Mannheim, 10. November 2015. (red/nh) Die Augen sind der Spiegel der Seele. Ein Blick in die Augen erzählt Geschichten über den Menschen. Luigi Toscano erzählt nach der imposanten Ausstellung der Fotos an der Fassade der Alten Feuerwache mit seinen beeindrucken Porträts viele Geschichten – von Überlebenden des Holocaust. Beeindruckend authentisch und sehr berührend portraitiert er in seinem Buch „Gegen das Vergessen“ 125 Menschen, die den Nazi-Terror überlebt haben.
Von Naemi Hencke
Dieser direkte Blick. Wow. Er zieht mich sofort in seinen Bann. Ich kann gar nicht anders, als diesem alten Mann in seine blauen Augen zu schauen. Sie sind etwas getrübt, strahlen aber eine faszinierende Tiefe aus.
Vor mir liegt der Bildband „Gegen das Vergessen“ von Luigi Toscano. Ich nehme das Buch in die Hand. Es wiegt schwer. Sehr schwer.
Gegen das Vergessen heißt, Fragen zu stellen. Wer ist dieser Mensch? Wo kommt er her? Was ist seine Geschichte?
Auf der Suche
Luigi Toscano hat sich auf eine lange und weite Reise begeben, auf der Suche nach Überlebenden des Holocaust. Diese Reise führte ihn von Mannheim nach Russland, die Ukraine, in die USA und nach Israel. Er trifft insgesamt über 200 Zeitzeugen. Für jeden dieser Menschen nimmt er sich viel Zeit, führt lange, intensive Gespräche. Er fokussiert ihre Gesichter – die sind alt und faltig, die Porträts lebendig.
Man meint zu wissen, dass alle Portraitierten ihren ganzen Mut zusammen nehmen mussten, über ihre Erinnerungen zu sprechen und diesen Erlebnissen ein Gesicht zu geben. Ihr Gesicht. Ihre Augen. Ihre Seele.
Spuren des Lebens
Die Fotografien von Toscano wirken nicht inszeniert – aber selbstverständlich sind sie das. Die mit einer Ringleuchte aufgehellten Gesichter stehen im totalen Kontrast zum schwarzen Hintergrund – eine klare, bildliche Metapher für die dunklen Geschichten, die hinter diesen Menschen liegen. Manche sind sehr, sehr traurig, mancher Blick ist fast erloschen, andere sprühen vor Lebenslust.
Und alle reden mit dem Betrachter, berühren ihn, machen nachdenklich. Gegen das Vergessen.
Erinnerungsraum
In kurzen Texten neben den Fotos kommen diese Menschen zu Wort. Toscano gibt ihnen Raum für ihre Erinnerungen.
Lev Selezney erzählt erschreckend lebendig von seiner Flucht in den Wald, verfolgt von einem Flugzeug:
(…) Der Pilot schießt auf mich und lächelt.
Dann eine bloße Aufzählung der Namen der Massenvernichtungslager.
KZ Auschwitz – KZ Oranienburg – KZ Landberg – KZ Landshut – KZ Dachau,
Hermann Spiegel erinnert sich. So knapp. So vielsagend.
Die Textpassagen sind sehr schwer zu entziffern. Die Worte verschwimmen vor den Augen und man hat den Eindruck auf ein Gebilde von kryptischen Zeichen zu starren.
Erst ärgert mich der Schriftsatz. Wieso ist das Layout so schwer lesbar? Dann verstehe ich. Man wird gezwungen, sich die Geschichten zu erarbeiten. Hier soll sich nichts einfach wegkonsumieren lassen. Es werden im Wortsinn „Zeichen gesetzt“. Nur so funktioniert ein Gegen das Vergessen.
Und es erleichtert mich – denn so kann ich selbst bestimmen, wie schnell und wie weit ich die Worte an mich heranlasse. Denn fast alle Geschichten sind schwer.
Gegen das Vergessen
Gegen das Vergessen ist ein Buch mit beeindruckenden Fotos. Hochwertig hergestellt, ein optisches und haptisches Erlebnis.
Dieses Werk ist zudem voller Hingabe und Zärtlichkeit. Voller Respekt und Anteilnahme. Und vor allem voller Demut. Über und mit Menschen, die den Holocaust überlebt haben. Wie auch immer.
192 Seiten, 125 Portraits
29,80 €
ISBN: 978-3-89823-518-1