
Herr Dr. Nieß begrüßte die knapp 100 Besucher: „Es freut uns, dass das Thema so ernst genommen wird, wie es ist.“
Mannheim/Rhein-Neckar, 11. Oktober 2013. (red/ms) Die Spiele des SV Waldhof sorgten in der Vergangenheit immer wieder für Randale und Skandale. Ist Mannheim ein akuter Brennpunkt der Fangewalt im Fußball? Nein, findet Dr. Rudolf Oswald, der gestern Abend im Stadtarchiv einen Vortrag zu diesem Thema hielt. Anschließend gab es noch eine Diskussionsrunde, mit Teilnehmern aus verschiedensten Bereichen. Doch statt für einen sachlichen Dialog, nutzte das überwiegend aus Waldhof-Fans bestehende Publikum diese Bühne, um den Pressesprecher der Polizei, Martin Boll, zu attackieren.
Von Minh Schredle
Gleich zu Beginn seiner eröffnenden Ansprache sagte Herr Dr. Nieß, der das Institut für Stadtgeschichte leitet:
Wir freuen uns, dass dieses Thema bei der Bevölkerung so ernst genommen wird wie es ist.
Fast 100 Besucher sind gestern Abend erschienen. Gut durchmischt sind jung und alt vertreten gewesen. Die Männer zwar deutlich in der Überzahl, trotzdem überraschend viele Frauen, für ein vermeintliches Männerthema: Es geht um Fangewalt im Fußball. Gerade in Mannheim ein brandaktuelles Thema: Schließlich sorgten Krawalle und Ausschreitungen rund um den SV Waldhof regelmäßig für Aufsehen und verursachten große Diskussionen über die Zukunft des Traditionsvereins.
In den Medien war von „neuen Dimensionen der Gewalt“ zu lesen. Von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“. Das ist maßlos übertrieben, findet Dr. Rudolf Oswald. Er ist am Institut für Fankultur in Würzburg tätig und war gestern Abend im Mannheim, um einen Vortrag über Gewalt im Fußball zu sprechen.
Eine veränderte Identitätsfrage
Herr Oswald begann ganz bei den Wurzeln: Der Gründung des SV Waldhofs im Jahr 1907. Heutzutage seien viele Leute Fans, weil ein Verein erfolgreich ist oder Kultstatus besitzt. Damals seien die Umstände ganz andere gewesen:
Ein Fußballverein war wie das Aushängeschild der Kommune oder des Stadtteils. Bei Begegnungen mit Rivalen stand die lokale Ehre auf dem Spiel. Dass es dabei zu gewaltsamen Ausschreitungen kam, war eigentlich der Regelfall.
Herr Oswald zitiert Zeitungsartikel aus diesen Tagen. Was man zuhören bekommt, ist kaum zu fassen.
Spieler, die Schiedsrichter ohrfeigen und den Platzverweis einfach ignorieren. Fans, die in Tausendschaften aufeinander losgehen. Bei einer Begegnung zwischen Sandhofen und Käfertal vor dem ersten Weltkrieg musste der Schiedsrichter am Ende evakuiert werden. Von einem Dutzend Polizisten. Mit gezückten Säbeln! Ein Reporter von damals schrieb:
Fehlt nur noch, dass die anfangen zu schießen.
Nach dem historischen Exkurs springt Herr Oswald wieder in die Gegenwart. Es geht um den 25. August 2013. Als er das Datum anspricht, geht ein Raunen durch die Menge. Viele der Anwesenden sind Waldhof-Fans. Sie waren beim Heimspiel gegen die Kickers Offenbach dabei. Als das erste Mal in der Mannheimer Sportgeschichte mit Wasserwerfern gegen Zuschauer vorgegangen wurde. Die Stimmung im Raum ist deutlich angespannter.
Herrn Oswald bringt das nicht aus der Ruhe. Langsam und bedacht fährt er fort:
Vor allem, wenn man der Aufarbeitung in den Medien Glauben schenkt, tun sich Parallelen auf. Aber der Vergleich ist oberflächlich und pauschalisierend. Es gibt nämlich entscheidende Unterschiede. Heutzutage ist es lange nicht mehr das ganze Stadion, dass in blinde Zerstörungswut verfällt. Hier sind 95 Prozent friedlich und vollkommen unschuldig. Die werden schlecht dargestellt durch ein paar gewaltbereite. Außerdem verlaufen die allermeisten Spiele friedlich. Die Stadien in Deutschland sind eigentlich friedliche Orte.
Die Ausnahme bedingt den Skandal?
Er führte eine Statistik an, dass es pro Spiel im Schnitt 1,5 Verletzte gäbe – dies sei eine „gute Bilanz“.

Dr. Oswald: „Von neuen Dimensionen der Gewalt zu sprechen, ist maßlos übertrieben.“
Herr Oswald kritisierte außerdem deutlich die Arbeit der Medien und warf einiger Berichterstattung Sensationsgier vor. Schließlich endete er mit den Worten:
Früher waren die Ausschreitungen noch wesentlich brutaler. Von neuen Dimensionen der Gewalt zu sprechen, ist also vollkommen unangebracht. Es ist die Ausnahme, die den Skandal bedingt.
Tosender Beifall aus dem Publikum für diese Worte – ich bin eher skeptisch. Er hat sicher recht, dass es „neue Dimensionen der Gewalt“ eine maßlose Übertreibung ist. Aber darf irgendetwas weniger skandalös sein, weil es früher Gang und Gebe war und irgendwann mal deutlich häufiger auftrat?
Ein vielfältiges Meinungsspektrum in der Diskussionsrunde…
Dem Vortrag folgte eine Podiumsdiskussion unter der Moderation von Martin Willig. Er ist teil des Fanprojekts Mannheim/Ludwigshafen. Man war sichtlich darum bemüht, ein möglichst breites Spektrum an Meinungen und Standpunkten zu vertreten.
Außer Herrn Oswald nahmen nämlich noch Waldhof-Fan Martin Schmidt, Spiegel-Journalist Rafael Buschmann, der Pressesprecher der Polizei Martin Boll, der Geschäftsführer des SV Waldhof Andreas Laib und Erster Bürgermeister Christian Specht teil.

Die Diskussionsrunde von links nach rechts: Andreas Laib, Rafael Buschmann, Martin Boll, Martin Willig, Martin Schmidt, Rudolf Oswald, Christian Specht.
Die Kommunikation zwischen Polizei und Fans habe sich ein bisschen verbessert, behauptet der Moderator und erntet Hohn und Spott aus dem Publikum. Vor allem aus einer Ecke kommt grölendes Gelächter und ein beleibter Fan setzt kurz sein Bier ab, um zu rufen, dass dies ja wohl ein schlechter Scherz sei. Die Stimmung wird angespannter.
Die Hörerschaft ist gerade nicht sonderlich diszipliniert. Viele wollten offenbar nur den Vortrag hören. Noch während Herr Willig die einzelnen Gäste ankündigt, verlässt fast ein Drittel der Besucher den Saal. Die meisten bemühen sich nicht einmal im Ansatz, das leise zu tun.
… und ein deutlich parteiisches Publikum
Mit diesem Publikum umzugehen, ist nicht einfach, zumal es enorm parteiisch war. Der Waldhof-Fan Martin Schmidt und Geschäftsführer Andreas Laib konnten sagen, was sie wollten – fast jeder Satz wurde mit Beifall bedacht. Ähnlich war es mit dem Spiegel-Reporter Rafael Buschmann und Dr. Oswald: Sie hatten offenbar den Respekt der Fans gewonnen und konnten wenigstens immer ausreden.
Ganz anders war es mit dem Ersten Bürgermeister und dem Pressesprecher der Polizei. Während es gegen den Erstgenannten eine leichte Abneigung gab, lag gegen Martin Boll eine regelrechte Feindseligkeit vor. Von einem offenen Dialog sind Fans und Polizei noch weit entfernt. Als der Wasserwerfereinsatz noch einmal angesprochen wird, ist die Stimmung kurz davor, zu explodieren.
Unglückliche Wortwahl
Herr Boll wählte seine Worte unglücklich. Der Wasserwerfereinsatz habe eine Menge Einsatzkräfte gespart und sei sehr nützlich gewesen. Diese Formulierung entfachte den Zorn der Fans. Mit seinen Versuchen, den Einsatz zu rechtfertigen, heizte er das Publikum nur noch weiter auf.
Früher waren Wasserwerfer noch ganz anders. Der, den wir verwendet haben, hatte viel weicheres Wasser. Da ging es nur darum, die Leute ein wenig nass zu machen, nicht sie wegzuspritzen. Wer mir nicht glaubt, dass da ein Unterschied ist, dem kann ich das gerne mal demonstrieren.
Buh-Rufe und zynisches Gelächter folgen als Reaktion. Dabei stimmt, was er sagt, genaugenommen: Inzwischen sind Wasserwerfer regulierbar, auf niedrigster Stufe ist der Strahl keine Gefährdung für die Gesundheit.
Ich war nicht vor Ort als es zu diesem Vorfall kam. Ich kann nicht beurteilen, wie angemessen der Einsatz war. Die Polizei sieht sich im Recht. Sie habe vor dem Einsatz vier Warnungen ausgesprochen und genügend Gelegenheit gegeben, sich zurückzuziehen. Die Fans sehen sich als Opfer. Eine Rückzug soll räumlich gar nicht möglich gewesen sein und die Härte des Einsatz schlichtweg unangebracht hart – außerdem seien auch friedliche Zuschauer von den Maßnahmen betroffen gewesen zu sein.
Reaktion im Affekt?
Die offen gehegte Feindseligkeit des Publikums muss eine enorme psychologische Belastung für Herrn Boll gewesen sein. Seine Äußerungen sind natürlich dennoch fragwürdig. Trotzdem ist es wohl einfach menschlich, kurz die Beherrschung zu verlieren, nachdem man unverholen eine halbe Stunde blanken Hass zu spüren bekommt. Fast alle Zuschauerfragen richteten sich an den Pressesprecher der Polizei. Vermutlich wusste Herr Boll, was ihm bevorstehen würde, als er sich bereit erklärte, an der Diskussion teilzunehmen. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er es dennoch getan hat.

Martin Willig machte seine Arbeit als Moderator hervorragend und schaffte es immer wieder, das aufgebrachte Publikum wieder ein wenig zu beruhigen.
Als neutraler Beobachter wurde es zunehmend unangenehmer. Die ganze Situation ist unberechenbar. Immer lauter die Zwischenrufe, immer polemischer die Beleidigungen. Die gute Moderation verhindert eine mögliche Eskalation. Herr Willig schafft den Dialog mit dem Publikum, bringt es wieder zu Disziplin und beruhigt es schließlich.
Als Letzter meldete sich ein Zuschauer aus Bayern. Als er erwähnte, Fan von Bayern München zu sein, folgte erst mal Gegröle. Im Grunde stellte er gar keine Frage, sondern betonte nur, wie gut es den Fußball-Fans in Mannheim ginge. In München gebe es bei Spielen keinen Einsatzleiter, sondern einen „Terrorbeauftragten“. Niemand mache sich die Bemühungen, den Dialog überhaupt zu suchen.
Inzwischen ist es mucksmäuschenstill – alle hören ihm völlig ruhig zu: In Mannheim könne man sich glücklich schätzen, dass Ausschreitungen die Ausnahme wären. Was letztendlich auch der Arbeit der Polizei zu verdanken sei. Die mutige Ansage inmitten der aggressiven Fans zahlt sich aus: Auf einmal applaudieren alle. Vermutlich sind die Waldhof-Fans wirklich nicht so schlimm, wie sie gerne dargestellt werden oder sich darstellen.