Stuttgart, 25. Juli 2015. (red/ms) Die Realschulen Baden-Württembergs müssen reformiert werden – darin sind sie die grün-rote Landesregierung und die Opposition aus CDU und FDP/DVP einig. Fortan soll es an Realschulen möglich sein, einen Hauptschulabschluss zu absolvieren. Auch das ist unbestritten. Allerdings sieht der aktuelle Gesetzesentwurf der Regierung einige Änderungen vor, die für kontroverse Debatten im Landtag sorgen – Kritiker befürchten eine “Zwangsumwandlung der Realschulen in Gemeinschaftsschulen durch die Hintertür”. Eine Anhörung im Bildungsausschuss machte nun deutlich: Grundsätzlich finden die Vorhaben der Regierung viele Befürworter. Fundamentalkritik wurde kaum geäußert. Allerdings muss in der Feinjustierung des Gesetzesentwurfs ganz eindeutig nachgebessert werden.
Von Minh Schredle
Realschulen waren schon immer bekannt für eine heterogene Schülerschaft. Seit dem Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung nach der vierten Klasse hat sich dieses Phänomen weiter verstärkt. Unter den Schülern gibt es teils dramatische Unterschiede, was die schulischen Leistungen angeht.
In diesem Jahr sind etwa 50 Prozent aller Kinder mit einer Hauptschulempfehlung an Realschulen gekommen – das entspricht 7.500 Menschen. Wegen der rapide sinkenden Schülerzahlen schließen landesweit immer mehr Hauptschulen. Gleichzeitig hat etwa ein Fünftel von Baden-Württembergs Realschülern eigentlich eine Gymnasialempfehlung ausgesprochen bekommen.
Konsens: Eine Reform ist notwendig
Das macht deutlich: Den unterschiedlichen Potenzialen und Talenten der Schülern gerecht zu werden, ist eine große Herausforderung. Die grün-rote Landesregierung und die Opposition aus CDU und FDP/DVP sind sich darin einig, dass es eine Reform braucht, damit die Realschulen diese Aufgabenlage gerecht werden können.
Dabei stehen zwei Aspekte im Vordergrund, die schwierig zu vereinen sind: Möglichst viele Schüler sollen einen Abschluss erreichen. Gleichzeitig soll aber die mittlere Reife ihren hohen Stellenwert beibehalten und das Niveau des Unterrichts nicht abgesenkt werden.
Dr. Timm Kern, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP und zuständig für Bildungsfragen, sagte vergangene Woche in einer Plenarsitzung des Landtags:
Die Landesregieriung kann vielleicht Hauptschulen abschaffen. Aber sicher nicht die Hauptschüler.
Es sei unmöglich, dass alle Schüler einen Realschulabschluss absolvieren könnten, ohne dass das Niveau massiv herabgesetzt würde. Daher sei es sinnvoll, künftig auch an Realschulen einen Hauptschulabschluss anzubieten.
Einigkeit über Änderungsbedarf
Aktuell können Realschuler einen Hauptschulabschluss nur mit einer sogenannten Schulfremdenprüfung an Hauptschulen erwerben. Dies ist allerdings nur dann möglich, wenn ein Schüler die Versetzung nach der neunten Klasse nicht erreicht hat und erneut versetzungsgefährdet ist.
Das soll mit dem Gesetzesentwurf der Landesregierung verändert werden. Und dieses Vorhaben an sich ist im Landtag unumstritten. Es gibt keine Fundamentalkritik – die Ausarbeitung einiger Details wird dagegen kontrovers debattiert.
Denn neben der Möglichkeit, den Hauptschulabschluss künftig auch an Realschulen erwerben zu können, sieht der Gesetzesentwurf weitere Änderungen vor, die von der Opposition harsch kritisiert werden.
Zu viele Ähnlichkeiten zur Gemeinschaftsschule
Die fünfte und sechste Klasse sollen als Orientierungsstufe dienen: Hier sollen keine Noten vergeben werden und Versetzungen nicht verweigert werden. Die Regierung begründet, die Schuler würden mit einem sehr unterschiedlichen Niveau auf Realschulen kommen und es dauere seine Zeit, um die Potenziale der Schüler richtig einschätzen zu können. Ein Jahr sei dafür oftmals zu wenig.
Die Kinder sollen überwiegend gemeinsam unterrichtet werden, unabhängig davon, ob ihre Leistungen eher denen von Hauptschülern, als denen von Realschülern entsprechen. Nur in den Hauptfächern soll je nach Leistungsniveau zwei Stunden in der Woche räumlich getrennt unterrichtet werden. Stefan Fulst-Blei (SPD) argumentiert, man dürfe nicht zu stark zwischen den Schülern diffenzieren, weil viele sich sonst stigmatisiert und “wie auf einem Abstellgleis” fühlen könnten.
Doch aus der Opposition gibt es Bedenken: Ist es möglich, mit dieser Unterrichtsform allen Talenten gerecht zu werden? Werden die leistungsstarken Schüler womöglich ausgebremst? Ist ein Niveauverlust an Realschulen absehbar? Und wo liegen die Unterschiede zur Gemeinschaftsschule, abgesehen davon, dass ein Pendant zur gymnasialen Oberstufe fehlt?
Die Realschulen bekommen, wenn der Gesetzesentwurf unverändert beschlossen werden sollte, einen deutlich geringeren Sachkostenzuschlag als Gemeinschaftsschulen. Georg Wacker, der bildungspolitische Sprecher der CDU, sagt dazu:
Mit dem Gesetzesentwurf will die Regierung offenbar dazu antreiben, dass endlich mehr Anträge für Gemeinschaftsschulen gestellt werden. Denn die Unterschiede sind dann ohnehin gering und die Gemeinschaftsschulen werden durch die Gesetzgebung eindeutig bevorzugt.
Dr. Timm Kern ging noch einen Schritt weiter und sprach von einer “Zwangsumwandlung zur Gemeinschaftsschule durch die Hintertür”. Andere Kritiker bezeichnen die von der Regierung vorgesehene Form der Realschule als “Gemeinschaftsschule light”.
Unter Experten weitgehend ähnliche Ansichten
Am vergangenen Mittwoch wurden 14 Experten zu einer Anhörung in den Bildungsausschuss eingeladen, um dort zum Gesetzesentwurf Stellung zu beziehen. Auch hier bestand ein einhelliger Konsens darüber, dass eine Reform der Realschule dringend notwendig sei, um den Anforderungen der Gegenwart weiterhin gerecht werden zu können.
Der Erwerb eines Hauptschulabschlusses an Realschulen wurde von den allermeisten begrüßt. Allerdings wurden ebenfalls zahlreiche Bedenken geäußert. Vielen Experten zufolge sind die Festlegungen im Gesetzesentwurf zu eng geschnürrt und man solle den Realschulen mehr Freiheiten lassen, wie genau ihre pädagogischen Konzepte aussehen sollen.
Norbert Brugge, Dezernent des Städtetags, warf der Regierung vor, die Expertise der Realschulen im Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft werde unterschätzt. Es sei besser, ihnen mehr Freiheiten zu lassen. Es gebe keine Schablonenlösung, die überall in Baden-Württemberg immer die besten Ergebnisse erzielen könne.
Vielfalt der Bildungslandschaft erwünscht
Herbert Huber, der Vorsitzende des Verbandes der Lehrerinnen und Lehrer an beruflichen Schulen in Baden-Württemberg (BLV), sagte, die Zusammenarbeit von Realschulen und Berufsschulen sei ein sensationelles Erfolgsmodell – dieses werde durch den Gesetzesentwurf gefährdet. Realschulen und Gemeinschaftsschulen dürften sich nicht zu stark angleichen und bräuchten jeweils ein eigenes starkes Profil:
Der Mischwald ist besser als Monokulturen.
Die Bildungslandschaft profitiere von einer Vielfalt der Angebote, Eltern müsse man gleichwertige Alternativen anbieten, um von einer echten Wahlfreiheit sprechen zu können. Andere Experten schätzten das ähnlich ein und kritisierten, dass es mit dem Gesetzesentwurf kaum noch Unterschiede zwischen Real- und Gemeinschaftsschulen gebe.
“Marke Realschule” soll ihr Ansehen nicht verlieren
Vertreter der Wirtschaft betonten nachdrücklich, dass die “Marke Realschule” einen sehr hohen Stellenwert genieße und dass man mit erfolgreichen Absolventen überwiegend positive Erfahrungen gemacht habe. Weit verbreitet ist die Sorge, eine Gesetzesänderung könne dazu führen, den Realschulabschluss abzuwerten. Es dürfe nicht jeder auf Biegen und Brechen durchgeschleußt werden.
Irmtraud Bock, die Verwaltungsdirektorin des Gemeindetags Baden-Württemberg, sprach sich dafür aus, die vorgesehene Mindestschülerzahl von 40 Personen pro Realschule solle mit für den ländlichen Raum reduziert werden:
Ansonsten drohen schulfreie Zonen. Bald gibt es dann nicht mehr nur noch bildungsferne Millieus, sondern ganze bildungsferne Räume.
Es wäre wünschenswert hier – eventuell durch Ausnahmeregelungen – mehr Flexibilität zu ermöglichen. Ein Schulwahlrecht der Eltern nütze schließlich überhaupt nichts, wenn es keine Schulen in der Umgebung gebe.
Hauptschüler nutzlos?
Für Empörung sorgte die Referentin Marion Fritzsche, Ressortleiterin für Bildung und Wirtschaft der Wirtschaftsjunioren Baden-Württemberg. Frau Fritzsche sprach sich als einzige gegen die Möglichkeit aus, an Realschulen einen Hauptschulabschluss erwerben zu können:
Am Ende entsteht unter den Schülern noch der Eindruck: Ein Hauptschulabschluss reicht auch. Aber nein. Er reicht eben nicht.
Der Gesetzesentwurf sei eine massive Bedrohung für Baden-Württembergs Wirtschaft. Viele Schüler würden “nämlich bestimmt den bequemen Weg gehen”. Außerdem werde ein gemeinsamer Unterricht die “guten Schüler” ausbremsen. Und:
Die Starken dürfen nicht eingeschränkt werden.
Auch das ist eine Ansicht. Und zwar eine widerliche und arrogante. Hauptschüler sind also zwangsläufig die schlechteren Menschen, weil sie weniger nützlich für die Wirtschaft sind?
Klaus Käppeler, Schulpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und Hauptschulrektor, kritiserte die Äußerungen von Frau Fritsche als “abwegig und unverschämt”. Gerade das Gegenteil sei der Fall und seine Hauptschüler seien in der Regel sehr darum bemüht, ihre Bildungsqualifikationen nach dem Abschluss weiter zu verbessern.
Feinjustierung notwendig
Die Anhörung machte deutlich: Eine Reform der Realschulen findet viele Befürworter – von den meisten wird sie sogar als notwendig betrachtet. Kaum jemand äußerte Fundamentalkritik an den grundsätzlichen Vorhaben der Landesregierung. Allerdings gibt es zahlreiche Bedenken und wenn die Landesregierung den Interessen der Mehrheit gerecht werden will, muss nachjustiert werden.
Die meisten Experten sprachen sich ganz eindeutig dafür aus, den Schulen mehr gestalterische Freiheiten für ihre pädagogischen Konzepte zu lassen, als im Entwurf vorgesehen ist. Außerdem wurde die Forderung deutlich: Gemeinschaftsschulen und Realschulen müssen eindeutig voneinander zu unterscheiden sein und brauchen eindeutige Profile.
Klaus Käppeler betonte: “Die Realschule liegt uns Sozialdemokraten und auch den Grünen sehr am Herzen und soll auf jeden Fall erhalten bleiben.” Kultusminister Andreas Stoch (SPD) versprach, die Ausstattung an Realschulen würde nach der Reform “deutschlandweit unerreicht sein” und die Unterrichtsqualität werde in keiner Form eingeschränkt. Das sind große Worte – und die Reform der Realschulen wird sich daran messen müssen.