Rhein-Neckar/Ludwigshafen, 19. April 2016. (red) Heute sind der Altkanzler Dr. Helmut Kohl (CDU) und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán in Kohls Privathaus in Ludwigshafen Oggersheim zusammengetroffen. Der Besuch dauerte rund 80 Minuten. Im Anschluss wurde über das Büro des Altkanzlers eine gemeinsame Pressemitteilung herausgegeben, die wir dokumentieren.
Konkrete Maßnahmen zur Flüchtlingskrise und zur Rolle Europas nennen die beiden Politiker nicht. Klar unterstrichen wird hingegen, dass Europa sich in einer Krisensituation befindet und nur ein gemeinschaftliches Handeln zum Erfolg führt. Einer Aufnahme von Millionen Flüchtlingen in Europa erteilen die beiden Politiker eine klare Absage. Man müsse den Menschen vor Ort helfen – die aktuell in Europa befindlichen Flüchtlinge seien nicht das drängendste Problem: „Europa müsse vielmehr in der Gewissheit handeln, dass es nicht die neue Heimat von Millionen von Menschen weltweit in Not werden könne und dass also über Europa hinaus Lösungen gefunden werden müssten.“ An die Politik und die Medien gerichtet, kritisieren die beiden „unnötige Aufgeregtheit“.
Gemeinsame Presseerklärung zum Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán bei Bundeskanzler a.D. Dr. Helmut Kohl:
„Im Rahmen seines 2-tägigen Deutschlandbesuchs traf Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán am heutigen Dienstagmittag mit Bundeskanzler a.D. Dr. Helmut Kohl in dessen Wohnhaus in Ludwigshafen zusammen. Es handelte sich um einen privat-freundschaftlichen Besuch. Die beiden Politiker kennen sich seit vielen Jahren. Helmut Kohl schätzt es, wenn der ungarische Ministerpräsident bei ihm vorbeikommt und ihm seine Einschätzung der Lage darlegt. Für Viktor Orbán sind seine Besuche bei Helmut Kohl – neben dem Austausch – immer auch eine Geste des Respekts gegenüber dem Mann, der nicht nur für Deutschland und Europa viel getan hat, sondern auf den Ungarn sich in seinem Freiheitskampf sowie nach 1989/90 auch in der Frage der EU-Mitgliedschaft und der Neuausrichtung des Landes stets verlassen konnte.
Der ungarische Premier kam mit einem besonderen Geschenk: Er übergab Helmut Kohl ein druckfrisches Exemplar der ungarischen Fassung seines in Deutschland im Herbst 2014 veröffentlichten Appells „Aus Sorge um Europa“. Das Buch erscheint mit einem aktuellen Vorwort Helmut Kohls und einer Einführung Viktor Orbáns in Ungarn in diesen Tagen. Für Helmut Kohl ist das Buch so etwas wie sein europapolitisches Vermächtnis. Dass er sich darüber hinaus aktuell – gesundheitlich zudem angeschlagen – zu Europa überhaupt zu Wort meldet, ist allein seiner wachsenden Sorge um Europa geschuldet: der Sorge um die Zukunft Europas wie der Verantwortung Europas für die Welt.
Im Gespräch ging es dementsprechend vor allem um Europa. Europa befinde sich nach beider Einschätzung gegenwärtig in einer der schwierigsten Phasen seit 1945. Mit Viktor Orbán sieht sich Helmut Kohl einig in seiner immerwährenden Grundüberzeugung, dass die Zukunft der europäischen Völker davon abhängt, dass die politische Einigung Europas gelingt. Beide unterstrichen: „Zum politisch geeinten Europa gibt es keine Alternative, wenn wir Frieden und Freiheit in Europa auf Dauer bewahren wollen und wenn Europa seine Verantwortung in der Welt wahrnehmen will.“
Europa müsse sich dringend wieder stärker darauf besinnen, dass das geeinte Europa für die Völker Europas wie für den Weltfrieden schicksalsentscheidend sei und dass es nur gemeinsam oder gar nicht gelinge. In diesem Geiste müssten die Mitgliedstaaten und europäischen Institutionen wieder stärker an einem Strang ziehen und entschlossen handeln. Das, so Helmut Kohl, sei eine wichtige Voraussetzung, damit auch alle materiellen Herausforderungen dieser Tage von der Solidargemeinschaft Europa gemeinsam bewältigt werden könnten – von der Bekämpfung des internationalen Terrorismus über die Sicherung des Euro und die Stabilität im Euro-Raum bis hin zu einer europäischen Position sowie dem europäischen Beitrag zur Flüchtlingswelle.
Viktor Orbán versicherte dem Altkanzler einmal mehr, dass Ungarn selbstverständlich seinen solidarischen Beitrag für eine gute Zukunft des geeinten Europas leisten wolle. Ungarn wolle aktiv an einer gemeinsamen europäischen Entscheidung mitwirken. Der ungarische Premier erläuterte dem Altkanzler an dieser Stelle Ungarns 10-Punkte-Plan „Schengen 2.0“, den er in die europäische Diskussion zur Lösung der Flüchtlingsfrage einbringen will und für den er in diesen Tagen auch in Deutschland wirbt.
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Mit Blick auf die Presseberichterstattung der vergangenen Tage stellten Helmut Kohl und Viktor Orbán unmissverständlich klar, dass es weder in der Sache noch für die Menschen hilfreich sei, in dieser wichtigen Frage des Umgangs mit der Flüchtlingswelle und den Schicksalen von Millionen von Menschen vor allem politische Gegensätze zu konstruieren. Die daraus erwachsende Aufgeregtheit dieser Tage sei nicht nachvollziehbar und werde der Komplexität und Bedeutung der Flüchtlingsfrage nicht gerecht.
Die Flüchtlingswelle sei zweifelsohne eine historische Herausforderung von existentieller Bedeutung. Sie sei dies für Millionen von Menschen weltweit in Not wie in Europa und ebenso für die Zukunft Europas. Die Frage sei in keiner Weise, ob Europa und seine Mitgliedstaaten helfen würden, sondern wie – angesichts von Millionen von Menschen weltweit in Not und einer daraus drohenden Völkerwanderung – eine wirkungsvolle humanitäre Hilfe von europäischer Seite aussehen könne. Wie so oft in der Politik sei alles eine Frage des Maßes und des Sowohl-als-auch: Wie viele Menschen könne Europa vernünftigerweise aufnehmen und letztlich auch integrieren? Und was geschehe zeitgleich mit den übrigen Millionen von Menschen weltweit in Not, die nicht fliehen könnten oder noch nicht geflohen seien? Diesen Menschen müsse Europa ebenso helfen.
So wichtig die Hilfe in Europa selbst sei: Europa könne aus vielerlei Gründen nur für den kleineren Teil der betroffenen Menschen übergangsweise eine Zuflucht bieten oder gar eine neue Heimat werden. Eine Lösung für alle sei das aber nicht. Gerade auch aus humanitären Gründen dürfe Europa sich daher nicht auf die in absoluten Zahlen zwar vielen, aber vergleichsweise nur wenigen Menschen konzentrieren, die bereits auf der Flucht nach Europa seien oder diese geschafft hätten. Europa müsse vielmehr in der Gewissheit handeln, dass es nicht die neue Heimat von Millionen von Menschen weltweit in Not werden könne und dass also über Europa hinaus Lösungen gefunden werden müssten.
Das heißt: Europa müsse seinen Beitrag in Europa leisten, aber es müsse zugleich und eingebettet in Maßnahmen der internationalen Staatengemeinschaft vor allem auch Lösungen außerhalb Europas suchen und in den betroffenen Regionen selbst helfen, um nicht nur vergleichsweise wenigen, sondern möglichst vielen Menschen gerade unter humanitären Gesichtspunkten zu helfen und eine Perspektive für die Zukunft zu geben, die am besten in der eigenen Heimat liegt.
Entgegen dem Eindruck aus der Presseberichterstattung sehen Helmut Kohl und Viktor Orbán mit ihrer Haltung in dieser Frage im übrigen keinen Gegensatz zu den Bemühungen auch der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Man sehe sich in der Zielsetzung völlig einig: Es gehe darum, unter humanitären Aspekten in einer existentiellen Frage für Millionen von Menschen den besten Weg zu finden. Es gehe um eine Schicksalsentscheidung für die Menschen in Europa wie in der Welt. Es gehe um eine gute Zukunft für Europa und den Frieden in der Welt. Die Bemühungen der Kanzlerin zeigten in dieselbe Richtung.“