Mannheim/Rhein-Neckar, 24. Januar 2014. (red) Die sexuell-motivierten Überfälle auf Frauen haben die Mannheimer Bevölkerung erschreckt. Insbesondere der Mord an der litauischen Studentin Gabriele Z. Vor kurzem wurden wieder drei junge Frauen an einem frühen Sonntagmorgen in der Innenstadt überfallen. Sie haben sich gewehrt und konnten die Angreifer in die Flucht schlagen – weil sich diese davon beeindrucken ließen. Was tun? Können Frauen sich mit Selbstverteidigung schützen oder ist das ein Trugschluss? Im Interview beantwortet ein Kungfu-Lehrer sehr ehrlich, was realistisch ist und was nicht.
Interview: Hardy Prothmann
Herr Pretscher, können Frauen sich nach einem Kurs bei Ihnen mit Wing Chun gegen einen körperlich überlegenen Angreifer verteidigen?
Sebastian Pretscher: Ja. Prinzipiell ist das möglich.
Heißt prinzipiell auch überwiegend, in aller Regel?
Pretscher: Nein. Ganz realistisch gesehen wird es wahrscheinlich, wenn die Frauen das wirklich wollen. Nach meiner Erfahrung gibt es solche Frauen, tatsächlich sind es aber wenige.
„Ohne Willen geht gar nichts.“
Ich frage der Reihe nach: Wie wichtig ist der Wille?
Pretscher: Absolut entscheidend. Wichtiger als jede Technik. Ohne Willen geht gar nichts.
Wie wichtig ist die Technik?
Pretscher: Enorm wichtig. Natürlich kann man in einer Stresssituation ungeahnte Kräfte entfalten, aber wenn man die nicht zum Punkt bringt, bringen sie nicht viel.
Wie lange benötigt man, um funktionierende Techniken zu lernen?
Pretscher: Viele Monate, besser noch Jahre. Ich würde sagen, für grundsätzliche Selbstverteidigungstechniken, die auch „sitzen“, mindestens ein dreiviertel Jahr kontinuierliches Training, am besten drei Mal die Woche unter Anleitung und die anderen Tage für sich selbst.
„Den allermeisten ist es schnell zu hart.“
Wie lange trainieren Sie schon?
Pretscher: Seit 14 Jahren, tatsächlich bis auf wenige Ausnahmen täglich ein bis eineinhalb Stunden. Aber ich habe den Ehrgeiz, im System als Ausbilder weiterzukommen, dann ist das nicht anders möglich.
Wie ist Ihre Erfahrung mit Frauen im Training?
Pretscher: Den allermeisten ist es schnell zu hart. Man bekommt blaue Flecke, es tut auch uns Männern oft weh, es ist sehr anstrengend und Frauen müssen sich noch mehr anstrengen, um die nötige Spannung zu entwickeln, weil sie durch ihre körperlichen Anlagen einfach „schlechter“ gestellt sind, was die körperlichen Bedingungen angeht.
Insbesondere der Kungfu-Stil Wing Chun gilt aber als ideal für Frauen, weil die Legende sagt, dass eine Frau ihn als Stil für körperlich unterlegene Kämpfer entwickelt hat, die sich gegen stärkere durchsetzen wollen.
Pretscher: Ob die Legende stimmt, lassen wir mal stehen. Richtig ist, dass das System ermöglicht, auch körperlich deutlich überlegenere Gegner abzuwehren oder zu besiegen.
Renn um Dein Leben
In jeder Situation? Was, wenn der Angreifer beispielsweise mit einem Messer bewaffnet ist?
Pretscher: Dann rate ich meinen Schülern so schnell wie möglich wegzurennen.
Und wenn man das nicht kann?
Pretscher: Dann wird es lebensbedrohlich. Wenn jemand mit einem Messer umgehen kann oder entschlossen ist, es zu benutzen, bedeutet das auch für erfahrene Kämpfer mit hoher Wahrscheinlichkeit massive Verletzungen. Wir trainieren natürlich die Abwehr von Waffen – aber man darf sich da keine falschen Vorstellungen machen. Natürlich ist es besser, man hat Techniken, um sich wehren zu können, statt keine zu haben. Noch besser ist es, nicht in die Situation zu kommen.
Haben Sie schon bedrohliche Situationen erlebt?
Pretscher: Ja, aber seit ich trainiere, bin ich ganz überwiegend rein psychologisch ohne Gewalt da rausgekommen.
Bin ich ein Opfer oder kann ich mich wehren?
Woran liegt das?
Pretscher: An der Ausstrahlung. Der Gegner merkt, ob er ein Opfer vor sich hat oder jemanden, der sich wehren wird. Der Gegner wägt dann ab – er ist nicht drauf aus, selbst verletzt zu werden.
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Das könnte doch auch für Frauen positiv sein?
Pretscher: Selbstverständlich. Je selbstbewusster die Ausstrahlung ist, desto weniger wahrscheinlich wird ein Angriff. Das lernt man mit dem Training und bildet es – langsam – aus. Das kommt nicht ruckzuck. Deshalb braucht es Zeit dafür. Ein Selbstverteidigungskurs gibt Frauen mehr Selbstbewusstsein. Aber – siehe oben – es muss der Wille da sein, dieses auch zu verinnerlichen. Und damit es bleibt, muss man eigentlich regelmäßig trainieren – da schließt sich dann der Kreis wieder.
Auf der Straße gibt es keine Regeln
Nochmal zur Extremsituation: Was, wenn man angegriffen wird und einen Schlag abbekommt?
Pretscher: Wer die Situation nicht kennt, ist erstmal perplex und handlungsunfähig. Es wird einem schwarz vor Augen, man bekommt keine Luft mehr. Wer Erfahrung hat, kann damit besser umgehen. Generell sinken die Chancen auf Gegenwehr sehr stark, wenn ein vehement geführter Angriff nicht abgewehrt werden kann. Die Situation ist überhaupt nicht mit sportlichem Kampfsport wie Boxen vergleichbar: Da stehen trainierte Leute im Ring, es gibt die Handschuhe, Regeln und einen Schiedsrichter. Beim Angriff auf der Straße gibt es keine Regeln, keine Handschuhe, keinen Kopf- und keinen Tiefschutz.
Lassen Sie mich raten: Sie würden trotzdem einen Selbstverteidigungskurs empfehlen?
Pretscher: Ja klar. Weil er neben den schon genannten Faktoren noch mehr bringt. Entweder, man findet Gefallen und macht weiter. Oder aber man lernt, dass es das allerbeste ist, Gefahren aus dem Weg zu gehen, weil man keine Chance hat. Ich kenne das umgekehrt von mir und anderen trainierten Kampfkünstlern. Niemand ist unbesiegbar, man kämpft viel mit sich selbst, entwickelt Persönlichkeit und weiß um die Gefahren einer körperlichen Auseinandersetzung. Deshalb vermeidet man sie, so gut es geht. Wenn kein Ausweg bleibt, kann man sich aber richtig zur Wehr setzen. Doch das erfordert viel hartes Training. Darum kommt man nicht herum.
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