
In der Mannheimer Tafel treffen sich Schicksale: Vor dem Laden, im Laden und hinter dem Laden. Boris Eppeli ist gebürtiger Moldawier.
Mannheim, 19. November 2013. (red/ld) 4.000 Menschen versorgt Mahmoud Golmohammadi täglich mit Lebensmitteln. Wer in seinem Laden der Mannheimer Tafel in der Neckarstadt einkaufen geht, ist bedürftig. Hinter Kunden wie Mitarbeitern stehen gleichermaßen Schicksale. Alle sind auf Lebensmittelspenden von Supermärkten und Lebensmittelproduzenten angewiesen. Doch die Spenden werden weniger und die Armen mehr.
Von Lydia Dartsch
Alphornstraße, Neckarstadt-West. Morgens um zehn. Die Schlange reiht sich fast bis zum Bäcker an der Straßenecke, wenn der Laden der Mannheimer Tafel öffnet. Dann geht das Gerenne los. Und das Gewühle um die guten Sachen, die dort in den Regalen stehen. Man weiß, wann die Lieferungen kommen. Dann herrscht für kurze Zeit große Geschäftigkeit im engen Laden: Es gibt eine Kasse. Die Wände sind gelb gestrichen. Grüne Großmarktkörbe mit Obst und Gemüse stehen an einer. An der anderen steht ein Kühlregal, das sich schnell leert: Die Menschen legen in ihre Körbe, was sie haben wollen und bezahlen an der Kasse – wie im normalen Supermarkt.
Der Grund für den Andrang liegt an den Preisen: Gerade mal 20 Cent kostet ein Croissant hier. Der Bäcker an der Straßenecke nimmt dafür einen Euro. Acht Packungen einer Reismahlzeit gibt es für 50 Cent. Im Discounter um die Ecke bezahlt man allein für eine Packung deutlich mehr Geld. Es gibt Obst und Gemüse zu billigen Preisen. Fleisch, Eier und Milchprodukte sind selten oder wenig im Angebot. Sie müssen „reguliert“ werden, wie Ladenleiter Mahmoud Golmohammadi sagt: Wenn es wie heute nur 30 Eier gibt, kann jeder nur 2 bekommen.
Billiges Essen, von dem die Menschen abhängig sind
Was die Mannheimer Tafel abgibt – nicht verkauft – sind Lebensmittelspenden von Supermärkten, Bäckereien, Lebensmittelproduzenten: Essen, das kurz vor dem Verfallsdatum steht, sprichwörtlich „vom Laster gefallen ist“ und im regulären Handel nicht mehr verkauft wird, obwohl es eigentlich in Ordnung ist. Billiges Essen, von dem die Menschen, die hier einkaufen dürfen, abhängig sind. Nur, wer Arbeitslosengeld II – Hartz 4 – bezieht oder anhand seines Lohnzettels nachweisen kann, dass er bedürftig ist, bekommt die Erlaubnis, hier einzukaufen.
Ladenleiter Mahmoud Golmohammadi kennt seine Kunden. Es sind Schicksale: Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. Menschen, die ihre Länder für die Hoffnung einer besseren Zukunft verlassen haben. Und Menschen, die jeden Tag acht Stunden lang arbeiten gehen und ihre Familien trotzdem nicht ernähren können. Der Laden ist eine Schicksalsgemeinschaft. Auch hinter seinen Mitarbeitern stehen Geschichten:
Wir sind eine große Familie.
Die Menschen kommen aus unterschiedlichen Regionen der Erde, sprechen verschiedene Sprachen, haben unterschiedliche kulturelle Hintergründe. Das geht nicht immer harmonisch zu. Herr Golmohammadi selbst stammt aus dem Iran, von wo er im Zuge der Revolution in den achtziger Jahren nach Deutschland geflohen ist. Boris Eppeli, der an der Kasse sitzt, kommt aus Moldawien. Beate Said, die die Backwaren ausgibt, ist Anfang 50 und versucht nach langer Krankheit mit einem 1-Euro-Job wieder zurück ins Arbeitsleben zu finden. Ihr gefällt es in dem Laden. Sie habe keinen Stress und es gehe familiär zu, sagt sie. Sie hofft, dass ihre Maßnahme verlängert wird.
Doch die Zeichen stehen nicht gut. Immer weniger Lebensmittel werden an die Tafeln gespendet, weil die Supermärkte, von denen das meiste kommt, die Warenmengen besser kalkulieren. Davon ist der Ladenleiter überzeugt. Seine Kunden werden dagegen immer mehr: Mehrere hundert Kunden kaufen täglich in der Neckarstadt ein, rund 4.000 Menschen versorgt der Laden mit Lebensmitteln. Insgesamt sind es im Stadtgebiet Mannheim gut 10.000 Menschen.

Beate Said gibt im Neckarstadter Tafelladen die Backwaren aus. Sie ist froh, hier einen Ein-Euro-Job zu haben.
Das ist nur ein Viertel der Bedürftigen in der Stadt, schätzt Uwe Mauch, der die Mannheimer Tafel von der Zentrale des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in der Lagerstraße seit deren Gründung im Jahr 2004 koordiniert – seit dem Jahr, in dem die Hartz-4-Gesetze verabschiedet worden sind. Und er weiß nicht, wie lange die Tafeln noch betrieben werden können. 27.381 Menschen in der Stadt leben von Hartz 4. Das ist ein Zehntel der Bevölkerung. Viele meiden die Tafeln, weil sie dieses Stigma meiden wollen.
Herr Mauch ist auch zuständig für die Läden in der Schönau, der Rheinau Und in Edingen und Hockenheim – Armut gibt es nicht nur in der großen Stadt. Außerdem koordiniert er über die Regio-Tafel die Verteilung von Spenden in der Region zwischen Rimbach und Grünstadt sowie zwischen Boppstadt und Karlsruhe. Außerdem ist die Mannheimer Tafel Verteilerzentrum der Landestafel und der Bundestafel für Baden-Württemberg.
Enorme Kosten für die Aufrechterhaltung des Systems
Was einem den Atem stocken lässt, sind die enormen Kosten, die mit der Aufrechterhaltung des Systems der Tafeln verbunden sind. Die Einnahmen durch die Tafeln sind niedrig. Bei 4.000 Kunden am Tag mache der Laden in der Neckarstadt Umsätze zwischen 180 und 200 Euro. Auf das Jahr gerechnet sind das bei drei Läden rund 150.000 Euro.
Dagegen stehen Kosten für Fuhrpark, Personal und Gebühren in Höhe von jährlich 500.000 Euro – allein für Mannheim. 180.000 Euro davon bezahlt das DRK. Der Rest komme durch Geldspenden zusammen, sagt Herr Mauch:
Wir sind darauf angewiesen. Die Einnahmen in den Läden sind Makulatur.
Sechs Tiefkühlfahrzeuge, ein 7,5-Tonner- und ein 40-Tonner-Lkw stehen auf dem Hof. Keines der Fahrzeuge hat weniger als 250.000 innerstädtische Kilometer auf dem Tacho. Bei dem 16 Jahre alten 40-Tonner sind es sogar 750.000 Kilometer. Da gehe immer mal was kaputt. Es fallen Kosten an für Reparatur, TÜV-Abnahmen und Treibstoff.
Neun hauptamtliche Mitarbeiter des DRK übernehmen die Führungsfunktionen der Abteilung. Hinter den anderen Mitarbeitern stehen weitere Schicksale: 15 Ein-Euro-Jobber, 120 Ehrenamtliche Helfer – meist im Rahmen von Resozialisierungsmaßnahmen – und 20 sogenannte Bürgerarbeiter, wie sie offiziell heißen. Herr Mauch hat eine nüchterne Bezeichnung für sie:
Das sind die Leute, die sonst keinen Arbeitsplatz finden; die, die niemand haben will.
Viele seiner Mitarbeiter könnten nicht lesen und schreiben. Deswegen seien die Regale im Lager farbig markiert und nicht beschriftet. Mancher ehrenamtlicher Mitarbeiter hat viele Jahre im Gefängnis gesessen und versuche nun wieder Anschluss zu bekommen – eine solche Strafe bekomme man nicht, wenn man eine Schachtel Zigaretten klaut, gibt Herr Mauch zu bedenken. Seine Aufgabe sieht er auch darin, ihnen eine Familie zu sein.
Die Spenden kommen aus ganz Europa und manche stellen Uwe Mauch vor ungeahnte Herausforderungen, wie eine Spende von 268.000 Flaschen Eistee einer Getränkefirma, für die er 84.000 Euro Pfand bezahlen musste, inklusive Mehrwertsteuer. Oder die 5.000 lebenden Puten aus Südfrankreich, die er angeboten bekam. Da sie vor Ort nicht geschlachtet werden konnten, musste Herr Mauch einen Tiertransport in einen Schlachthof in Brandenburg organisieren und dafür eine Spedition beauftragen. Mit eigenen Fahrzeugen könne die Tafel keine lebendigen Tiere transportieren, sagt er.

Die Mannheimer Tafel versorgt als Regiotafel Läden in der gesamten Region – auch die Tafel Leimen, für die Roland Weizenhöfer hier Ware holt.
Solche Anfragen kämen immer wieder vor, sagt er. Das seien aber Ausnahmen vom Tagesgeschäft. Diese Lebensmittel würden dann in die Lagerstraße geliefert, sortiert, gelagert und auf die einzelnen Tafeln im gesamten Land verteilt. 9.000 Quadratmeter Platz gibt es dafür.
Den Großteil der Lebensmittelspenden holen die Mitarbeiter der Mannheimer Tafel bei den Supermärkten, Großmärkten und Hofläden ab – alle seien damals angeschrieben worden, ob sie spenden möchten, sagt Herr Mauch. 90 Prozent der Händler machen bei dem System mit. Allein im Stadtgebiet Mannheim werden täglich 300 Abholstellen nach einem festen Fahrplan angefahren und anschließend die Tafelläden direkt beliefert.
Dankbarkeit, Misstrauen und Verbitterung
Dort werden die Waren vorsortiert: Nur, was noch verkäuflich ist, landet im Regal. Insgesamt gut 10 Tonnen von 23. Die 13 Tonnen als Müll deklarierte Lebensmittel müssen anschließend von einem Spezialfahrzeug abgeholt werden. Das passiert zweimal täglich. Von dem Aufwand, der für sie betrieben wird, bekommen die Menschen, die bei der Tafel einkaufen, nichts mit. Die blauen Tonnen für den Müll stehen in einem Hinterzimmer des Ladens.
Man spürt bei manchen Verbitterung, Hoffnungslosigkeit und wie sehr diese Abhängigkeit von der Tafel an ihnen zehrt. Ein Kunde, der nicht namentlich genannt werden will, sagt, er glaube nicht, dass „alles mit rechten Dingen“ zugehe in dem Laden. Auf Herrn Mauch angesprochen, sagt er, dieser „spiele nur den Wohltäter“. Sein Argument: Manches sei genauso teuer wie im Disounter. Vielleicht ist das aber auch nur der Versuch, die Tafel mit dem Discounter gleichzusetzen und damit aufzuwerten. Denn für viele, deren Geldbeutel zu klein für den Discounter ist, ist der Schritt über die Schwelle der Tafel schwer. Für die allermeisten aber eine große Hilfe, ohne die sie es noch schwerer hätten, als sie es eh schon haben.

Der Tafelladen in der Alphornstraße in der Neckarstadt.