Mannheim, 14. Oktober 2012 (red/tt) „Die meisten Bürger in Mannheim haben von der Arisierung gewusst“, ist sich Dr. Christiane Fritsche sicher. Dem Gemeinderat erklärte sie gestern die vier Stufen der Arisierung in Mannheim anhand einiger Konfirmandenanzüge, zerstörter Grabsteine, einer goldenen Taschenuhr und einer Sammlung indischer Schwerter. „Arisierung“ bezeichnet die stufenweise Enteignung von Besitztümern und Vermögen der jüdischen Mitbürger im Dritten Reich, sowie deren Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben.
Bereits 1933 beginnt im Deutschen Reich der Boykott von jüdischen Kaufleuten, Kleinbetrieben und Selbstständigen. Die Stadtverwaltung vergab keine öffentlichen Aufträge mehr an Juden. Dabei ging die Stadtverwaltung deutlich über die Reichsrichtlinien hinaus. Für Martha Kaeferle in U1, 11 brach damit das Geschäft ein. Sie hatte Arbeits- und Schutzkleidung für öffentliche Stellen und Betriebe hergestellt und blieb nun auf einem großen Posten Konfirmandenanzüge sitzen. In diesen Jahren ist die „Arisierung von unten“ insbesondere durch die Verwaltungen klar nachzuweisen.
Zwangsveräußerung von Grundstücken
Die nächste Phase der Arisierung bestand darin, Grundstücke von Juden unter Wert zu veräußern. Die Stadt Mannheim selbst war dabei ein großer Profiteur, da sie zahlreiche Grundstücke billig erwarb und zum Teil weiterveräußerte. Unter anderem musste die jüdische Gemeinde den alten jüdischen Friedhof in F7 an die Stadt verkaufen.
Die Gebeine wurden aufwendig gegen eine Entschädigung umgebettet, die Grabsteine zum größten Teil zerstört. Insgesamt erwarb die Stadt 118 Grundstücke – das sind etwa zwölf Prozent von ingesamt 1.100 enteigneten Grundstücken. Damit nahm sie eine Vorreiterrolle im sogenannten „Arisierungsgewinn“ ein. Eine Karte der Mannheimer Quadrate aus der Nachkriegszeit zeigte die zahlreichen Grundstücke, die enteignet wurden.
Alles zu den Leihämtern
Nach der Reichspogromnacht waren Juden gezwungen, Vermögens- und Sachwerte außer Zahngold und Eheringe zu den Leihämtern zu bringen. Sie wurden meist deutlich unter Wert geschätzt. Die Abwicklung verlief bürokratisch, die Unterlagen wurden im Krieg weitgehend zerstört. Rund 2700 „Arisierungsfälle“ sind bekannt, rund 1600 jüdische Betriebe wurden enteignet.
Verwertungsstellen volksfeindlichen Vermögens
In der letzten Phase wurden in den sogenannten Verwertungsstellen volksfeindlichen Vermögens alle verbliebenen Umzugsgüter und Hausrat von geflüchteten, vertriebenen und getöteten Juden enteignet und sortiert. Dabei ging ein Teil als Spende an Hospitäler. Ein Teil zum Sonderpreis abgegeben und der Rest gelangte an den Mannheimer Einzelhandel. Dieser machte sich damit zum Komplizen der Arisierung und zum Hehler von enteigneten Gütern. Unter diesen befand sich auch die Sammlung indischer Schwerter einer jüdischen Familie.
Aufklärung als Ziel
Die Arisierung wird im Forschungsprojekt „Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim 1933 bis 1969“ untersucht, das im März 2013 seinen detaillierten Bericht vorlegen wird. Dieser wird wiederum im Gemeinderat vorgestellt, wie Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz in einer kurzen Einordnung mitteilte:
Die Arisierung in Mannheim ist ein Zeugnis eines Zivilisationsbruches, der das präsente jüdische Leben in Mannheim verdrängte. Die Stadt Mannheim war damals ein Vorreiter im Unrecht.
Den Vortrag leitete Ulrich Nieß vom Stadtarchiv Mannheim und Institut für Geschichte ein. Ziel ist das Ausmaß des Antisemitismus in Mannheim aufzuzeigen, prägnante Einzelfälle der Arisierung zu beleuchten und die ausgeprägte Vorreiterrolle Mannheims anhand von Fakten zu belegen. Die institutionellen Träger des Projekts sind das historisches Institut der Universität Mannheim unter Johannes Paulmann (Leibniz Institut für europäische Geschichte Mainz) und das Institut für Stadtgeschichte Mannheim.
Auch die Akte Heinrich Vetter wurde erforscht. Auslöser für die Studie waren die Recherchen des Arbeitskreis Justiz und Geschichte des Nationalsozialismus in Mannheim – die Rolle der „rühmlichen“ Familie Vetter war nicht mehr zu halten. Die Familie Vetter hat nach der Stadt Mannheim von der Arisierung in der Menge am meisten profitiert – in der Summe der „Fälle“, nicht bei der wirtschaftlichen Summe und es gab andere, die „dreister“ waren. Ende Januar 2013 werden 1.000 Seiten dokumentieren, was die Forscher über die Profiteure der Arisierung herausfinden konnten.