Rhein-Neckar, 26. Juli 2013. (red/ld) In unserer Interviewreihe mit Bundestagskandidaten haben wir für den Wahlkreis Rhein-Neckar auch den 39-jährigen Dr. Lars Castellucci (SPD) befragt. Er ist stellvertretender Landesvorsitzender der SPD-Baden-Württemberg. Neben der Politik setzt Herr Dr. Castellucci sich für soziale Gerechtigkeit ein. Er engagiert er sich in der ev. Kirche, bei Mehr Demokratie e.V. und bei Ehemalige e.V. der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Interview Lydia Dartsch:
Herr Dr. Castellucci, Ihr Spezialgebiet ist Beteiligung und soziale Gerechtigkeit. Wie ist es derzeit um die soziale Gerechtigkeit im Rhein-Neckar-Kreis bestellt?
Dr. Lars Castellucci: Die Menschen im Rhein-Neckar-Kreis können – wie in allen Landkreisen – in bestimmten sozialen Lebenslagen staatliche Hilfen beantragen. Das ist aber oftmals gar nicht so einfach. Denn nach wie vor müssen viele bürokratische Hürden genommen werden, vor denen sich viele bedürftige Menschen abschrecken lassen. Viele Betroffene fühlen sich beschämt und als Bittsteller. Beispiel: Eine alleinerziehende Mutter besucht regelmäßig das AWO-Lädle in Sandhausen, der sich in der Nähe der Schule ihrer Tochter befindet. Sie achtet besonders darauf, dass ihre Tochter sie nicht beim Einkauf entdeckt. Oft haben Bedürftige auch Unterstützungsbedarf beim Ausfüllen von Anträgen. Mir ist es wichtig, dass auf kommunaler Ebene etwas geschieht, um diese Schieflagen abzufedern. In meiner Heimatstadt Wiesloch habe ich mich deshalb für die Initiierung von Projekten wie die Wieslocher Bürgerstiftung, die Beschäftigungsinitiative Wiesloch und Umgebung, die Wieslocher Tafel und die Weihnachtswunschaktion für Kinder eingesetzt. Wir brauchen aber auch eine Bundesregierung, die sich aktiv dafür einsetzt, dass es erst gar nicht zu solchen Schieflagen kommt. Die jetzige Regierungskoalition hingegen betreibt eine einseitige Politik zu Gunsten der Besserverdienenden.
Wie ist die Situation bei Kinderarmut? Gibt es die im Rhein-Neckar-Kreis? Wie stellt sie sich dar?
Castellucci: Kinder leiden in einer Armutssituation ganz besonders. Im Rhein-Neckar-Kreis genauso wie überall in Deutschland. Denn wenn das Geld zu Hause knapp ist, geht dies auch zu Lasten der sozialen Teilhabe. Eine häufige Beobachtung ist beispielsweise, dass Kinder aus Armutsfamilien seltener an kulturellen oder sportlichen Angeboten teilnehmen. Sie sind somit von Aktivitäten ausgeschlossen, die sich ihre Mitschülerinnen und Mitschüler ohne weiteres leisten können. Es ist auch erkennbar, dass diese Kinder öfter die Sonder- oder auch Hauptschule besuchen als andere Kinder. Die fehlende Chancengleichheit verfestigt sich somit und wird zu einer regelrechten Armutsspirale. Oftmals treten in diesem Zusammenhang auch andere Probleme wie beispielsweise Übergewichtigkeit bzw. Gesundheitsprobleme auf.
Was wird dagegen getan?
Castellucci: Der Bund hat unter größten Startschwierigkeiten 2011 ein Bildungs-und Teilhabepaket eingeführt, das Unterstützung z.B. beim Mittagessen, bei Klassenfahrten, Hausaufgabenhilfe, Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben (Sportvereine, Musikschule) ermöglicht. Die bisherige Bilanz ist ernüchternd und macht handwerkliche Fehler deutlich. Denn die Antragsstellung ist sehr kompliziert und oft auch restriktiv.
Im Jahr 2012 wurden von den bereitgestellten Bundesmitteln im Rhein-Neckar-Kreis lediglich 51 % (bundesweit 60,4 %) ausgegeben! Dies entspricht 1.200.000 Euro Minderausgaben, die nicht an die Bedarfsgruppe geflossen ist.
„Wer etwas von anderen erhält, sollte auch etwas zurückgeben.“
Aus Ihrem eigenen Lebenslauf kennen sie die Verhältnisse, in denen solche Kinder aufwachsen, sicher nicht. Sie hatten Musikunterricht seit Ihrem sechsten Lebensjahr. Das können sich diese Kinder nicht leisten. Woher kommt Ihre Motivation, sich für sie einzusetzen?
Castellucci: Ich bin dankbar für alles, was meine Eltern mir ermöglicht haben. Der Musikunterricht ist ein gutes Beispiel: Es war nämlich nicht selbstverständlich und auch nicht einfach, diesen nach der Trennung meiner Eltern weiter zu bezahlen. Die Begabtenförderung hat mir eine kostenfreie zusätzliche Viertelstunde eingebracht. Auch das Studium wurde durch mehrere Stipendien erleichtert. Wer etwas von anderen erhält, sollte auch etwas zurückgeben. Starke Schultern sollten mehr tragen als Schwache. Diese Prinzipien sind mir wichtig. Nicht zuletzt: Wer sonntags in die Kirche geht, kann dort viel über den Einsatz für die Schwachen hören. Und wenn er rausgeht, kann er das auch umsetzen, in der Familie, der Nachbarschaft, der Gemeinde usw. Schließlich ist mir wichtig, dauernd mit unterschiedlichen Menschen in Kontakt zu sein und von ihrer Lebenswirklichkeit zu erfahren. Deswegen mache ich Hausbesuche, besuche Hilfsorganisationen und versuche, mit offenem Auge durch die Welt zu gehen.
Sie fordern, der Staat solle Kinder fördern und nicht Familien. Welche Maßnahmen müsste der Staat denn dazu ergreifen?
Castellucci: Natürlich muss der Staat Familien fördern. Das steht schon im Grundgesetz. Familien und Kinder zu fördern, ist ja auch kein Gegensatz. Unter anderem wollen wir das Kindergeld reformieren und massiv in Bildung investieren, etwa mit einem zweiten Ganztagsprogramm.
Wie hilft das alleinerziehenden Elternteilen? Diese und ihre Kinder sind ja hauptsächlich von Armut bedroht.
Castellucci: Ein sozial gestaffeltes Kindergeld hilft gerade den Alleinerziehenden und ärmeren Familien. Eine kostenfreie, verlässliche und qualitative Bildung von der Krippe bis zur Hochschule hilft gerade Alleinerziehenden. Diese Forderung will die SPD nach und nach umsetzen, so wie es in Rheinland-Pfalz schon gelungen ist. Das schwarz-gelbe Minibetreuungsgeld ist dagegen ein schlechter Witz. Wir werden es sofort wieder abschaffen, den drei Euro pro Tag sind nicht gerade wertschätzend für die wichtige Erziehungsarbeit in den Familien. Junge Familien brauchen Wahlfreiheit, dafür brauchen wir zunächst einen bedarfsgerechten Ausbau von Betreuungs- und Bildungseinrichtungen.
Ganztägige Betreuungsangebote, sowie Angebote zur Hausaufgabenbetreuung sind insbesondere für Alleinerziehenden oftmals unerlässlich, um einen Job in einer Arbeitswelt mit zunehmenden Flexibilitätsanforderungen ausüben zu können. Ein gutes Beispiel bietet der städtische Kindergarten in Waibstadt, der ab September eine Ganztagsbetreuung für Kinder ab drei Jahren anbietet. 13 der 20 Plätze für die Ganztagsbetreuung waren innerhalb kürzester Zeit belegt. Dies macht deutlich, wie groß der Bedarf nach solchen Angeboten ist.
„Weitere Reformen sind nötig“
Junge, gut ausgebildete Frauen entscheiden sich meistens gegen Kinder oder Familie, weil sie befürchten, nach der Geburt des Kindes, nur schwer wieder einen Job zu bekommen. Welche Maßnahmen können Sie sich vorstellen, damit sich das ändert?
Castellucci: Das Elterngeld, das Renate Schmidt erdacht hat, ist hierfür schon eine wichtige Antwort. Eltern müssen die Chance haben, Kontakte zur Arbeitswelt oder ihrem bisherigen Arbeitgeber aufrechtzuerhalten. Nochmal: Dafür sind gut ausgebaute Betreuungseinrichtungen für die Kleinsten ganz zentral. Weitere Reformen sind nötig: Zum Beispiel soll, wer familienbedingt in Teilzeit arbeitet, einen Rechtsanspruch auf einen Vollzeitarbeitsplatz erhalten. Das gibt insbesondere Frauen mehr Sicherheit, die sie brauchen, um sich für Familie und Kinder zu entscheiden.
In Zukunft werden wegen des demografischen Wandels viel weniger junge Menschen am Arbeitsmarkt sein und in die Renten- und Sozialkassen einzahlen. Da ist Altersarmut doch vorprogrammiert. Wie sehen Sie das?
Castellucci: Altersarmut ist vorprogrammiert, aber weniger wegen der demografischen Entwicklung, sondern vielmehr wegen Dumpinglöhnen, Arbeitslosigkeit und brüchigen Erwerbsbiografien. Der Generationenvertrag ist weiterhin tragfähig, wenn wir das Rentenniveau nicht absaufen lassen.
Welche Maßnahmen wollen Sie in der kommenden Legislaturperiode gegen diese Entwicklung einbringen?
Castellucci: Die SPD schlägt eine Fülle von Maßnahmen vor. Zuerst geht es um faire Löhne, denn dann gibt es auch Renten über der Armutsgrenze. Der Mindestlohn ist deswegen nur ein Anfang. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist ein weiterer Schritt. Das Rentenniveau soll bis zum Ende des Jahrzehnts gehalten werden. Wir wollen Soloselbstständige, die in kein anderes Pflichtsystem einzahlen, in die Rentenversicherung einbeziehen. Und für viele, die heute eine Minirente beziehen: eine Solidarrente von 850 Euro bei 30 Beitrags- bzw. 40 Versicherungsjahren.
Am 03. Juli hat der Gemeinderat der Stadt Wiesloch ein Projekt für die Entwicklung einer Demografiestrategie abgelehnt, das das Landessozialministerium und der Städtetag Baden-Württemberg vorgeschlagen hatten – als SPD-Fraktionsvorsitzender haben Sie dieses Projekt ebenfalls abgelehnt. Wieso?
Castellucci: Das Vorhaben ist grundsätzlich eine gute Sache. Abgelehnt habe ich jedoch aus einer Reihe von Gründen, u.a.:
- Weil es keinen Finanzierungsvorschlag der Verwaltung gab.
- Weil nicht klar war, wer dieses Projekt in der Verwaltung umsetzen sollte, der Personalaufwand jedoch explizit angegeben war.
- Vor allem aber: Weil der Referent eine Antwort schuldig geblieben ist, was uns das Projekt zusätzlich bringen könnte. Immerhin tun wir (d.h. Verwaltung, private Initiativen, Vereine etc.) in Wiesloch schon eine ganze Menge. Ein weiteres Gutachten in der Schublade bringt uns nichts, davon können wir kein Geld drucken.
Griechenland aus der Krise helfen
Ein Thema, das derzeit heiß diskutiert wird, ist die Krise der südeuropäischen Staaten: In Griechenland gehen die Menschen wegen der geforderten Kürzungen der öffentlichen Ausgaben sehr aggressiv auf die Straße und demonstrieren auch gegen Deutschland, obwohl die Bundesregierung ein Rettungspaket nach dem anderen schnürt. Was ist an den Maßnahmen falsch? Wie könnte man, Ihrer Meinung nach, Griechenland besser aus der Krise helfen?
Castellucci: Entscheidend ist, nicht nur für Griechenland, sondern für Europa insgesamt, dass wir Wachstumsimpulse setzen. Wie ist denn Deutschland aus der Krise gekommen? Weil Peer Steinbrück, Frank-Walter Steinmeier und Olaf Scholz zwei Konjunkturprogramme aufgesetzt haben und unter anderem die Kurzarbeiterregelung gerade auch bei uns in der Region viele Arbeitsplätze gesichert hat. Frau Merkel macht in den letzten vier Jahren 100 Milliarden zusätzliche Schulen, predigt den Südeuropäern aber „Gürtel enger schnallen“ – das passt nicht zusammen.
Deutschland gibt für die Griechenlandrettung mehrere Milliarden Euro aus und erntet Hass. Wie erklären Sie sich diese Aggressivität?
Castellucci: In Griechenland hungern Menschen, es droht eine ganze Generation Jugendlicher verloren zu gehen, die Perspektiven sind gering. Dafür finde ich die Proteste noch gemäßigt. Deutschland hingegen profitiert nach wie vor von der Krise – unter anderem aufgrund von Niedrigstzinsen. Menschen, die sich vor Ort engagieren, berichten übrigens Anderes: nämlich von großen Anstrengungen der Griechen etwa beim Aufbau einer funktionierenden Verwaltung oder der Haushaltskonsolidierung von und Dankbarkeit für die Unterstützung aus Deutschland.
Was halten Sie von dem Austritt Griechenlands aus der Währungsunion und welche Folgen hätte dieser Austritt?
Castellucci: Ich halte nichts von dem Austritt Griechenlands aus der Währungsunion. Die erste Folge wäre, dass gefragt würde, wer denn dann als nächstes austreten soll. Damit schwächen wir Europa. Was wir brauchen, ist aber ein starkes Europa.
Im Kandidatencheck auf abgeordnetenwatch.de haben Sie einem garantierten Grundeinkommen für alle Menschen zugestimmt. Welche Folgen für die Gesellschaft erwarten Sie dadurch?
Castellucci: Sie behaupten Sachen! Wo haben Sie das her? Und was meinen Sie mit einem „garantierten Grundeinkommen“? Ein bedingungsloses Grundeinkommen à la Götz Werner oder Arbeitslosengeld II oder?
Ich kämpfe lieber für Vollbeschäftigung, faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen und einen sozialen Arbeitsmarkt für diejenigen, die sonst wenig Chancen haben.
Zur Person:
Dr. Lars Castellucci ist der stellvertretende Landesvorsitzende Baden-Württemberg. Er wurde am 24. Februar 1974 in Wiesloch geboren. 1995 bis 2000 studierte er Politik, Mittlere und Neuere Geschichte und Öffentliches Recht in Heidelberg, Mannheim und San Francisco.
Seit 1991 ist er Mitglied der SPD. Von 1995 bis 2001 war er Ortsvereinsvorsitzender der SPD Wiesloch. Von 2001 bis 2009 war er Kreisvorsitzender der SPD Rhein-Neckar. Seit 2001 ist Herr Dr. Castellucci im Gemeinderat der Stadt Wiesloch Vorsitzender der SPD-Fraktion. 2009 trat er erstmals als Bundestagskandidat der SPD im Wahlkreis Rhein-Neckar an.
Zum Sommersemester 2013 wurde er auf die Professur für Nachhaltiges Management, insbesondere Integrations- und Diversity Management an der privaten Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim berufen.
Neben der Politik engagiert er sich in der ev. Kirche, bei Mehr Demokratie e.V. und bei Ehemalige e.V. der Friedrich-Ebert-Stiftung.