Schwetzingen/Rhein-Neckar, 12. Februar 2014. (red) Sie fliehen aus ihrer Heimat. Sie haben viel Leid erfahren. Deutschland ist für Flüchtlinge aus der ganzen Welt das Ziel ihrer Hoffnungen. Doch in der Realität werden sie abgestellt. Auf einem Parkplatz. Vollgestopft mit Containern. Jeder Gang zur Toilette führt über einen zugigen, kalten “Hof”. Vor allem für die Frauen und Mütter und die vielen oft sehr kleinen Kinder ein Ort der dauerhaften Beschämung. Doch das allerschlimmste, das wirklich allerschlimmste, sagt ein junger Mann, ist die Nutzlosigkeit dieses Lebens. Und die Langeweile.
Von Hardy Prothmann
Ich war vor einigen Wochen schon einmal hier. Ein Parkplatz der verlassenen Kilbourne-Kaserne. An der Friedrichsfelder Landstraße. Maschendrahtzaun um das Gelände. Vorher war noch Stacheldraht obendrauf. Den hat man weggemacht, damit es nicht ganz zu martialisch aussieht. Ein Parkplatz. Hier werden keine Autos mehr geparkt, sondern Menschen. Draußen, weg von der Stadt. Dem schönen Schwetzingen.
Vor ein paar Wochen war hier noch Baustelle. Ab- und Zuleitungen sowie Strom wurden gelegt. Jetzt stehen die Container. Einer wie der andere in kahlem Weiß in langen Reihen. An den Kopfseiten kann man die Container betreten. Dann steht man im Flur. Und sieht alle paar Meter eine Tür. Vor den Türen stehen Schuhe, Roller, Kinderwägen. Ab und an geht eine Tür auf. Die Menschen gucken verduzt. Man steht ja quasi im Hausflur und je nachdem, wo man steht, guckt man direkt in deren “Wohnung”. Intimität gibt es hier nur, solange die Tür zu ist. Die Türen gehen aber oft auf, weil man es nicht lange in den engen Räumen aushält.
Wenn man als Besucher nicht bedrohlich wirkt, lächeln die einen freundlich und grüßen, manche verhalten sich schüchtern.
Kinder zum Container schleppen. Auf’s Klo. Und zurück.
Es ist laut. Man hört Radios aus verschiedenen Zimmern, Kindergeschrei. Irgendwo wird laut diskutiert. Von draußen kommt eine Frau rein. Sie schleppt zwei volle Wassereimer. Sie kann ein wenig deutsch. Sie will ihr Kleinkind waschen. Im Zimmer.
Stattdessen könnte sie auch das Kind nehmen und über den Hof rund 30 Meter weiter in den Sanitär-Container gehen. Dort sind die Duschen, Toiletten für Männer und Frauen getrennt untergebracht – aber in demselben Containerkomplex. Die Türen sind offen, sonst könnte man ja nicht rein. In diesem Komplex sind auch die drei Container mit den “Küchen”.
Je vier Herde stehen an der Wand, es gibt Waschbecken und gegenüber den Herden eine Ablage. Wer hier kocht, bringt seine Töpfe, seine Nahrung, sein Kochwerkzeug mit:
Du musst immer alles dabei haben. Und dann schleppst Du alles zurück ins Zimmer. Und von da wieder zum Waschen in die Küche,
erzählt ein Mann, den ich beim Kochen antreffe. Frauen, die für die Familie kochen, brauchen immer ihren Mann, weil sie die schweren Töpfe nicht alleine über den Hof tragen können.
Im Schwetzinger Jungle-Camp ist die Küche der verlassenste Ort. Ein Raum, den man sonst sucht, hier aber meidet.
Überall auf der Welt ist die Küche der zentralste Ort im Leben der Menschen. Im Schwetzinger Camp ist es der verlassenste Ort der Welt, den man kurz aufsucht und ansonsten meidet.
Wer duschen will, nimmt auch alles mit, geht in den Sanitär-Container. Reinigt sich, zieht sich wieder vollständig an, nimmt alles wieder mit. Und wer auf Toilette muss, geht auch immer wieder über den Hof. Nachts ist hier immer was los. Kinder, die nachts müssen, werden angezogen. Die Mütter ziehen sich an. Vielleicht schlafen sie auch in der Kleidung, wenn sie mehrere kleine Kinder haben, und ausziehen und anziehen zu viel ist. Über den Hof in den Sanitäts-Container und wieder zurück. Und die Frauen begleiten auch die größeren Kinder, weil es stockfinster und einsam ist. Und man Kinder nicht allein solche Wege gehen lässt. Zumindest, wenn man sie lieb hat. Und diese Mütter haben ihre Kinder lieb. So wie die allermeisten Mütter auf der Welt.
Ein junger Mann aus Afghanistan spricht mich an. Er ist neugierig freundlich und kann nach einem halben Jahr schon erstaunlich gut deutsch. Er spricht auch gut englisch. Hat einen Bachelor in IT, erzählt er. Dafür braucht er englisch. Er ist wie viele andere junge Männer aus seinem Land geflohen, weil ihn sonst die Taliban geschnappt hätten:
Wenn die Taliban Dich kriegen, bist Du tot. Entweder ermorden sie Dich oder Du wirst Kämpfer, dann stirbst Du irgendwann bei einem Gefecht oder sie “trainieren” Dich in Pakistan bis Du verrückt im Kopf bist und Dich irgendwo mit einem Bombengürtel in die Luft jagst.
Er erzählt ganz ruhig. Bedächtig. Wie die anderen 130 Flüchtlinge war er von der Erstaufnahmestelle in Karlsruhe im August nach Ladenburg gekommen. Eigentlich hätte Schwetzingen schon im Oktober bezugsfertig sein sollen. Vier Monate nach diesem Termin ist das Camp immer noch nicht fertig. Bodenverkleidungen fehlen noch. Die Container stehen auf Betonplatten. Damit keine Kinder drunter kriechen, braucht es die Abdeckungen. Wie fühlt er sich in dem Lager?
Ich habe schon Schlimmeres gesehen. Gut ist hier, dass die Menschen freundlich sind. Nicht so wie im Iran. Da sind Afghanen nichts wert. Auch in Ungarn behandelt man die Flüchtlinge schlecht. Das Lager ist, wie sagt man, bleak? Danke, trostlos. Vor allem für die Frauen und Kinder. Hier ist es wie im Dschungel. Nur kälter.
Das Schlimmste ist die Zeit. Die lange Weile.
Natürlich sagt er die Sätze nicht so korrekt, aber für die kurze Zeit spricht er schon sehr gut. Gestern war er einkaufen. Ehrenamtliche Helfer aus Schwetzingen unterstützen die Menschen hier. Fahren sie zum Einkaufen. Es sind sonst 800 Meter bis zum Bus. Und die meisten kennen sich noch nicht aus. Wissen nicht, wo sie aussteigen müssen, um einkaufen zu können oder wo sie Geld holen können.
In Ladenburg hat man uns Konten eingerichtet, bei der Sparkasse. Aber hier können wir mit der Karte keine Auszüge drucken. Und wenn wir Geld abheben, kostet das eine Gebühr. Das ist hart, denn wir haben wenig Geld.
Natürlich würde er gerne arbeiten. Das darf er aber nicht. Seine Augen blitzen, seine Ausstrahlung ist aufgeweckt und zugewandt. Er hält Blickkontakt. Redet sehr bewusst. Er will sich mitteilen.
Weißt Du, was das Schlimmste ist? Die Zeit. Jeder Tag ist so lang. Doch es gibt nichts zu tun. Ich habe keine Aufgabe. Ich bin dazu verdammt, vollkommen nutzlos zu sein. Und meine Lebenszeit läuft ohne Sinn weg. Unaufhaltsam. Die Langeweile ist das allerschlimmste. Ich bin durch meine Flucht dem Tod entkommen. Jetzt warte ich. Auf was, weiß ich nicht.
“Ich möchte endlich ein legaler Mensch sein.”
Ein anderer erzählt, dass er sein halbes Leben auf der Flucht ist. Er ist 28 Jahre alt. Mit vierzehn ebenfalls vor den Taliban geflohen.
Ich bin Hazara. Und die Taliban verfolgen uns, weil wir asiatisch aussehen. Niemand hier weiß von dem Rassismus in Afghanistan.
Er hat nie eine Schule besucht, kann aber lesen und schreiben, das hat er sich selbst beigebracht:
Ich will einfach nur irgendwo in Frieden und Ruhe leben können. Und was lernen. Etwas zu wissen, ist gut. Und ich möchte endlich ein legaler Mensch sein. Seit vierzehn Jahren bin ich illegal. Warum? Ich habe niemandem etwas getan.
In dem Minizimmer leben drei Afghanen. Außer zum Schlafen sind sie meist nicht alle zusammen im Zimmer. Am kleinen Tisch haben nur zwei Platz. Das Fenster ist gekippt, denn die Luft verbraucht sich schnell in dem kleinen Raum. Unter dem Fenster befindet sich ein Elektroheizkörper. Zwei Betten sind als Stockbett gebaut und stehen an der Wand, das andere gegenüber. Dazwischen ein Tisch. Zwischen Betten und Tisch ist kaum Platz. An der Wand stehen Spinte, wie man sie aus Umkleidekabinen im Sportverein kennt. Hierin befindet sich alles: Kleidung, Verpflegung, Kochgeschirr, Habseligkeiten.
Der Krieg in der Heimat ist noch überall – selbst, wenn er schon lange vorbei ist.
Draußen auf dem Hof spielen fünf Mädchen auf dem Asphalt. Spielgeräte gibt es hier nicht. Sie reden miteinander – in verschiedenen Sprachen. Irgendwie verstehen sie sich. Aber die Verständigung ist zäh. Während sie sich etwas zu erklären versuchen, kommen Männer und Frauen vorbei. Gehen auf die Toilette oder zum Kochen.
Dann fährt ein Audi mit Heilbronner Kennzeichen vor. Der Fahrer unterstützt hier Familienangehörige:
Ich bin 1994 aus dem Kosovo geflohen und lebe seitdem in Deutschland wie ein normaler Mensch. Ich habe gute Arbeit. Ob meine Verwandten anerkannt werden? Weiß ich nicht, die Chancen stehen schlechter. Wir haben zwar keinen Krieg mehr – aber der Krieg ist noch überall. Viel ist zerstört, die Infrastruktur schlecht und es gibt immer noch Verfolgung durch die, die an der Macht sind.
Der junge Afghane kommt wieder vorbei, jetzt hat er Sportsachen an.
Ich gehe jetzt joggen. Früher habe ich Karate trainiert. Hier versuche ich mich mit Jogging und Gymnastik fit zu halten. Eine andere Möglichkeit für Sport habe ich nicht. Und ich vertreibe mir damit die Zeit. Und das Handy-Netz ist hier so schlecht, dass man eigentlich nicht telefonieren kann. In dem Stadtteil nebendran ist es besser. Da versuche ich kurz jemanden anzurufen.
Dann läuft er los. Leichtfüßig. Er ist schlank und hat eine sportliche Figur. Wenn er joggt, kommt er raus aus dem Camp. Er ist aus seiner Heimat geflohen. Das Camp für Monate seine neue Heimat. Täglich läuft er mehrmals vor dieser weg. Und kommt zurück. Denn eine andere Möglichkeit hat er nicht.
Ich lasse die Worte und Eindrücke auf mich wirken. Es ist tatsächlich vollkommen trostlos hier. Viel besser wäre es, die Familien hätten Küchen, dafür aber kleinere Schlafzimmer. Hier sind aber alle Zimmer gleich. Familien, die aus mehr als drei Personen bestehen, bekommen zwei Zimmer – aber ohne Verbindungstür. Man muss immer über den Flur in das andere Zimmer.
Hier ist nichts. Hier ist das Nichts.
Obwohl diese Unterkunft schon lagen fertig sein sollte, gibt es noch keine Sozialräume. Die wird auch niemand nutzen, weil sie ebenso trostlos sind, wie die anderen Zimmer auch. Am Rand steht ein Müllcontainer – übervoll. Mülltonnen habe ich keine gesehen. Mülltrennung kann hier nicht stattfinden. Hier wird alles in denselben Container geworfen. Und wenn der voll ist, davor.
Integrieren können sich die Menschen an diesem Standort nicht. Hier ist nichts. Hier ist das Nichts. Leere Kasernen, eine laute Straße und hinter dem Camp ein Wald. Der “Dschungel”. Menschen, die die Asylbewerber besuchen wollen, müssen den Weg hierher in Kauf nehmen und umgekehrt. Die Kinder kann man mit Fahrrädern nicht auf die Straße lassen und auch für Erwachsene ist das nicht zu empfehlen. Eine Telefonzelle oder eine Möglichkeit, ins Internet zu gehen gibt es hier auch nicht. Auch kein Kulturangebot, kein Kaffee.
Hier sollen bis zu 300 Menschen am Rande der Zivilisation leben. Viele Asylverfahren dauern bis zu zwei Jahren. Verlorene Zeit. Tatsächlich.
Wie hatte mich der Afghane vorhin doch begrüßt?
Welcome to the jungle.
Natürlich stimmt der Vergleich so nicht. Das Camp liegt am Schwetzinger Wald, der ein schönes Erholungsgebiet ist. Der wahre Dschungel aber ist das undurchdringliche Dickicht der behördlichen Verwaltung, die nur die bekannten Trampelpfade kennt und keine neuen Wege beschreiten will.
Hinweis: Namen und Geschichten der Flüchtlinge sind verändert, um sie zu schützen. Was uns erzählt wurde, haben wir wiedergegeben, ob es wahr ist, können wir nicht prüfen. Was wir prüfen konnten, haben wir entsprechend dargestellt.