Mannheim, 23. April 2017. (red/cr) Die Bürgerinitiative Pulse of Europe setzt mit ihren Kundgebungen seit Jahresbeginn in immer mehr europäischen Städten Zeichen für Europa. Auch in Heidelberg und Mannheim brachte sie zahlreiche Menschen auf die Straße. Aber wer sind sie? Wo kommt die Bewegung her und wo will sie hin? Was sind die konkreten Ziele der jungen Initiative – gibt es überhaupt welche?
Sonntag, 14:00 Uhr. Auf dem Mannheimer Marktplatz sind etwa 200 Menschen versammelt. Ganz vorne an der Bühne vor allem Senioren, weiter hinten Familien mit Kindern, kleine Grüppchen Studierender und alle Altersgruppen dazwischen. Ballons und Flaggen mit der europäischen Flagge werden verteilt.
Neugierige Passanten bekommen Flugblätter in die Hand – mit zehn Grundthesen zu Frieden, der europäischen Gemeinschaft, Bürgerrechten und dem Appell, sie zu verteidigen und zu nutzen. Auf der Rückseite ist der Text der Europahymne abgedruckt. Vorne prangt der Name der Bürgerinitiative: Pulse of Europe.
Demonstrieren für Europa
Seit der ersten Kundgebung der Graswurzelbewegung im November 2016 sind immer mehr Menschen und Städte hinzugekommen. Mittlerweile sind es nach Angaben von Pulse of Europe über 100 Städte in 16 verschiedenen Ländern, 79 davon in Deutschland.
Das ist schon alleine deswegen erstaunlich, weil die Teilnehmer „für etwas“ auf die Straße gehen und nicht „gegen etwas“. Und dann auch noch für die europäische Idee, die doch oft abstrakt und für viele eine bürgerferne EU ist.
Was treibt diese Menschen an? Was wollen sie erreichen? Und wer steckt dahinter?
Es fing an mit einer einzelnen Mail
Der Brexit, die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und das Erstarken von Rechtspopulisten vor und im europäischen Superwahljahr 2017 bereitet vielen Bürgern Sorgen. Auch Daniel Röder und seine Frau Sabine hat der Brexit beschäftigt. Das Ergebnis der Wahl in den USA hat das Ehepaar dann vom Sofa geholt.
Die beiden Rechtsanwälte aus Frankfurt am Main hatten den Impuls, etwas machen zu müssen. Also riefen sie in einer Mail Freunde und Bekannte zu einer Demonstration auf. Als etwa 200 Leute kamen, so berichtet es Herr Röder in verschiedenen Interviews, hätten sie gewusst, dass es anderen genauso geht wie ihnen. Die Mehrheit der Bürger sei für ein geeintes Europa – nur sei das bislang eine schweigende Mehrheit.
Schnell war ein Organisationsteam gebildet. Die zehn Grundsatzthesen wurden formuliert und Werbung über Facebook und Twitter gemacht. Seit der ersten „richtigen“ Kundgebung am 15. Januar 2017 fanden regelmäßig Kundgebungen statt, schnell kamen neue Städte hinzu.
Positive Energie gegen Angst
So etwa auch Mannheim. Hier ist Olaf Ginter Organisator. Er bekam als guter Freund des Ehepaares Rödel damals die Mail, mit der alles begann. Zuerst bestand das Team in Mannheim nur aus Freunden, inzwischen arbeiten Herr Ginter und seine Stellvertreterin Barbara Zechel mit etwa 20 teils fremden Menschen zusammen.
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Mit ihnen fand am Sonntag die mittlerweile fünfte Veranstaltung von Pulse of Europe statt. Aber was genau wollen sie damit bewirken?
Angst in Mut und Zuversicht umwandeln,
so die Antwort von Olaf Ginter.
Frieden ist nicht selbstverständlich
Auf die Frage nach seiner Motivation nennt er wie viele an diesem Tag zuerst „Frieden“. Den Zusammenhalt in Europa zu erhalten, indem man ihn sichtbar macht. Pulse of Europe wolle vermeintlich Selbstverständliches in den Mittelpunkt stellen.
Denn 60 Jahre nach den Römischen Verträgen kann leicht in Vergessenheit geraten, dass Frieden eine besondere Errungenschaft ist. Und die Werte, die die unterschiedlichen europäischen Länder teilen, so Herr Ginter, werden von nationalstaatlichen Denkstrukturen angegriffen, zum Beispiel in Polen. Deswegen stehe er ein für ein vereintes und demokratisches Europa.
Co-Organisatorin Barbara Zechel spricht vor allem von Symbolen und Emotionalität. Sie will die Menschen wachrütteln und eine verloren gegangene Leidenschaft für Europa wieder entfachen. Sie hat zumindest ein Talent dafür, ihre eigene Leidenschaft auf der Bühne zu vermitteln,
Wir alle haben etwas zu verlieren!
Appelle und Wünsche an das Nachbarland
Konkret wird das in den sonntäglichen Kundgebungen auf dem Marktplatz. Deren Gestaltung variiert von Woche zu Woche. In Mannheim gibt es immer unterschiedliche Aktionen, wie zum Beispiel diesmal Musik von einem Chor.
Das Konzept der Bewegung ist es bislang, die Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland zu begleiten. Ersteres hat bereits gut funktioniert. Es konnten Kontakte in den Niederlanden aufgebaut und schließlich ein eher pro-europäisches Wahlergebnis gefeiert werden.
Da diesem Sonntag sendeten daher die Teilnehmer der Kundgebung Wünsche und Appelle nach Frankreich, wo die erste Runde der Präsidentschaftswahlen stattfand. Aus den vorher gesammelten Botschaften wurden einige verlesen. Der Tenor: Wählen gehen und die eigene Stimme europafreundlichen Kandidaten geben.
Aber auch ganz praktische und lebensnahe Wünsche waren dabei:
Ich möchte auch in Zukunft ohne Pass und Papiere im Elsass essen gehen können.
„Kein Europa der Orbans und Kaczynskis“
Danach stand, das ist ein Markenzeichen von Pulse of Europe, das Mikrofon allen Bürgern offen. Einzige Regeln dabei: Maximal drei Minuten Redezeit und „Parteien und Organisationen sollen Bürger zu Wort kommen lassen“. Dass Pulse of Europe überparteilich und -konfessionell ist, das ist den Organisatoren wichtig.
Die Redebeiträge fielen recht unterschiedlich aus. So berichtete etwa ein Mann von seinen Besuchen des Schauplatzes der Schlacht um Verdun, in der sein Großvater gefallen sei.
Wer das gesehen hat, wird nicht auf den gottverdammten Nationalismus zurückgreifen, der gerade um sich greift!
Großen Beifall bekam der Mann für die Aussage, er wolle kein „Europa der Orbans und Kaczynskis“. Stattdessen forderte er von der EU Symbolpolitik, mit der man sich identifizieren könne.
Europa hat viele Facetten
Eine Sängerin des Celebration Gospel Chores, der zu Beginn der Kundgebung die Teilnehmer mit „Joyful, Joyful“ zum Klatschen gebracht hatte, meldete sich spontan mit einem ganz anderen Aspekt.
Sie bezeichnete Europa als letzte Festung für Menschen aus Staaten, in denen Frieden und Rechtsstaatlichkeit keine Selbstverständlichkeit seien. Doch damit alle in Europa in Friede und Freiheit leben können, müsse auch etwas getan werden.
Ebenfalls spontan wagte sich ein Mann ans Rednerpult, der sich selbst als „Vorzeige-Europäer“ bezeichnete. Seine Botschaft war kurz und knackig:
Ich bin in Mannheim geboren, mit einer Französin verheiratet, mein Sohn wurde in Spanien geboren und ich arbeite für eine irische Firma an einem Standort in Rumänien. Was gibt´s hier noch zu diskutieren?
Teilnehmer könnten heterogener sein
Im Anschluss richtete Herr Ginter noch einen Appell an die Teilnehmer der Kundgebung. Man solle den Geist der europäischen Idee weitertragen in Schulen, auf den Arbeitsplatz, in den Bekanntenkreis, in alle Gesellschaftsschichten.
Wir brauchen sie alle.
Denn einen Nachteil hat die Graswurzelbewegung, die über private Kontakte und soziale Medien bekannt wurde: man „bleibt unter sich“. Gleich und Gleich gesellt sich gerne und ist miteinander „befreundet“. Das führt dazu, dass zu den Kundgebungen vorwiegend Akademiker kommen . Das ist dem Mannheimer Projektteam bewusst und das wollen sie ändern.
Europa soll Thema von Parteipolitik werden
An Pulse of Europe wird oft kritisiert, es würden konkrete Ziele und Forderungen fehlen. Doch in den Gesprächen mit den Verantwortlichen im Projektteam und Frau Zechels Rede bei der Kundgebung wurde klar: Die Bewegung sieht es nicht als ihre Aufgabe, konkrete Ziele zu haben.
Am treffendsten hat es vermutlich Lukas vom Organisationsteam ausgedrückt. Er studiert Psychologie an der Universität Mannheim und hat als ehemaliger politisch aktiver Dresdner eine „gewisse Vorbildung“ in Sachen Kundgebungen. Er sagte, Pulse of Europe solle eine positive Stimme sein – zwischen destruktiven Bewegungen, die immer nur gegen etwas sind.
Wir sind Bürger, keine Politiker.
Man wolle keine politischen Forderungen aufstellen, sondern an die Politik appellieren, das zu tun. Bei Pulse of Europe kommen verschiedenste Menschen zusammen, die sich teilweise ansonsten überhaupt nicht politisch engagieren. Den Organisatoren ist trotzdem bewusst oder vielleicht auch genau deswegen bewusst, dass sich die europäische Idee auf unterschiedliche Weisen verwirklichen lässt.
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Diese auszugestalten sei jedoch Aufgabe der Parteien. Die Bürgerinitiative ruft alle Bürger auf, zur Wahl zu gehen. Doch Europa als Thema aufgreifen, dass sollen alle Parteien selbst.
Es bleibt spannend
Pulse of Europe hat sich die Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland als Etappenziele gesetzt. Bis zum zweiten Wahlgang in Frankreich am 07. Mai sollen daher in Mannheim noch jeden Sonntag um 14:00 Uhr Kundgebungen auf dem Marktplatz stattfinden. Am 14. Mai will man einen „hoffentlich“ pro-europäischen neuen französischen Präsidenten feiern.
Nach dem 14. Mai soll es vorerst keine wöchentlichen Kundgebungen in Mannheim mehr geben. Stattdessen sind Projekte wie Fahrradtouren oder Musikveranstaltungen geplant. Dafür werden aber derzeit noch Ideen gesammelt.
Im September sollen in Vorfeld der Bundestagswahl wieder Kundgebungen stattfinden. Dann wird sich zeigen, wie groß der Teil der schweigenden Mehrheit pro-europäisch eingestellt ist und wählt und wie groß der andere Teil ist. Denn obwohl Pulse of Europe ausdrücklich alle Bürger zum Mitmachen einlädt, dürfte die Initiative vor allem die Menschen mit der selben Meinung anziehen.
Diskussionen waren bis auf eine Ausnahme zumindest an diesem Sonntag nicht zu beobachten.
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