Mannheim, 24. Juni 2017. (red/cr) Da sein oder nicht da sein – das ist die Frage, die sich Studierende ständig stellen müssen. Lohnt es sich, in die Vorlesung zu gehen oder liest der Dozent sowieso nur das Skript vor, das man eh nochmal durchlesen wird? Bei einigen Veranstaltungen haben Studierende jedoch keine Wahl, nämlich wenn eine Anwesenheitspflicht besteht. Wie genau diese aussieht, können einige Dozierende individuell festlegen. Für den AStA der Universität Mannheim ein Grundrechtseingriff, denn Studierfreiheit beinhalte auch das Recht auf Abwesenheit. Die Universität Mannheim beruft sich hingegen auf die Lehrfreiheit. Der Konflikt führte zu einer Klage vor dem VGH. Davon zeigt sich die Universität allerdings wenig beeindruckt.
Von Christin Rudolph
Das Recht, frei zu studieren, muss auch das Recht beinhalten, einer Veranstaltung fernzubleiben!
Das fordert der AStA (Allgemeiner Studierendenausschuss) der Universität Mannheim in einer Stellungnahme. Denn eine Anwesenheitspflicht verstoße gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit.

In diesem Gebäude der Universität (A5) ist unter anderem die Fakultät für Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie angesiedelt.
Die Universität hingegen sieht die Möglichkeit, Anwesenheitspflichten festzusetzen, als von der Lehrfreiheit der Dozierenden gedeckt. In Veranstaltungen mit „Seminar- und Übungscharakter“ würden Fähigkeiten erlernt, die im Selbststudium nicht zu erwerben seien.
Etwa, wie man einen wissenschaftlichen Diskurs führt, sich nach einem Referat den Fragen der Zuhörenden stellt und wie man in Gruppen arbeitet. In solchen Lehrformaten würde es daher allen schaden, wenn so wenige Studierende anwesend sind, dass eine Diskussion kaum möglich ist.
Weiter könnten die Positionen kaum auseinander liegen.
Grundsatzentscheidung statt individuellen Lösungen

Elena Klafsky war in der vergangenen Legislaturperiode AStA-Vorsitzende. Für die Klage ist sie weiterhin als Beauftragte zuständig. Foto: Christos
Sidiropoulos
Anwesenheitspflichten sind an der Universität Mannheim je nach Fachbereich oder Veranstaltungsform sehr unterschiedlich geregelt. Und ob in einem Kurs eine solche Regelung angewendet wird, entscheiden die Prüfenden individuell.
Dem AStA ist zwar nach eigener Aussage kein Fall bekannt, in dem jemand in einem Kurs aufgrund mangelnder Anwesenheit durchgefallen ist.
Vor einem guten Jahr wurde die Universität trotzdem verklagt. Denn man wolle nicht von der Kulanz einzelner Dozierender und Studiendekane abhängig sein, sondern eine Grundsatzentscheidung, begründete Elena Klafsky die Position des AStA. Sie war AStA-Vorsitzende der Legislaturperiode 2016/17 und ist hauptverantwortlich für die Klage.
Der AStA hätte am liebsten die Universität mit dem Ziel verklagt, Anwesenheitspflichten an allen baden-württembergischen Hochschulen als unrechtmäßig zu erklären.
Unterschiedlichste Praktiken
Allerdings ist das nicht möglich, weil die Verfasste Studierendenschaft als öffentliche Einrichtung in dieser Sache nicht selbst klagen kann. Eine Klage gegen die Universität gibt es trotzdem. Denn ein betroffener Studierender erklärte sich bereit, stellvertretend für den AStA zu klagen.
Dieser Studierende ist jedoch vor allem von der Regelung seines Studiengangs betroffen, der Politikwissenschaft. Daher geht es im Verfahren des Studierenden gegen die Universität Mannheim lediglich um den folgenden Satz aus der derzeitigen Prüfungsordnung für den Bachelor Politikwissenschaft:
Als Studienleistungen können auch die Präsenzpflicht sowie die hinreichende Teilnahme an Lehrveranstaltungen und Studien festgesetzt werden.
So können alle Dozierenden individuell Regelungen festsetzen. In der Praxis reicht das von „gar keine Anwesenheitspflicht“ über „man darf dreimal im Semester fehlen“ bis zu „man darf nur fehlen, wenn man einen wichtigen Grund wie etwa Krankheit mit einem Attest vorweisen kann“.
Kein Grundsatzurteil
Selbst wenn der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg dem Normenkontrollantrag folgt, wäre das nur ein Teilerfolg. Denn so wäre dieser eine Satz in dieser einen Prüfungsordnung an der Universität Mannheim für unrechtmäßig erklärt.
Frau Klafsky würde das trotzdem als großen Erfolg werten:
Das wäre ein starkes Zeichen dafür, dass die Verfasste Studierendenschaft eine starke Interessensvertretung für die Studierenden ist und nicht nur auf Hochschulebene Verbesserungen für die Studierenden erkämpfen kann.
Denn die Studierendenvertretung erhofft sich eine Signalwirkung für andere Studiengänge oder gar Universitäten:
Selbst wenn die Klage nicht in unserem Sinne ausgeht, ist sie trotzdem ein klares Zeichen an die Unileitung, dass die Verfasste Studierendenschaft den Willen und die Mittel hat, sich notfalls auch vor Gericht gegen Ungerechtigkeiten zur Wehr zu setzen. Das kann natürlich eine Ausstrahlwirkung auf künftige Entscheidungen haben.
Zwischenlösung möglich
Doch auch Frau Klafsky, die derzeit im vierten Semester des Jura-Masters studiert, schätzt die Chancen auf einen „Erfolg auf ganzer Linie“ als eher gering ein.
Wahrscheinlich sei zum Beispiel, dass Anwesenheitspflichten für bestimmte Veranstaltungen wie etwa Vorlesungen verboten werden. Oder, dass der VGH die Universität auffordere, die Regelung zu präzisieren. Diese Einschätzung entspricht teilweise der von Prof. Dr. Thomas Puhl:
Ich bin davon überzeugt, dass der VGH die Anwesenheitspflichten in Veranstaltungen keinesfalls im Sinne einer Schwarz-Weiß-Lösung komplett kippen wird. Für wahrscheinlich halte ich es, dass der VGH die Klage abweist. Falls er der Gegenseite aber zum Teil folgen sollte, dann sicher nicht in dem Sinne, dass es gar keine Anwesenheitspflichten an der Uni geben darf, sondern in der Richtung, dass eventuell die Situationen, für die sie festgesetzt werden können, genauer geregelt sein müssen.
Dr. Puhl ist Prorektor für Forschung und Lehre an der Universität Mannheim und selbst Jurist. Er relativiert die Sorgen des AStA: Grundsätzlich könne man jede rechtliche Norm möglichst verfassungswidrig auslegen.
Lehrenden Freiheit lassen

Professor Dr. Thomas Puhl, Prorektor für Studium und Lehre an der Universität Mannheim. Foto: Stefanie Eichler/Universität Mannheim
Was für die Universität zählt, ist die Praxis. Und in der werde immer auf die Verhältnismäßigkeit geachtet:
Ich brauche in meiner Vorlesung mit 300 Studierenden keine Anwesenheitspflicht. Da muss man am Ende die Klausur bestehen und ob Sie das aus einem schlauen Buch haben oder aus meiner Vorlesung, das ist mir ziemlich egal. Da würde ich sogar sagen, da wäre Anwesenheitspflicht verfassungswidrig. Das wäre ein unverhältnismäßiger Eingriff, weil er so sinnlos ist. Weil sich kein pädagogischer Nutzen daraus ergibt.
In anderen Veranstaltungen, so Dr. Puhl weiter, sei eine Anwesenheitspflicht jedoch sehr wichtig. Wenn eine Fakultät oder ein Dozierender meinen, man könnte so den Stoff am besten vermitteln, müsse die Universität ihnen diese Freiheit zugestehen.
Was angemessen ist, entscheiden also erst einmal die Lehrenden. So könne – und müsse – für jeden Kurs eine individuelle Regelung gefunden werden, so Dr. Puhl.
Universität bleibt entspannt
Wenn die Regelung zur Anwesenheitspflicht nicht „mit Augenmaß“ gehandhabt werde, müsse man eben mit dem entsprechenden Dozierenden reden.
Und falls das fruchtlos sei, gebe es schließlich immer noch die Instanzen darüber: Studiendekan und den Prorektor für Forschung und Lehre, Dr. Puhl.
Generell steht die Universität der Klage recht gelassen gegenüber. Dr. Puhl sagte:
Unter’m Strich glaube ich nicht, dass sich irgendetwas an der Praxis ändern wird. Ich glaube, der VGH weist die Klage ab oder er verlangt nur konkreter formulierte Satzungsregelungen als Grundlage einer Anwesenheitspflicht – rundum untersagen wird er solche Pflichten aber nicht. Am tatsächlichen Bestand von Anwesenheitspflichten in den einzelnen Studiengängen wird sich deshalb im Ergebnis nichts ändern.
Bisher keine „Leidtragenden“
Die Entscheidung des VGH wird in den kommenden Monaten erwartet. Ein Sprecher des Gerichts teilte auf Anfrage mit, es werde eine mündliche Verhandlung geben. Ein Termin dafür ist noch nicht festgesetzt.
In einem Punkt zumindest sind sich Rektorat und AStA einig: Im Gegensatz zu den Befürchtungen mancher Studierender habe sich wegen der Klage das Verhältnis zwischen der Universität und den Studierenden nicht verschlechtert.
Prorektor Dr. Puhl fasste die Sicht der Universität abwägend zusammen:
Die überraschende Klage war nicht förderlich für das Gesprächsklima; wirklich ruiniert hat sie es aber auch nicht.