Rhein-Neckar, 21. März 2022. (red/pro) Aktuell haben rund 3,5 Millionen Menschen die Ukraine verlassen, vor allem Frauen, Kinder und Alte. Die Zahl der Binnenflüchtling soll bei 6,5 Millionen Menschen liegen. Sehr viele werden ins Ausland weiterreisen, spätestens dann, wenn Angriffe auf die West-Ukraine zunehmen und auch, weil die Ukraine überfordert sein wird. Die Bundesregierung korrigierte nach der Annahme von 340.000 Kriegsvertriebenen die Zahl nun auf eine Million Menschen. Die Maßnahmen, die es braucht, laufen auch am 26. Tag seit des Angriffs Russland auf die Ukraine nur schleppend an. Alles seit 2015 schon wieder vergessen?
Von Hardy Prothmann
Plötzlich kamen sie in Massen: Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, anderen arabischen Staaten oder auch Afghanistan. Kamen Sie plötzlich? Nein. Die Politik tat zwar überrascht, aber diese Fluchtbewegungen waren absehbar.
Und in Deutschland herrschte zeitweilig das Chaos. Das RNB hat im Gebiet der Metropolregion intensiv berichtet – immer wieder Unterbringung und Verpflegung kritisiert.
Sowie die Bürokratie und heillos verschwendetes Geld – Catering-Firmen staubten 13 Euro pro Flüchtling pro Tag ab. Erst zwei Jahre später wurde ordentlich ausgeschrieben, da gab es die Leistung dann für rund 6 Euro. Handwerker, die schnell Gebäude ertüchtigen mussten oder Camps bauen, hielten ebenfalls die Hand auf. Besitzer alter Gebäude und Hallen schlossen Kaufverträge in schwindelerregender Höhe ab oder vermieten für viele Millionen Euro auf zehn Jahre teils heruntergekommene Immobilien. All das wurde so gut wie nicht aufgearbeitet.
2021: 65 Prozent der Syrer leben ganz oder teilweise von Hartz IV
“Fast zwei Drittel aller erwerbsfähigen Syrer in Deutschland lebt ganz oder teilweise von Hartz IV. Mit 65 Prozent war der Anteil der Bezieher staatlicher Unterstützung unter Zuwanderern aus Syrien im März dieses Jahres deutlich höher als unter Ausländern aus anderen Hauptherkunftsländern von Asylbewerbern wie etwa Somalia oder Afghanistan. Wie aus einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit weiter hervorgeht, bezogen 37,1 Prozent der Somalier im erwerbsfähigen Alter im gleichen Zeitraum Hartz-IV-Leistungen. Unter den Afghanen lag der Anteil bei 43,7 Prozent”, schreibt die FAZ am 14. Juli 2021, basierend auf Daten der Bundesagentur für Arbeit. Und weiter:
“Dass der Anteil der Beschäftigten unter den Geflüchteten aus Syrien geringer sei, habe womöglich auch mit dem relativ hohen Anteil von Frauen in dieser Gruppe zu tun. Etwa 40 Prozent der syrischen Geflüchteten seien weiblich. Viele syrische Frauen seien nachgezogen und daher noch nicht lange im Land. Oft stünden sie dem Arbeitsmarkt wegen der Betreuung von Kleinkindern nicht zur Verfügung. Auch kulturelle Gründe könnten hier eine Rolle spielen.”
Kita, Schule, Wohnraum – es fehlt an allem
Der absolut überwiegende Teil der Kriegsvertriebenen werden Frauen, Kinder, Jugendliche sein. Sie benötigen Kinderbetreuung, Sprachkurse, Schule – und einen angemessenen Wohnraum. Man kann Männer in Gemeinschaftsunterkünften unterbringen, die nicht verwandt sind. Bei Familien ist dies nicht vergleichbar möglich, wenn man an das Kindeswohl denkt. Die ersten sechs Monate besteht keine gesetzliche Schulpflicht – dann schon oder wenn Mütter ihre Kinder als Schulkinder den Behörden melden, dann müssen diese sofort beschult werden.
Wie viele Menschen aktuell aus der Ukraine nach Deutschland gekommen sind, ist nur vage bekannt. Die neueste Zahl: 218.000. Wie hoch die Dunkelziffer ist? Unbekannt.
Im Gegensatz zu 2015/2016 kommen die Menschen in großer Zahl in Brandenburg und Berlin an – wie zu erwarten sind diese Länder völlig überfordert, es sind halt nicht Baden-Württemberg und Bayern.
Statt sich sofort um eine Verteilung zu kümmern, diese ordentlich zu organisieren und damit für Kommunen planbar zu machen, geschieht so gut wie nichts. Schlecht für die Menschen: Sind diese erstmal ein paar Wochen im Land, “angekommen”, müssen sie vielleicht woanders hin. Wieder neu orientieren.
In unserem Berichtsgebiet warten Eltern teils Monate und länger auf Betreuungsplätze – außer, sie können sich teure private Angebote leisten oder finden einen Platz, wie sie den Nachwuchs per Auto hinfahren. In vielen Schulen gibt es einen Sanierungsstau. Es fehlen Lehrer. Übersetzer. Psychologen. Alle Experten wissen, wie wichtig der vorschulische Spracherwerb ist – wie soll das stattinden?
Und es fehlt günstiger Wohnraum: Aktuell werden von Kommunen auch Hotels angemietet. Das ist gut für die Hoteliers, die immer noch unter Corona leiden, aber das wird kein Dauerzustand sein können, weil zu teuer und sicher nicht das, was die Hotelbetreiber als ihr Geschäftsmodell sehen.
Wesentlich für eine Integration ist, dass es keine zu geballten “Communities” gibt. Die Stadt Mannheim kann davon ein Lied singen, wie schwierig das im Jungbusch oder der Neckarstadt-West ist.
Die Mütter, insbesondere in den ersten Monaten und Jahren, werden gebraucht, um sich um deren Kinder zu kümmern – die können nicht einfach so in den Arbeitsmarkt, selbst, wenn sie wollten. Sie bleiben also Leistungsempfänger und das auf Jahre. Und sie sind in Sorge um ihre Männer, die Väter. Hunderttausende Kinder wachsen zunächst ohne diese auf und sehen sie vielleicht nie mehr wieder.
Kulturell wird es einfacher als 2015/2016, weil der Großteil eher “christlichen” Glaubens ist. Tatsächlich ist auch das ein Problem, weil es orthodoxe Christen gibt und kaum Kirchengemeinden in Deutschland.
Die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Ausländer (umA) ist unbekannt. Bekannt ist, dass die Betreuung pro Kopf zwischen 3.-5.000 Euro monatlich kostet. Insbesondere bei jungen Männern besteht eine erheblich höhere Gefahr, kriminell zu werden – unabhängig von der Herkunft.
Weiter fliehen auch Menschen, beispielsweise viele aus Afrika, die zum Studium in der Ukraine sind. Was macht man mit denen? Sie fliehen zwar vor dem Krieg, aber nicht in ihrem Land. Sind sie asylberechtigt? Eher nicht. Das sind wiederum vermutlich überwiegend Männer, die im Gegensatz zu ukrainischen Männern das Land verlassen dürfen.
Enorme innenpolitische Auswirkungen
Die Behörden werden, was Registrierung und die Bürokratie für Schule, Kita, Leistungsbezug, ärztliche Betreuung angeht, völlig Kopf stehen.
Aktuell scheint man sich daran zu klammern, dass Ukrainer sich zunächst visafrei in der EU aufhalten können. Ja und dann? Sie müssen registriert werden, sie müssen verteilt werden. Je länger man wartet, umso chaotischer wird das. Die bürokratischen Kosten sind gewaltig.
Selbst wenn der Krieg Russlands gegen die Ukraine in einigen Wochen vorbei sein könnte – wohin sollen die Frauen und Kinder heimkehren? In zerstörte Städte wie Mariupol? In von Russen kontrollierte Gebiete?
Dort ist vielerorts die Infrastruktur entweder massiv beschädigt oder vernichtet. Wesentlich Infrastrukturen wie Straßen, Strom, Wasser, Wärme sind unbrauchbar. Selbst wenn es eine hohe “patriotische” Motivation geben sollten – niemand ist so verrückt, ein sicheres Leben in Deutschland oder anderen EU-Ländern gegen ein völlig unsicheres Leben zu tauschen.
Innenpolitisch ist die Lage auch brisant. Wer die Auftritte von Präsident Selenskyj verfolgt, hört die unverhohlenen Vorwürfe und Drohungen gegen Länder wie Deutschland, die die Ukraine “im Stich” ließen. Das wird vermutlich auf fruchtbaren Boden treffen – einerseits wird es Dankbarkeit über die Hilfe geben, die Frage ist, wie groß der Groll gegen das helfende Land und seine Menschen werden kann. Sowas kann sich schnell festsetzen – insbesondere, wenn es viele Opfer zu beklagen gibt.
Hinzu kommt, dass auch viele Ukrainer in die EU kommen werden, die sich eher der russischen Seite zugehörig fühlen – was wird das für Folgen haben?
Es werden noch mehr Flüchtlinge kommen – aus Eurasien und Afrika
Auch demographisch wird es erhebliche Veränderungen geben. In Deutschland leben rund 195.000 russischstämmige Menschen (ohne 3,5 Millionen Russlanddeutsche). In Mannheim sind es rund 4.500 gegenüber 1.500 aus der Ukraine. Rund 330.000 Ukrainer sollen zumindest zeitweise in Deutschland leben (Bau, Erntehilfe, Pflege). Kommen tatsächlich bis zu einer Million oder mehr Menschen aus der Ukraine nach Deutschland, sind das mindestens sechs bis sieben Mal mehr als Russen.
Aus der Türkei hören wir, dass die Zahl der Flüchtlinge dort nicht mehr 4-5 Millionen Menschen beträgt, sondern vermutlich Richtung 8 Millionen Menschen geht. Und die Stimmung verschlechtert sich rasant. Hinzu kommt, dass die Türkei seinen Weizenbedarf zu 70 Prozent aus der Ukraine bezieht. Was, wenn es dort zu einem erheblichen Ernährungsproblem kommt? Oder in den arabischen Mittelmeer-Anrainer-Staaten oder anderen afrikanischen Ländern?
Wie lange halten die Polen, die Moldawier, die Rumänen durch – und ab wann werden die geflüchteten Menschen in andere Länder weiterziehen?
Politisch, so zynisch das klingt, ist das sowohl Präsident Putin wie auch Präsident Selenkyj “recht” – und auch den USA. Denn allen ist klar, welchen Druck diese Massen aufbauen – nicht die einzelne, flüchtende Mutter mit ihren Kindern, sondern einfach die schiere Masse der Menschen, die Schutz suchen. Wieso nehmen die USA eigentlich so gut wie keine Flüchtlinge aus der Ukraine auf? Man liefert Waffen – wie humanitär ist diese Hilfe?
Wie sollen wir “das schaffen”?
Bislang ist nicht erkennbar, dass die neue Bundesregierung auch nur ansatzweise einen Plan hat, wie man mit diesen menschlichen, aber auch volkswirtschaftlichen Problemen umgehen kann, soll und will. Die geplanten Ausgaben von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr werden infrastrukturell woanders mehr gebraucht.
Fest steht, dass irgendwelche Fantasien von “leicht in den Arbeitsmarkt zu integrieren, nachweisbar falsch sind. Wenn es sich wie bei den Syrern verhält, kommen bei einer Million Menschen aus der Ukraine ganz überwiegend auf viele Jahre Leistungsbezieher ins Land. Darauf muss man die Bürgerinnen und Bürger ehrlich informieren.
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