Frankenthal/Rhein-Neckar, 30. Januar 2019. (red/pro) Aktualisiert. Der wegen Mordes an seiner erst zwei Monate alten Tochter angeklagte David L. (35) kommt möglicherweise bald wieder auf freien Fuß. Sein Verteidiger Alexander Klein hatte erfolgreich Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingelegt. Dieses stellte eine „fehlende Begründungstiefe der Haftfortdauerentscheidung“ fest. Seit Mitte Mai befindet sich der Angeklagte in Untersuchungshaft.
Jeder Mensch hat in Deutschland das Recht auf einen ordentlichen Prozess – dieser Grundsatz ist manchen Medienvertretern und auch Teilen der Bevölkerung offenbar nicht in seiner Tragweite vollumfänglich bewusst.
Als die zwei Monate alte Senna in Frankenthal am 14. Mai 2016 in Folge massiver Schädelverletzungen nach einem Sturz vom Balkon einer Wohnung im zweiten Stock noch vor Ort verstarb, war der „Täter“ schnell ausgemacht. Der damals 33-jährige David L. wird als Tatverdächtiger verhaftet und kommt in Untersuchungshaft.
Strafkammer überlastet
Am 10. November beginnt der hoch emotionale Prozess am Landgericht Frankenthal gegen den Mann. Doch dieser steht unter keinem guten Stern. Ab August 2017 kann der Prozess nicht fortgeführt werden, weil die Richterin dauerhaft erkrankt ist. Der Prozess muss im Dezember neu beginnen. Im August 2018 legt Strafverteidiger Alexander Klein eine Haftbeschwerde ein, das Oberlandesgericht Zweibrücken lehnt diese im Oktober ab. Daraufhin wendet sich der Anwalt an das Bundesverfassungsgericht, das eindeutig feststellt, dass die Verfassungsbeschwerde begründet ist. Im Beschluss vom 23. Januar 2019 (2 BvR 2429/18) heißt es:
Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Sie kann selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt. Die Überlastung eines Gerichts fällt in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur rechtzeitigen verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen.
Da der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist, unterliegen Haftfortdauerentscheidungen zudem einer erhöhten Begründungstiefe.
2. Diesen Vorgaben genügt der angegriffene Beschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken nicht. Er zeigt keine besonderen Umstände auf, die die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen lassen könnten.
Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen und dies will nun zügig entscheiden, wie ein Sprecher auf RNB-Anfrage mitteilte. Eine Entscheidung könnte diese Woche fallen. Die Wahrscheinlichkeit, dass David L. auf freien Fuß kommt, ist hoch, denn bislang ist seine Schuld nicht eindeutig festgestellt. Er hat sich zwar zur Sache eingelassen und zugegeben, dass er das kleine Mädchen auf den Armen hatte, bevor es rund ein Dutzend Meter tief stürzte.
Nach seiner Darstellung war es ein Unglück im Drogenrausch, nach anderen Aussagen soll er das Mädchen regelrecht übers Geländer geworfen haben. Die Auffindesituation war etwa 4,5 Meter von der Hauswand entfernt. Beide Varianten des Ablaufs sind denkbar – im Zweifel heißt der Grundsatz aber für den Angeklagten. Deshalb hat der Verteidiger Klein ein physikalisches Gutachten beantragt, neben 26 weiteren Anträgen. Es sollen weitere Zeugen gehört werden und weitere Glaubwürdigkeitsüberprüfungen stattfinden.
Dem Angeklagten ist nicht vorzuwerfen, dass die 1. Große Strafkammer überlastet ist. Es gibt Stimmen, die von einem „Justiz-Skandal“ sprechen. Das wäre dann richtig, wenn das Landgericht nicht selbständig erkannt hätte, dass eine vorausschauende Terminierung nicht erfolgt ist. Hat das Landgericht hingegen gegenüber dem Justizministerium Bedarf angemeldet, wäre es ein politischer Skandal. Was zutrifft, ist uns nicht bekannt.
Welche Verantwortung trägt die Politik?
Laut Bundesverfassungsgericht hat das Landgericht mehrfach die eigene Überlastung „angezeigt“ – das ist ein Hinweis, dass die politische Ebene verantwortlich ist und damit liegt die Verantwortung bei Justizminister Herbert Mertin (FDP). Das Bundesverfassungsgericht führt aus:
Die Terminierung der Strafkammer des Landgerichts genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verhandlungsdichte nicht. Die Strafkammer hat in jedem Betrachtungszeitraum weit seltener als an durchschnittlich einem Hauptverhandlungstag pro Woche verhandelt, zuletzt an nur 0,65 Tagen pro Woche. Die Verhandlungsdichte sinkt noch weiter unter diesen Wert, wenn man die Sitzungstage nicht einbezieht, an denen nur kurze Zeit verhandelt und das Verfahren dadurch nicht entscheidend gefördert wurde. Die vom Präsidium des Landgerichts als Reaktion auf die Überlastungsanzeigen getroffenen Maßnahmen haben nicht dazu geführt, dass die vorliegende Haftsache nunmehr innerhalb des durch das Beschleunigungsgebot gezogenen Rahmens bearbeitet und die bereits eingetretene Verfahrensverzögerung wirksam kompensiert worden wäre.
Der Angeklagte David L. führe sich unauffällig in der Haft, sagt Strafverteidiger Alexander Klein dem RNB. Auch seine Kinder würden ihn seit einigen Monaten regelmäßig in der Haft besuchen.
Bei aller Empörung über eine mögliche Entlassung muss beachtet werden, dass der Rechtsstaat eben nach Recht und Gesetz und nicht nach Willkür handeln darf. Und auch wenn viele den Mann bereits als schuldig „verurteilt“ haben – noch ist der Prozess nicht zu Ende und es ist auch eine tragische Verquickung von Umständen nicht auszuschließen, die zum Tod des Babys führten. Möglicherweise ist der Beschuldigte auch durch einen Drogenrausch schuldunfähig. Verantwortlich ist er – die Frage ist nur, in welchem Umfang.
Finger weg von Drogen
Dieser Fall zeigt wie viele andere, dass Drogenkonsum nicht nur gesundheitlich für die Konsumenten gefährlich ist, sondern tödliche Folgen haben kann. Ob als Familiendrama oder Verkehrsunfall oder unbeabsichtige Selbsttötung, wenn Konsumenten eine Überdosis nehmen, weil der Wirkungsgrad der Droge falsch eingeschätzt wird (typische Ursache beim „goldenen Schuss“).
Insbesondere bewusstseinsverändernden Drogen sind die meisten Menschen nicht gewachsen. Es ist ebenso ein Trugschluss, dass „charakterlich gefestigte“ Menschen ihren Drogenkonsum im Griff haben könnten. Biochemische Prozesse lassen sich nicht kontrollieren und niemand weiß vorher, ob man vielleicht Psychosen oder andere psychische Störungen entwickeln wird. Diese können temporär oder als dauerhafte Schädigung auftreten. Besonders problematisch sind auch synthetische Drogen, weil man nie weiß, welche Stoffe drin sind. Eine einzige Pille kann die falsche sein und ein Leben in einen lebenslangen Pflegefall verwandeln.
Aktualisierung: Der Mann ist nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Zweibrücken am vergangenen Freitag auf freien Fuß gesetzt worden.