Rhein-Neckar/Berlin, 20. Dezember 2016. (red/pro) Wir haben gestern wie viele Medien zu ersten Informationen über einen Lkw berichtet, der über den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gedonnert ist und dabei mehrere Menschen getötet und zum Teil schwer verletzt hat. Jetzt ist klar: Es gibt 12 Tote und 49 zum Teil schwerverletzte Menschen. Zunächst haben wir offen gelassen, ob es sich um einen Anschlag, eine Amokfahrt oder einen Unfall handelt, obwohl sich die Hinweise auf einen Terroranschlag verdichteten. 14 Stunden später fehlen eindeutige offizielle Angaben. Medien behaupten, die Behörden informierten „gut“ – doch das ist nicht der Fall.
Kommentar: Hardy Prothmann
Was allen klar war und sich nach den „erfolgreichen“ Anschlägen von Ansbach und Würzburg bereits abzeichnete ist nun keine „abstrakte Gefahr“ mehr: Deutschland ist im Visier von Terroristen. Diese greifen „weiche Ziele“ an. Wir sind verletzbar – jederzeit in jedem Ort.
12 Tote und 49 Verletzte. Sonst gibt es keine Informationen zu den Opfern. Sind Kinder darunter? Touristen? „Wichtige“ Persönlichkeiten? Wie viele schweben in Lebensgefahr? Keine einzige offizielle Info.
Was ist Schein, was Sein?
Wie wenig die Behörden auf den Ernstfall vorbereitet sind, zeigt sich an Details, wenn man zwischen den Zeilen liest. Verschiedene Medien vermelden wie sich dieses oder jenes Bundesland äußert – eine klare Linie ist nicht erkennbar. In Baden-Württemberg will sich Innenminister Thomas Strobl (CDU) um 12 Uhr in einer Pressekonferenz äußern. Woher wir das wissen? Wir haben das Polizeipräsidium Mannheim noch am gestrigen Abend kontaktiert und später mit Fragen zu Maßnahmen angeschrieben. Erst eine telefonische Nachfrage am Vormittag ergab die Antwort, dass der Innenminister informieren würde und bis dahin keine Informationen durch das Präsidium zu erhalten seien.
Weiter brauchte das Bundeskriminalamt am gestrigen Abend Stunden, bis ein Upload-Portal für Videos und Fotos eingerichtet war – bis dahin gab es dafür ständig Twitter-Meldungen, man solle keine Videos und Fotos im Internet hochladen, um Persönlichkeitsrechte von Opfern zu achten.
Überhaupt Twitter. Ja, die Polizei Berlin hat sehr viel getwittert. Aber auch sehr redundant. Eine zusammenfassende Pressemeldung gibt es nicht, ein Verteiler für Redaktionen gibt es auch nicht.
Die Zeitung „Die Welt“ will erfahren haben, dass es sich bei dem mutmaßlichen Tatverdächtigen um einen 23-jährigen Pakistani handeln, der vor einem Jahr über Passau nach Deutschland eingereist sein soll. Der tote Mann im Lkw könnte der polnische Fahrer des Sattelschleppers sein – wie er zu Tode gekommen ist, teilen die Behörden bislang nicht mit.
Was gesichert feststeht:
Gegen 20 Uhr rast der dunkelgraue Lkw der Marke Scania von der Budapester Straße auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz unterhalt der Gedächtniskirche. Er walzt etliche Buden nieder und überfährt Menschen. Nach rund 50-80 Metern kommt er zum Stehen. Der Fahrer flüchtet. Ob er bewaffnet war, keine Information.
Er wird von einem Zeugen verfolgt, der die Polizei über Handy ständig informiert. An der Siegessäule nimmt die Polizei die Verfolgung auf und stellt den Mann nach ein bis zwei Kilometern Verfolgung im Tiergarten. Ob der Mann Widerstand leistete, verletzt worden ist, keine Information. Der Mann wird nach Karlsruhe verbracht, wo der Generalbundesanwalt (GBA) die Ermittlungen übernommen hat und den Tatverdächtigen verhören soll.
Am Abend wurden zunächst neun Tote und rund 50 Verletzte genannt. Gegen Mitternacht wurden 45 Verletzte präzisiert. Am Morgen melden die Behörden 12 Tote und 49 Verletzte. Beim toten im Lkw soll es sich um den polnischen Fahrer halten. Er und der Sattelschlepper, der Stahlkonstruktionen geladen hatte, wurden offenbar durch den Tatverdächtigen entführt. Weshalb der Mann tot ist, ist aktuell nicht bekannt.
Vor Ort in Berlin ist der Tatort weiträumig abgesperrt. Sieben Berliner Staatsanwälte unterstützen die Ermittlungen des GBA, das wiederum das Bundeskriminalamt beauftragt hat. Damit sind die Ermittlungsarbeiten der Berliner Polizei entzogen, die jetzt unterstützend wirkt.
Was der Anschlag nun für die Sicherheitslage überall in Deutschland bedeutet? Niemand weiß es genau. Verschiedene Politiker drücken ihr Entsetzen aus und ihr Mitgefühl mit den Opfern. Philippe Pradal, Bürgermeister von Nizza, meldet sich und vergleicht den Anschlag mit dem vom 14. Juli 2016, als ein Lkw bei einem Fest über die Strandpromenade raste: Mindestens 86 Menschen verloren ihr Leben.
Eine Flüchtlingsunterkunft im alten Tempelhofer Flughafen wird von 200 Polizisten gestürmt. Vier Männer werden verhört. Eine Festnahme gibt es nicht.
Dann wird bestätigt, dass ein 23-jähriger Tatverdächtiger aus Pakistan gefasst sein – später kommen Zweifel auf. Der Mann ist vermutlich nicht der Tatverdächtige – der läuft frei herum und ist bewaffnet. Denn der eigentliche Fahrer des Lkw, ist erschossen worden.
Terror ab demnächst „Alltag“?
Verschiedene Medien berichten, es habe im Vorfeld Hinweise auf einen geplanten Anschlag in Berlin gegeben. Uns war diese Information neu – hätten die Behörden nicht darüber offensiv informieren sollen? Hier wird es möglicherweise einige Fragen zur Verantwortlichkeit der Behörden geben.
Es gibt Aufrufe, nicht in Panik zu verfallen. Niemand muss in Panik verfallen, das ist soweit richtig. Aber jeder muss für sich abschätzen, welches Risiko man für sich persönlich einzugehen bereit ist. Der öffentliche Raum ist zunehmend ein Sicherheitsrisiko. Ob im Zug, in Bahnhöfen oder Flugplätzen auf Festen und Märkten – eben überall da, wo viele Menschen sind und Terroristen einen möglichst hohen „Body-Count“ durch Anschläge erzielen können.
Die Terroristen kommen aus allen Ländern: Ansbach – ein Syrer. Würzburg – vermutlich ein Afghane. Berlin – vermutlich ein Pakistani. Der Syrer baute einen Sprengsatz, der Afghane hatte Messer und Axt, der mutmaßliche Pakistani einen Lkw als Waffe.
Nicht zu vergessen sind die kleinen Anschläge und die, die noch verhindert werden konnten. Der Messerangriff einer Jugendlichen auf einen Polizisten in Hannover. Der Anfang Oktober festgenommene 22-jährige Syrer Jaber al-Bakr, in dessen Wohnung die Polizei 1,5 Kilogramm des hochgefährlichen Sprengstoffs TATP sicherstellte – der Tatverdächtige war schlecht bewacht und konnte sich in seiner Zelle in Leipzig erhängen.
Anfang Dezember wird in Ludwigshafen ein 12-jähriger deutsch-irakischer Junge festgenommen – der soll versucht haben, eine „Nagelbombe“ auf dem Weihnachtsmarkt in Ludwigshafen zur Explosion zu bringen.
Bis vor nicht allzu langer Zeit war Deutschland ein sehr sicheres Land – diese Sicherheitslage verändert sich zunehmend negativ. Wer das leugnet und relativiert, soll bitte die Angehörigen der Opfer besuchen, diesen das ins Gesicht sagen und sich anhören, was diese dazu denken.