen knapp 60 Zuhörer zu einem Vortrag des bundesweit bekannten Ökonomen und Europaparlamentabgeordneten Hans-Olaf Henkel. Bezeichnend ist, dass eine regionale Tageszeitung mit Dutzenden Redakteuren offenbar nicht gewillt oder befähigt war, einen ihrer Reporter zur Veranstaltung zu schicken. Über die Feste von Karnevalsvereinen mit weitaus weniger Gästen wird in der Regel berichtet – vielleicht werden die als gesellschaftlich relevanter eingeschätzt als die Ausführungen eines renommierten Wirtschaftsprofessoren zu Globalisierung und Asyl.
Hans-Olaf Henkel ist streitbar, umstritten und kantig. Er teilt gerne aus und hält sich dabei nicht zurück. Neuerdings versucht sich der Ökonom als Psychiater:
Deutschland gehört auf die Couch und braucht eine Therapie.
Seine Diagnose: Eine ganze Nation leide am Helfersyndrom und ein beträchtlicher Anteil an Schizophrenie – die verwechselt er offenbar mit einer dissoziativen Identitätsstörung, denn eine gespaltene Persönlichkeit und Schizophrenie sind zwei völlig verschiede Krankheitsbilder, auch wenn etliche Freizeit-Seelenklempner die Begriffe synonym verwenden.
Billige Polemik – jetzt für Intellektuelle?
Einige Thesen und Diagnosen, die Herr Henkel äußert, sind mindestens kontrovers. Indirekt bezeichnet er beispielsweise Bundeskanzlerin Merkel als geistesgestört: Sie leide an dem krampfhaften Zwang, die Welt retten zu wollen, was ihr die Sicht für vernünftige Entscheidungen nehmen würde. Sie brauche dringend eine Therapie.
Bei Teilen des Publikums finden die aggressiven Anfeindungen Zustimmung. Aber kann das überhaupt im Interesse von ALFA stehten kann? Welch‘ Geistes Kind plumpe und polemische Parolen anlocken können, müsste man inzwischen ja eigentlich besser wissen. ALFA will sich als die „Alternative für Anständige“ präsentieren – das hindert Herrn Henkel nicht an Sprüchen wie diesem:
Die Union ist ja mächtig stolz auf ihre schwarze Null. Aber wissen Sie, wer die echte schwarze Null in diesem Land ist? Wolfgang Schäuble!
Ob das der Stil ist, mit dem man eine intellektuelle Elite anspricht, darf bezweifelt werden. Ausfälle wie diese überschatteten die Ausführungen von Herrn Henkel mehrfach am Donnerstag. Psychologie, Feinfühligkeit und Taktgefühl sind anscheinend nicht seine großen Stärken.
Nazi-Zeit-Nachfahren-Komplexe?
Kennen Sie das, wenn Sie der einzig Normale unter Verrückten sind? Hans-Olaf Henkel jedenfalls scheint sich so zu fühlen. Zumindest ist dieses Bild seine Darstellung: Eine Bundesregierun,g die den Verstand verloren hat und ein Volk mit dem Drang, sich selbst zu schaden und er, der die Lösungen kennt:
Warum will Deutschland so verzweifelt eine moralische Übermacht darstellen?
Er könne sich das nur durch die Nazi-Verbrechen zwischen 1933 und 1945 erklären, die jetzt nachfolgende Generationen glauben, wiedergutmachen zu müssen. Mitleid, Einfühlungsvermögen und sämtliche andere Gründe, die zum Helfen bewegen können, kommen aus seiner Sicht offenbar nicht in Betracht.
Henkel ist Ökonom – kein Psychologe
Die Ausführungen zur menschlichen und insbesondere deutschen Psyche erinnern an stammtischartiges Laiengeschwafel. Die Kernkompetenz von Herrn Henkel liegt eindeutig in der Wirtschaft. Wenn er von Freihandel und Finanzpolitik spricht, unterscheidet sich sein Vortrag grundlegend – die Inhaltsdichte nimmt deutlich zu und nur noch gelegentlich kommt es zu Anfeindungen und Schuldzuweisungen:
Globalisierung ist weit mehr als freier Handel und weltweite Gütertransfers. Globalisierung ist inbesondere auch ein moralisches Thema, denn Ideen und Werte werden weltweit vernetzt.
Zwar würden Menschenrechte noch überall auf der Welt mit Füßen getreten – aber nicht mehr ganz so stark ignoriert, wie noch vor einigen Jahrzehnten. Von der vernetzten Weltmärkten würden nicht nur die Wirtschaft, sondern vor allem die Gesellschaft profitieren: Globalisierung sei Friedenssicherung. Von Handelsbeziehungen würden politische Beziehungen profitieren. Noch nie habe eine Demokratie eine andere Demokratie angegriffen.
„Merkel ist schuldig“
„Das Rückgrat einer stabilen Binnenwirtschaft ist der Mittelstand,“ sagt Herr Henkel und ein paar der Zuschauer applaudieren. Herr Henkels Argumentation wird weniger sachlich: „Die Altparteien betonen das zwar auch gerne,“ fährt er fort: „Aber die Politik tut nichts mehr für den Mittelstand. Keine Regierung hat dem Mittelstand mehr geschadet als die Merkelregierung.“ Das habe schwerwiegende Folgen:
Deutschland ist schon lang keine Lokomotive der Entwicklung mehr. Das erscheint uns nur so, weil andere EU-Länder sich noch langsamer entwickeln oder sogar schrumpfen. Als Einäugiger unter Blinden steht man immer gut da. Aber im Vergleich mit den Wachstumsraten von Kanada, China und vielen anderen Nationen außerhalb Europas sehen wir alt aus.
Die Einheitswährung Euro würde die Entwicklung Europas ausbremsen. Die „one-size-fits-all-Währung“ sei für manche zu schwach, für andere zu stark und für fast niemanden wirklich passend. Der Export von Deutschland habe davon bislang profitiert, da Waren durch die vorteilhaften Wechselkurse aus dem Ausland günstiger zu erwerben wären, als sie eigentlich verkauft werden könnten. Dieser Profit sei ein „grotesktes und unmoralisches Subventionsprogramm für deutsche Produkte“.
„Deutsche Politik hat keinen Mut“
Zu Beginn habe er die Einheitswährung trotz Skepsis befürwortet, sagt Herr Henkel und macht eine dramatische Pause. Der Mai 2010 habe alles verändert. Die deutsche Regierung habe Verträge gebrochen und Festsetzungen nicht eingehalten:
Es gibt eine No-Bail-Out-Klausel, die eigentlich absichern soll, dass Nationen im Euro nicht für die Versäumnisse anderer Staaten haften müssen. Die Klausel ist wie eine Brandschutzwand – die hat Frau Merkel eingerissen, weil sie wieder die Welt retten wollte.
Das würde noch zu katastrophalen Folgen führen, die sich noch gar nicht abschätzen ließen: „Der einzige Ausweg zur Schadensbegrenzung: Deutschland muss raus aus dem Euro oder andere Krisenstaaten müssen rausgeworfen werden“. Das sei ein schwerer Schritt, aber notwendig.
Leider fehle dem Großteil der deutschen Politik der Mut, Verantwortungen für unbeliebte Schritte zu übernehmen: „Auch wenn Hilfsbereitschaft gar keine Grundlage hat, um funktionieren zu können, macht man sich zum Schreckgespenst, wenn man darauf hinweist, dass nicht geholfen werden kann.“ Das gelte auch und ganz besonders für die Flüchtlingskrise.
Angeblich Lösungen für alles parat
Menschen in Kriegsgebieten müsse geholfen werden, sagt Herr Henkel. Alles andere wäre unmenschlich. Doch dürfe man die Augen nicht vor der Realität nicht verschließen:
Die Zustände in vielen Flüchtlingsunterkünften sind beschämend und unzumutbar. Drastische Überbelegungen, mangelhafte Hygiene und der Staat kommt mit dem Registrieren nicht mehr hinterher. Es herrscht Chaos. Wem soll so wirklich geholfen werden?
Doch laut Herrn Henkel habe ALFA auch für dieses Missstände politische Palliativmedizin: Zuerst ein Signal aussenden, Deutschland schaffe es nicht mehr. Die Städte und Gemeinden sollten in kommunaler Selbstverwaltung eine Obergrenze festlegen, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen können und wollen – daraus ergebe sich die Obergrenze für den Bund, die man dringend brauche:
Die Debatte über eine Änderung des Asylrechts ist eine reine Farce. Schon heute hätten wir nach den Gesetzen von Dublin das Recht, Flüchtlinge abzuschieben, die aus sicheren Drittstaaten in das Land kommen – und das sind fast alle.
Dennoch wolle ALFA sozialer Verantwortung nachkommen und so vielen Schutzsuchenden wie möglich guten Schutz bieten.
Dann sagt Herr Henkel: „Eines muss uns klar sein: Die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, kommen nicht unmittelbar aus Krisengebieten. Die meisten haben zwischenzeitlich Zuflucht in Flüchtlingscamps gefunden, ob in der Türkei oder im Libanon.“ Sie kämen in der Erwartung auf ein besseres Leben nach Deutschland. Das könne man vielleicht Einigen bieten – aber nicht allen:
Anstatt hierzulande Millionen- und Milliardenbeträge für dürftige Notlösungen zu verschleudern, wäre es viel sinnvoller, das Geld in Lager im Ausland zu investieren und dort eine nachhaltige Entwicklung anzustoßen.
Selbst Schweden, die „Hochburg der Humanität“, habe die Landesgrenzen dicht gemacht. Auch Deutschland müsse sich endlich eingestehen, dass man im Alleingang als einzelne Nation keine Lösungen für globale Probleme finden kann. Großer Applaus im Publikum.
„ALFA ist Vernunft, ALFA ist Anstand, ALFA ist Verantwortung,“ sagt Hans-Olaf Henkel gegen Ende seines Vortrags. Euphorischer Beifall bleibt aus.
Viele Zuschauer wirken überzeugt – die allermeisten aber nachdenklich: Ist ALFA wirklich die Alternative, für die sie sich ausgibt?