Mannheim/Rhein-Neckar, 26. Juni 2017. (red/pro) Ein Student, pardon, Studierender klagt gegen die Universität Mannheim, weil er gerne das Recht haben möchte, Lehrveranstaltungen fern zu bleiben. Unterstützt wird der vom häufig so genannten „Studierendenparlament“ AStA, was kein Parlament ist, sondern der „Allgemeine Studierendenausschuss“. Man will Grundsatzfragen klären. Eine Grundsatzfrage stellt sich außerhalb juristischer Urteile. Warum studiert man eigentlich, wenn man nicht gewillt ist, Lehrveranstaltungen zu besuchen? Und was hat schwänzen mit Schwänzen zu tun? Lesen Sie einen intimen Erfahrungsbericht.
Kommentar: Hardy Prothmann
Sie lesen hier einen sehr persönlichen Kommentar, der Ihnen auch einen tieferen Einblick in meinen „Lebenswandel“, also den Einstieg in meine berufliche Entwicklung eröffnet. Sie können aus diesem Kommentar auch sehr viel über die Ausrichtung der von mir verantworteten Redaktion des Rheinneckarblog erfahren. Der Kommentar ist ein Beitrag im Rahmen der „Montagsgedanken“ mit Fragen zur Zeit, der aktuell Dienstag erscheint, weil er bis Mitternacht nicht fertig war.
Ich kann nur den Kopf schütteln über diese Klage. Sie ist vollständig unsinnig, dabei aber von hoher Relevanz. Wer einklagen will, dass er/sie die Möglichkeit zum Zugang zu Wissenschaft und Bildung grundsätzlich nicht wahrnehmen können möchte, ist absolut im Recht.
Unser Grundgesetz schreibt niemandem vor, sich zu bilden. Ganz im Gegenteil. Unser Grundgesetz ermöglicht allen Menschen, grundsätzlich ihre Meinung zu äußern und für diese einzutreten. Artikel 5 GG legt genau nicht fest, dass damit keine Qualität verbunden sein muss. Selbst die dümmste, abstruseste Meinung ist erlaubt – sofern diese nicht andere Rechtsgüter verletzt. Anders formuliert: Es gibt ein Recht auf Dummheit und deren Äußerung. Tagtäglich erfahrbar – vor allem in sozialen Medien.
Mein erster Berufswunsch war Tierarzt. Mein Vorbild der englische Landtierarzt Dr. James Herriot, dessen Bücher ich als Bub gelesen hatte („Der Doktor und das liebe Vieh“). Ich liebte die Verfilmung und das passte für mich zusammen, weil es so lebensnah für mich war. Ich bin ländlich und mit Tieren aufgewachsen.
Nach dem Abitur ging ich mit dem Hund einer Freundin in eine Kleintierpraxis in der Schwetzinger Vorstadt. Es gab ein Problem an einer Pfote und die Freundin bat mich wegen Zeitmangels um den Dienst. Als ich in dieser Praxis saß, musste ich lange warten und hatte danach den Eindruck, dass der Großteil der Patienten unabhängig von der Begleitung auf zwei Beinen ins Wartezimmer marschierte. Und ich stellte mir vor, wie das wäre, wenn ich den Job machen müsste. Ich hätte vermutlich dem Großteil dieser Patienten deren Tiere sofort zu deren Schutz abgenommen.
Meine Eltern und andere rieten mir aufgrund meiner „Streitbarbkeit“ zum Jura-Studium. Heute bereue ich, dass ich das nicht mindestens als Nebenfach belegt habe. Denn ich habe lernen müssen, dass am Ende alles Juristerei und es von Vorteil ist, wenn man sich einigermaßen auskennt. Andererseits kennt sich kein Jurist mit aller Juristerei aus und deswegen bin ich froh, im Laufe der Arbeit als Journalist grundsätzliche Prinzipien gelernt zu haben, ohne mich im Detail verstricken zu müssen, außer, wenn gerade wieder jemand gegen mich klagt. Da ist jeder Fall anders.
Weil ich eine Leseratte war und im Deutsch-Unterricht exzessive Aufsätze geschrieben habe, die manchen Lehrer überforderten und als älteste „Schwester“ von drei Brüdern schon früh viel Verantwortung lernen musste, meine Eltern nur Volksschule hatten, aber erfolgreich waren und unser Lebensstil über dem von „Doktoren“ lag, weil Frankenthal in meiner Jugend eine Neonazi-Hochburg war und ich oft auch in körperliche Auseinandersetzungen verwickelt war, wenn andere überfallen wurden und ich aufgrund meiner Physis diese Menschen verteidigt hatte – und weil mir ein Student während Fabrikschichten zum Geldverdienen vom Germanistik-Studium erzählt hatte, habe ich mich für Germanistik und Politikwissenschaften an der Universität Mannheim 1989 eingeschrieben. Ich hatte das Gefühl, dass es wichtig ist, sich gesellschaftlich zu interessieren, weil die Welt im Umbruch ist. Zuvor war ich zwei Jahre im Ausland unterwegs gewesen, weil ich noch auf einen Studienplatz für das Tierarztstudium gewartet hatte. Frankreich und Italien haben mir Eindrücke verschafft, die ich auch Deutschland nicht kannte.
Was mich und meine Generation eklatant von heutigen „Studierenden“ unterscheidet. Wir hatten weniger Karriere-Stress, wir waren freier im Kopf, haben mehr ausprobiert – Scheitern inklusive. Viele aus meiner Generation haben sich wie ich das Studium selbst verdient, weil es keine gepuderte Unterstützung gab. Wir hatten auch die Möglichkeit dazu, weil es überwiegend keine Anwesenheitspflicht gab.
Ich habe mich im Sommersemester 1989 eingeschrieben und hatte im Sommersemester 1994 nach zehn Semestern meinen Abschluss als Magister Artium. Gesamtnote: 2.0. Germanistik (1.0) und Politikwissenschaften (3.0). Interessant ist: Die damalige Doktorantin Barbara Pfetsch holte mich bereits im dritten Semester als Hiwi (Wissenschaftliche Hilfskraft), obwohl man dazu eigentlich eine Zwischenprüfung brauchte, die üblicherweise nach dem vierten Semester abgelegt war. Ich war dann lange Zeit für ZUMA (Zentrum für Umfragen, Methoden, Analysen) tätig und habe beispielsweise die Materialsammlung für die CNEP (Comparative National Elections Project) alleinverantwortlich organisiert und durchgeführt. Das war mächtig viel Stress, weil ich ständig Dutzende von Videorekordern programmieren und Schubkarren von Zeitungen kaufen musste. Head war Max Kaase, einer der Gründer der Forschungsgruppe Wahlen.
Dieser Herr Professor Kaase konnte mich nicht leiden, weil ich in den von mir bei ihm belegten Seminaren immer anwesend und vor allem gut vorbereitet war. Seine Methodik war wissenschaftlich in Ordnung, aber kritikwürdig und dazu stellte ich Fragen, was dem Mann nicht gefiel.
Eine seiner Thesen war, dass die ehemaligen Bürger der „Former GDR“ sehr gut auf ein wiedervereinigtes Deutschland vorbereitet seien (bis auf das „Tal der Ahnungslosen“ in Dresden), weil man über „West-Fernsehen“ mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland dort im Wesentliche vertraut sei.
Eine Proseminararbeit zum Thema benotete Herr Kaase mit einer 3.0 und versuchte mich in einer Proseminarsitzung bloß zu stellen:
Wenn ich das so lese… Sie können schon formulieren und stellen steile Thesen auf, Sie angehender Journalist. Halten Sie sich besser von der Wissenschaft fern.
Ich meinte:
Sehr geehrter Herr Professor, darf Wissenschaft nicht gut formulieren und Thesen aufstellen, habe ich Sie richtig verstanden? Stellen Wissenschaftler keine Fragen?
Das ging aus, wie man sich das vorstellen kann. Nicht gerade freundlich.
Was ist damals lernte? Kaase war eine Macht und der versuchte mich „alle“ zu machen, obwohl – oder weil – ich mich doch eigentlich nur sehr angestrengt hatte. Angriff und Verteidigung und dass ein äußerst angesehener Wissenschaftler durchaus die Kontenance verlieren kann, wenn man ihm begründet Zweifel anmeldet.
Heute weiß ich, dass die These des Herrn Kaase weitgehend falsch war. Interessierte nur niemanden, weil er die Kapazität und ich nur Student war. Immerhin: Das Tal der Ahnungslosen führte möglicherweise zu Pegida in Dresden. Diesen Punkt lasse ich vorläufig Herrn Kaase, auch, wenn ich das nicht weiter untersucht habe.
Nach der langen Vorgeschichte zum Punkt: Ja, ich habe viele Vorlesungen geschwänzt, um zu arbeiten oder mich von Parties zu erholen oder die Seele baumeln zu lassen oder um mich mit der hübschen Studentin auf einen Kaffee zu treffen. Aber ich habe an allen Seminare regelmäßig teilgenommen, was meint, ich habe mich vorbereitet und nachbereitet und ich habe manche Vorlesungen mit einem absoluten Gewinn für mein Leben mitgenommen, regelrecht aufgesogen. Ob prüfungsrelevant oder nicht, spielt keine Rolle.
Mein Germanistikstudium habe ich mit sehr gut abgeschlossen, mein Politikstudium nur mit befriedigend. Warum? Weil mir das System zu talarisch war und ich nur bestehen wollte.
Ich fand die Freiheit des Studiums toll. Kein Stundenplan wie an der Schule, kein nine-to-five wie in der Ausbildung. Aber wenn man nicht dabei blieb, war man schnell draußen, weil man nichts mehr verstanden hat. Leistung zu bringen habe ich über meine Jobs erfahren. Am Fließband wird nicht über die Freiheit diskutiert, ob man erscheinen will oder nicht, sondern nur, ob man den Akkord geschafft hat oder nicht.
Also blieb ich dabei und wenn ich mal fehlte, holte ich mir die Infos und arbeitete die nach. Und zwar unter erheblich schwierigeren Bedingungen als heutzutage. Es gab zwar Internet, aber das hatte nichts mit dem von heute zu tun und Mobiles gab es nicht. Quellenarbeit war unweigerlich mit dem Gang zur Bibliothek verbunden – wo ich mich auskannte, weil ich zwei Kurse dazu gemacht und dann über viele Erfahrungen gelernt hatte, wie man mit Quellen und der Suche danach vorgeht.
Es ist vermutlich heute wie damals: Es gibt „Lehrende“, die faszinieren ohne Ende, weil sie eine Gabe dazu haben. Und es gibt solche, die sind zäh wie Leder. Was aber nicht heißt, dass ihre Vorträge nicht von höchster Qualität sind. Es gibt die, die sich wichtig finden und andere, die die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Themen wichtig finden. Manche machen das gut und nachvollziehbar, andere nicht.
Ich habe Philosophie „nebenbei“ studiert, also ein paar Scheine gemacht, meist nicht, sondern nur interessehalber Seminare und Vorlesungen besucht. Über dieses zusätzliche Interesse habe ich unglaublich viel gelernt.
Als germanistisches „Ziehkind“ stand ich unter erheblichem Einfluss von Prof. Dr. Jochen Hörisch, bei dem ich auch meine Magisterarbeit (1.0) geschrieben habe. Er hat prägende, inspirierende Vorlesungen gehalten und seine Seminare waren von dem Esprit der Beteiligung bestimmt. Tatsache ist: Häufig waren nur 20-50 Studenten anwesend und davon haben auch nur eine Handvoll dieses Angebot sinnvoll wahrgenommen.
Faszinierend war der damalige Privatdozent Dr. Peter Rau. Der rauchte eine Mentholzigarette nach der anderen in der Vorlesung (ja, so war das damals) und riss den Saal in seinen Bann:
Für euch sind zwei Dinge // Von köstlichem Glanz: // Das leuchtende Gold // Und ein glänzender Schwanz. // Drum wißt euch, ihr Weiber, // Am Gold zu ergetzen // Um mehr als das Gold // Noch die Schwänze zu schätzen!
Ein Raunen ging durch den Saal, ausgelöst durch die ersten drei Reihen im Hörsaal, besetzt von älteren Damen im Seniorenstudium, die Herrn Rau mit hochroten Wangen an den Lippen hingen und sich an seiner Vorlesung ergötzten, teil hingerissen, teils empört, aber allesamt entfesselt erregt.
Gilt das nur für Weiber? Oder war das etwa,
setzte Herr Rau nach. Raunen und Seufzer gingen durch den Saal. Und manche Dame war beseelt der Ohnmacht nahe. Andere entsetzt über die Vorstellung, wer außer einer Dame wohl noch Interesse an einem Schwanz haben könnte? Heute wird Ehe für alle gefordert – damals war die Thematisierung von Bisexualität oder Homosexualität ein Aufreger.
Was für ein Schauspiel. Als ich das zweite Mal die Vorlesung besuchte, kam ich eine Viertelstunde zu früh. Die vorderen drei Bankreihen waren bereits lückenlos von den Damen besetzt, während sich nach und nach andere Studentinnen und Studenten („Studierende“) in den Saal lümmelten.
Irgendwann wurde von hinten gerufen:
Finden Sie das in Ordnung, dass Sie hier rauchen?
Ein berechtigter Einwand. Aber auch der einzige, den der Rufer jemals eingebracht hat, als ich dabei war. Der Student war mir sonst nie aufgefallen. Herr Rau antwortete:
Ich darf das. Wollen Sie mir das verbieten?
Applaus der Damen. Getuschel auf den Rängen. Thema in der Cafeteria und sicher auch beim AStA. Auch das kann der Wert einer Vorlesung sein. Das Erleben der Stimmung, die Auseinandersetzung mit anderen. Leuten, die gegen Anwesenheitspflichten klagen, so vermute ich, haben genau keine Ahnung von dem, was ich hier anspreche.
Wenn man das Spiel umdreht und einen Dozenten fragt – ich war sehr viele Jahre einer – ob es denn nicht enervierend sein könnte, Studierende in eine Veranstaltung zu zwingen, würde ich klar ja sagen. Niemand sollte gezwungen werden. Umgekehrt würde ich aber auch fordern, dass niemand einfach so die „Freiheit“ beanspruchen darf, zu kommen und zu gehen, wann er will. Entweder nimmt man als Teilnehmer teil oder man soll sich trollen. Ich möchte als Dozent nicht gezwungen sein, die Freiheit von anderen zu achten, um meine Freiheit einzuschränken. Wenn schon Freiheit, dann vernünftig.
Ich habe im Studium sehr, sehr gute „Lehrende“ an der Uni erlebt und auch den Sachzusammenhang zwischen schönem Wetter und Anzahl der Teilnehmer. Und das habe ich sehr früh selbst erlebt, als ich mir für einen meiner ersten Vorträge tagelang Mühe gegeben hatte. Ich war unerfahren und nervös. Als ich meinen Vortrag gehalten habe, waren kein Dutzend Kommilitonen anwesend. Draußen war es heiß, es war Nachmittag, der Badesee und ein Bier waren offenbar wichtiger als meine Anstrengung. Solidarität ist ein dehnbarer Begriff.
Später füllten sich die Ränge, weil meine Mitstudenten mitbekommen hatten, dass meine Vorträge „Unterhaltungswert“ hatten und nicht nur wissenschaftlich, sondern auch prüfungstechnisch relevant waren, weil ich wesentliche Punkte der wissenschaftliche Debatte thematisierte. Trotzdem gelang es nur, die wirklich Interessierten in die Veranstaltungen zu bringen. Irgendwelche anderen Typen traf man dann häufig im Nachtleben an irgendeiner Bar, die ihren Schmonzes loswerden wollten, was in aller Regel bei Anteilnahme ein Grund war, sich hemmungslos zu besaufen ob der Tragik dieser Welt. Ich bin froh, dass ich nicht an jedem Schicksal teilnehmen wollte.
Conclusio: Wie Herr Professor Puhl sehr verständig auf Anfrage unserer Mitarbeiterin Christin Rudolph mitteilt, ist es letztlich herzlich egal, woher man sein Wissen hat, ob aus dem Besuch einer Vorlesung oder einem „schlauen Buch“ (das eine gibt es nicht). Es geht um eine viel grundsätzlichere Frage, nämlich nicht die nach der absoluten Freiheit, sondern nach der Verantwortung, wie man mit Freiheit umgeht.
Freiheit ist auch immer Verantwortung. Im Fall von Prüfungen wird das schnell daran deutlich, ob man besteht oder nicht und damit belegt, dass man sich kundig gemacht hat.
Für manche bleibt nur der Weg der Klage. Ich musste nicht klagen. Ich war ein fleißiger Student, der das Leben genossen hat.
Wenn ich mich recht erinnere, haben nur 16 Prozent der Kommilitonen, die mit mir begonnen haben, abgeschlossen. Ich halte das für ein realistisches Ergebnis angesichts der mangelnden Studierbereitschaft. Wer die Freiheit nicht genutzt hat, soll sich bitte nicht beschweren.
Insofern ist diese Einzelklage eine Farce und der ASta wäre gut beraten gewesen, sich nicht als Fundamentalopposition zu verstehen, sondern mal ein paar Seminare zu Wissenschaftstheorie oder auch Philosophie zu besuchen.
Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber vielleicht würde dem ein oder anderen ein „Geist“ aufgehen.