Mannheim, 15. Januar 2014. (red/pro) Seit dem Sexualmordfall Gabriel Z. sind insgesamt fünf sexuell motivierte Überfälle auf Frauen festgestellt worden. Jeder Fall ist einer zu viel. Opfer von Gewalt erleiden körperliche und psychische Verletzungen. Massive oder leichte, spielt erstmal keine Rolle. Verletzt ist verletzt. Aber die immergleiche Debatte in Sachen Sicherheit bringt uns alle nicht weiter. Man muss Tacheles reden und dazu gehört die Einsicht, dass keine Gesellschaft gewaltfrei ist und es keine absolute Sicherheit gibt.
Von Hardy Prothmann
Um es gleich vorweg zu nehmen: Politik und Polizei können sich noch so ehr anstrengen – sie werden sexuelle und auch andere Gewaltverbrechen niemals vollständig verhindern können. Jeder, der das verspricht, lügt. Jeder, der das fordert, agiert populistisch.
Wir Berichterstatter haben die Pflicht, immer sorgsam mit Informationen umzugehen. Das heißt auch, nicht nur das scheinbar Offensichtliche zu sehen, sondern Fakten umfassend zu prüfen – nicht nur, aber insbesondere bei „sensiblen Themen“.
Was ist nur in Mannheim los?
Am Wochenende wurden drei Frauen Opfer einer sexuellen Belästigung. Was ist nur in Mannheim los, fragen jetzt viele. Die Frauen hatten Glück, dass sie nicht vergewaltigt worden sind. Weil sie sich gewehrt haben? Das ist ein Trugschluss. Denn jeder Fall ist ein Einzelfall. Man kann niemals pauschal beurteilen, ob Gegenwehr hilft oder nur noch mehr Gewalt hervorruft. Die Frauen hatten Glück, weil der oder die noch flüchtigen Täter offenbar nicht entschlossen genug waren, sonst hätten die Frauen keine Chance gehabt. Punkt.
Man kann auch über Zahlen reden: 2012 gab es 49 Opfer von Vergewaltigungen/sexueller Nötigung im alten Präsidiumsbereich Mannheim. 2013 sind es 50 Fälle. Jeder ist einer zu viel – aber insgesamt sind es wenige. Es gibt keinen „Schwerpunktstadtteil“ – mal abgesehen davon, dass jeder Ort in jeder Stadt einen Verbrechensschwerpunkt darstellt, wenn viele Menschen sich dort aufhalten. Das gilt für Innenstädte, für Bahnhöfe, für Volksfeste und Sportveranstaltungen. Hier gibt es überwiegend Diebstähle und Körperverletzungen im Zuge von Schlägereien. Überfälle ereignen sich eher am Rande von solchen Zonen oder nachts – damit es wenig Zeugen gibt.
2012 gab es bundesweit rund 8.000 gekannte Fälle aus dem Bereich Vergewaltigung/sexuelle Nötigung. Macht einen Fall auf 10.000 Einwohner. Auf Mannheim umgerechnet dürften das „im Schnitt“ nur 30 sein – es sind aber deutlich mehr. Vor allem deshalb, weil alle Städte in Deutschland im Vergleich um Land eine höhere Kriminalität aufweisen Auch hier gilt das Prinzip, wo mehr Menschen sind, gibt es auch mehr Opfer von Verbrechen.
Pseudo-Tipps für Frauen
Wer nun „Tipps“ gibt, Frauen sollten Selbstverteidigungskurse machen, hat keine Ahnung. Um die Kondition und die Technik einer effektiven Selbstverteidigung zu erlernen, braucht es jahreslanges Training. Und selbst das hilft nicht gegen einen zu allem entschlossenen Gewaltverbrecher – egal, ob er ein Opfer vergewaltigen oder nur zusammenprügeln will.
Wer Frauen rät, sich mit Pfeffersprays zu bewaffnen, hat keine Sekunde nachgedacht. Die Handsprays müssen aus kurzer Entfernung gezielt eingesetzt werden und bergen das Risiko, sich dem Pfeffernebel selbst auszusetzen. In der Handtasche nützen sie nichts. Man muss sie in der Hand haben und vorbereitet sein. Will man wirklich jeder Frau raten, bei jedem Gang nach Hause mit einer Vergewaltigung zu rechnen und sich darauf vorzubereiten? Wie lebt sich so ein Leben in permanenter Alarmbereitschaft?
Vollkommen idiotisch wird es, wenn über „Alarm-Armbänder“ geschwafelt wird. Auch hier die erste Frage: Wie lebt es sich, wenn man so ein Ding tragen würde – immer im Bewusstsein, dass man sich als Opfer sieht? Und wer baut die nötige Infrastruktur zu welchen Kosten auf?
Jeder Fall ist einer zu viel
Der Mord an Gabriele Z. hat die Stadt entsetzt. Der mutmaßliche Täter hat auch in Speyer und Grünstadt drei weitere Frauen angegriffen – die sich mit Glück wehren konnten. In Speyer griff er am frühen Abend an, in Grünstadt in den späten Nachmittagsstunden. Die Opfer waren eine 42-jährige Frau und zwei Teenies.
Seither dem Mordfall Gabriele Z. gab es in Mannheim sechs weitere Opfer von Vergewaltigung/sexueller Nötigung. Eines wurde im Jungbusch vergewaltigt, drei wurden auf der anderen Seite der Quadrate sexuell genötigt, zwei Frauen im Herbst in Feudenheim. Die Feudenheimer Fälle ereigneten sich nicht in der Nacht, sondern am späten Nachmittag. Die Opfer des gefassten Täters sind 62 und 18 Jahre alt.
Mitte Mai hat die Polizei im Heidelberger Süden einen Mann verhaftet, der in die Wohnungen von Seniorinnen eingestiegen ist und dort seine Opfer sexuell nötigte und vergewaltigte.
Jeder kann Opfer von Gewalt werden
Wer jetzt meint, jede Frau, vom Kind bis zur Oma kann Opfer eines Sexualverbrechens werden – der liegt richtig. Kinder und Frauen sind meist schwächer als Männer und vielen fehlt ein Bewusstsein für „Stärke“. Tatsache ist aber, dass 60 Prozent der Opfer von Gewaltverbrechen Männer sind. In der Polizeilichen Kriminalstatistik steht:
Bei To?tungsdelikten, Raub, Ko?rperverletzung und bei Straftaten gegen die perso?nliche Freiheit werden u?berwiegend ma?nnliche Opfer registriert.
Und tatsächlich sind es oft junge Männer zwischen 18-30 Jahren. Die „trauen“ sich nämlich öfter allein oder zu zweit spätnachts/frühmorgens auf die Straße und eine Begegnung mit Straftätern, die die Dunkelheit ohne Zeugen suchen, ist wahrscheinlicher. Junge Männer trauen sich mehr – denken, sie könnten schnell weglaufen oder sich verteidigen. Das ist ein Trugschluss. Wer fordert Maßnahmen zum Schutz der jungen Männer?
Ich habe selbst von 1990-1997 in den „Jungbusch-Quadraten“ gelebt. Und ich bin ein paar Mal gerannt und hatte Glück. Und ich war auch ein paar Mal in Handgreiflichkeiten verwickelt – weil ich angegriffen worden bin oder andere verteidigt habe. Dann bin ich nach Neckarau gezogen, von dort nach Heddesheim und jetzt wieder nach Neuhermsheim. In diesen 16 Jahren habe ich nur einen körperlichen Angriffe erlebt – in Neckarau. vor gut 12 Jahren. Jugendliche hatten morgens um vier Uhr gelärmt – ich bin nach einer Stunde schlaftrunken nach draußen gegangen, um sie zu vertreiben und ohne Ansatz schlug mir einer ins Gesicht und rannte dann sofort weg. Selbst schuld – ich hätte die Polizei rufen sollen.
„Übliche“ Verdächtige?
Und ausgerechnet im vergangenen Herbst hat ein Typ im Jungbusch, vermutlich Südosteuropäer und vermutlich unter Drogeneinfluss, morgens ebenfalls kurz nach vier Uhr mit einem Pflasterstein nach mir geworfen – er hatte zuvor eine Frau belästigt und ich hatte mich eingemischt. 20 Minuten vorher hatte eine Polizeistreife an gleicher Stelle gehalten und sich erkundigt, ob ein im Halteverbot stehendes Auto mir oder meinem Kumpel gehört. Die Streife war da, stand direkt vor mir – ein Polizist, eine Polizistin im Fahrzeug. Sie haben die Belästigung und den Angriff nicht verhindern können. Daraus leite ich aber nicht ab, dass es ein „Gewaltproblem“ durch Südosteuropäer gibt.
Denn ich habe mich in Gefahr begeben – aus freien Stücken und sie auch erfahren. Und ich nehme sie nicht hin. Für mich ist Deutschland explizit eines der besten Länder der Welt, weil man sich grundsätzlich überall zu jeder Tages- und Nachtzeit frei bewegen kann, ohne Angst haben zu müssen. Ich kenne die Welt und weiß, wie gut wir es hier haben.
Aber ich weiß auch, dass es gefährliche Gegenden gibt und Uhrzeiten, zu denen man, wenn man es vermeiden kann, lieber nicht unterwegs sein sollte. Ich kann mir das aussuchen, weil ich nicht dort wohne. Die allermeisten Opfer werden die, die dort leben und das sind eben viele Ausländer oder Studenten, die wenig Geld haben. Aber auch in der Oststadt passieren Überfälle oder aktuell gibt es zwei Leichen im beschaulichen Leimen. Ein Mann bringt seine frühere Frau um, dann sich selbst. Zurück bleiben zwei Kinder, die nun Waisen sind. Wie schrecklich.
Wer hätte gedacht, dass im beschaulichen Dossenheim ein Sportschütze im Rentenalter einfach mal beschließt, wegen eines Mietstreits Menschen zu töten? Ohne Waffe wäre die Gefahr geringer gewesen.
Sicherheitskonzept muss Gefahrensituationen verringern – mehr kann man nicht tun
Die Politik ist gefordert. Wenn Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz einen runden Tisch einberuft ist das gut – aber hoffentlich gibt es mal konkrete Konzepte. Es braucht nicht mehr Streifen, sondern Angebote und Prävention. Frauen sind besser beraten, wenn sie zu früher Morgenstunde oder überhaupt nachts ein Taxi nehmen, um nach Hause zu kommen. Wer wenig Geld hat, riskiert aber die Gefahr, weil er sich die Vernunft nicht leisten zu können glaubt.
Bei den Feudenheimer Fällen hätte das nichts genutzt und auch die Opfer des mutmaßlichen Mörders von Gabriele Z. waren nicht „mitten in der Nacht“ unterwegs und auch der Jungbusch war nur ein zufälliger Ort – genau wie Speyer und Grünstadt. Insbesondere dieses Täterverhalten zeigt, dass Ort und Zeit beliebig sind.
Trotzdem gibt es Zeiten und Orte, wo einfach mehr passiert als anderswo. Wenn man mal die Kosten der Strafverfolgung, sowie der medizinischen und psychologischen Versorgung zusammenrechnen würde, könnte man vermutlich sehr, sehr viele Taxifahrten sponsorn. Man könnte auch die Anbieter von Nachtbars und Discos mit in die Pflicht nehmen und sie an den Kosten beteiligen. „Erst feiern – dann sicher nach Hause“ könnte die Aktion heißen, an der sich Gastronomen beteiligen könnten. Das kann ein Imagegewinn für alle sein – insbesondere, wenn ein solches Projekt die Opferzahlen reduzieren würde.
Die Rufe nach einem starken Staat, mehr Polizei, härterer Bestrafung werden jetzt wie immer laut und sind doch nur alarmistisches Geschrei. Gefahr für Leib und Leben gibt es immer, in Deutschland aber insgesamt sehr wenig, ebenso in Mannheim. Wer sich umsichtig und vernünftig verhält, reduziert die trotzdem jederzeit möglichen Gefahren. Und ein kommunales Sicherheitskonzept wird dann erfolgreich sein, wenn es mithilft, Gefahrenzeiten und -situationen zu beschränken.