Rhein-Neckar, 21. Juli 2020. (red/pro) Die Hochwasserfluten haben nicht nur zu enormen Zerstörungen in den betroffenen Gebieten im Ahrtal und in Nordrhein-Westfalen geführt – es sind auch 170 Menschen gestorben (aktueller Stand, 123 in RLP, 47 in NRW, noch werden viele vermisst). RNB-Redaktionsleiter Hardy Prothmann war 2004 auf der thailändischen Insel Phuket, als dort der bislang tödlichste Tsunami aller Zeiten zuschlug. Die meisten Menschen blieben namenlos – in Thailand konnten alle toten deutschen Touristen identifiziert werden. Durch spezialisierte Teams. Ob das auch für die Toten in Westdeutschland so organisiert wird, ist uns nicht bekannt.
Von Hardy Prothmann
Geschätzt 230.000 Menschen verloren am 26. Dezember 2004 ihr Leben – davon 165.000 in Indonesien, was aber kaum Thema in den Medien war, denn dort gab es so gut wie keine deutschen Touristen. Ebenso Indien wurde kaum thematisiert. Man konzentrierte sich auf Thailand und hier vor allem Phuket.
Ich war am 12. Dezember 2004 dorthin gereist, um mir eine fünfwöchige Auszeit zu nehmen und darüber nachzudenken, ob ich noch weiter journalistisch arbeiten wollte, denn schon damals gab es derart problematische Entwicklungen im Mediensystem, dass mir meine Arbeit immer weniger Freude machte. Warum Thailand? Weil dort schon lange ein Freund lebte und ich meine Reisen möglichst immer dorthin mache, wo ich jemanden kenne, der sich auskennt – damit sind die Reisen intensiver und ich erfahre mehr über Land und Leute.
Als der Tsunami die Küsten erreichte, befand ich mich auf einem Segelboot, rund drei Meilen vor der östlichen Küste von Phuket. Einem der sichersten Orte überhaupt. Die See war spiegelglatt, es ging kein Wind, der Tsunami rauschte unter uns durch.
Ab diesem Tag war ich bis zu 20 Stunden täglich im Einsatz für rund drei Dutzend Medien, darunter Der Spiegel und Focus, zahlreiche Zeitungen und ARD-Anstalten. Für den Focus habe ich die Arbeit des DVI, Disaster Victim Identification, beschrieben. Eine unglaublich harte Arbeit, die aber gemacht werden musste, damit die Familien ihre Toten zurückbekommen, um sie bestatten und trauern zu können. Die Luft roch ständig süßlich, durch die verwesenden Körper. Die Leichen waren durch die Hitze aufgebläht wie Luftballons, zischten, platzten und liefen aus.
Das tragische Unglück hat dazu geführt, dass ich weiter journalistisch tätig blieb. Auch damals hatten insbesondere die öffentlich-rechtlichen Anstalten insgesamt eine mehr als fragwürdige Arbeit geliefert.
Ein Beispiel: Damals wie heute wird immer wieder davon berichtet, dass die Menschen „ertranken“. Klingt logisch? Wasser-tot-also ertrunken? Das ist überwiegend falsch. Die meisten Menschen wurden erschlagen, durch Trümmer, die sie unter sich begruben oder durch Treibgut oder weil sie vom Wasser gegen irgendetwas geschleudert wurden.
Das Vachira Hospital in Phuket City war damals mit einer Höchstkapazität von rund 1.500 Personen ausgestattet, tatsächlich wurden alleine hier in der Spitze rund 5.500 Patienten versorgt. Pneumatische Verletzungen der Lunge gab es so gut wie keine. Stattdessen Knochenbrüche aller Art, Schädelfrakturen und Schnittwunden.
Hier der Text, damals Titelgeschichte im Focus 2/2004.
Ein Team des Bundeskriminalamts hilft beim größten rechtsmedizinischen Projekt der Geschichte
Der Tempel Wat Yan Yao ist eine Hochsicherheitszone. Wer ihn betreten will, benötigt einen Schutzanzug mit Haube, dazu Atemfilter, Sichtschutz, Stiefel. Die dicken Gummihandschuhe werden mit Klebestreifen am Anzug befestigt. Wer das Areal verlässt, muss durch ein Dekontaminierungsbad waten und wird danach mit Desinfektionsmittel abgespritzt. Im Akkord untersucht hier ein internationales Expertenteam seit Tagen die Leichen von Flutopfern. 1700 werden im Tempel von Wat Yan Yao aufbewahrt.
Dutzende von Kühlcontainern stehen auf dem Gelände, provisorisch sind Zelte und Unterstände aufgebaut. Ständig bringen große Kühl- oder Transportlastwagen Getränke und Nahrung und immer wieder neue Leichen. Es riecht nach Desinfektionsmittel und nach Abgasen, am schlimmsten ist der süßlich-beißende Geruch der Verwesung.
Das gravierendste Seebeben seit Menschengedenken zieht das größte Opfer-Identifizierungsprojekt der Geschichte nach sich. Es ist eine Arbeit, die jedem Außenstehenden unvorstellbar erscheint. Allein in den Tempeln in der Gegend um Khao Lak und hier in Takuapa lagern rund 4000 bereits stark verweste Körper. Spezialistenteams aus Kriminalbeamten, Gerichtsmedizinern und Zahnärzten examinieren die Leichen nach einem streng festgelegten Identifikationsprotokoll.
Auch das deutsche so genannte DVI-Team (Disaster Victim Identification) wurde immer wieder aufgestockt, mittlerweile arbeiten 47 Experten allein in Thailand. „Wir haben hier eine humanitäre Aufgabe“, sagt ihr Leiter, der 41-jährige Kriminaloberrat Jürgen Peter, „weil wir den sterblichen Überresten wieder einen Namen geben.“
Jede Leiche wird penibel untersucht
Seine Leute müssen sehr penibel vorgehen, jedes Detail einer Leiche kann den entscheidenden Hinweis liefern. Sie verzeichnen, wo der Körper geborgen wurde, falls dies überhaupt bekannt ist. Die Gegenstände, die an oder bei der Leiche gefunden wurden, werden mit Hilfe von Fotos dokumentiert. „Wir sammeln alles an Asservaten, was uns später weiterhelfen kann“, sagt Peter. „Dazu gehören beispielsweise Bekleidung oder Schuhe.“ Doch die Leichen von Takuapa tragen meist nur Badehosen oder Bikinis. Viele sind ganz nackt, weil die Menschen vom Wasser im Schlaf überrascht wurden.
Es folgt die äußere Leichenschau. Die Spezialisten achten darauf, ob alle Gliedmaßen vorhanden sind. Sie registrieren geschätztes Alter, ungefähre Größe, Körperbau, Wuchs und Farbe der Haare, Besonderheiten wie Wellung und Strähnen. Narben, die trotz des Zustands der Körper gut zu erkennen sind, bieten wichtige Anhaltspunkte: „Hüftnarben etwa deuten auf künstliche Gelenke hin. Narben im unteren Rückenbereich können wir gleich als Nierenoperationen erkennen“, erklärt der Münchner Gerichtsmediziner Oliver Pechel.
Dann nehmen sie die Fingerabdrücke. Wenn die Körper in einem zu stark verwesten Zustand sind, müssen die Experten die Haut von den Fingerkuppen lösen und auf ihre Handschuhe legen. An den Seziertischen dominiert konzentrierte Ruhe. Vier bis sechs Forensiker arbeiten an der Erfassung der Daten. Der Mundraum wird gespült, zwei Zähne werden gezogen, eine Knochenprobe entnommen, die der DNA-Analyse dient.
Obduktion
„Je besser der Zahnstatus durch Zahnärzte und Labors dokumentiert ist, desto mehr Hinweise haben wir“, erklärt Leiter Jürgen Peter. „Soweit es möglich ist, nehmen wir auch Gebissabdrücke. Gerade prothetische Arbeiten sind hoch individuell und lassen sich gut vergleichen.“
Schließlich die Körperöffnung. Gab es eine Operation an Organen, fehlen Blinddarm oder Gallenblase? „Angesichts der Masse der Leichen können wir allerdings keine komplette Obduktion vornehmen, wie es nach der Strafprozessordnung nötig wäre“, sagt Oliver Pechel. Wenn die Experten einen Schnitt am Körper ansetzen, müssen sie sich wegdrehen. Methan und Schwefelwasserstoff entweichen. Wegen der Explosionsgefahr herrscht auf dem gesamten Gelände striktes Rauchverbot. Zwischen 30 und 60 Minuten dauert eine Untersuchung.
Der Auftrag stellt höchste Anforderungen an das Team des BKA und die Kollegen aus insgesamt 20 Ländern. Alle haben sich freiwillig für diese Einsätze gemeldet und eine Spezialausbildung erhalten. Die hinzugezogenen externen Spezialisten sind Ärzte und Zahnärzte forensischer Institute. „Jeder, der behauptet, er komme mit allem zurecht, lügt“, sagt Peter. „Wir sind ganz normale Menschen.“ Wer möchte, kann Einzelgespräche mit einem Psychologen führen.
„Eigentlich sind hier alle überfordert“, gesteht die bekannte thailändische Gerichtsmedizinerin Khunying Porntip Rojanasunan, die das Projekt vor Ort leitet. „Am Anfang haben wir die Kennziffern der untersuchten Opfer auf Zetteln beigelegt. Die Desinfektionsmittel haben die Schrift auf den Zetteln zerstört. Das ist ganz schön frustrierend.“ 600 bereits katalogisierte Leichen müssen nun noch einmal untersucht werden.
Eine Alternative gibt es nicht
Rojanasunan kämpft auch mit ganz alltäglichem Chaos, das an diesem Ort eine bizarre Note bekommt: Fünf unterschiedliche Speiseeis-Hersteller haben Kühlboxen mit ihren Produkten gestiftet. Einer aber will sein Eis nicht neben dem eines anderen aufstellen und beschwert sich bei der Medizinerin. „Stell es daneben oder nimm es wieder mit“, seufzt Rojanasunan.
Es ist heiß in den Schutzanzügen. Länger als zwei Stunden hält es darin kaum jemand aus. In zwei Schichten arbeitet das deutsche Team, von sieben bis drei Uhr nachmittags und dann noch einmal bis zehn Uhr abends. Immer noch werden viele Deutsche unter den Opfern vermutet, und manche Angehörige recherchieren vor Ort auf eigene Faust. „Die Annahme, sie könnten ein Opfer beispielsweise an der Uhr oder anderen Utensilien erkennen, ist ein Trugschluss“, warnt Oliver Pechel. Auch Jürgen Peter warnt: „Ein einzelner Befund ist praktisch nie ausreichend.“ Das Problem sei, so Pechel, dass Angehörige sich danach sehnten, „endlich einen Toten identifizieren zu können, damit sie ihrer Trauer freien Lauf lassen können“. Alle Kriterien müssen übereinstimmen, weil sonst keine zweifelsfreie Zuordnung möglich sei, betont Peter. „Die Angehörigen müssen auf unsere Arbeit vertrauen. Eine Alternative gibt es nicht.“
„Die Angehörigen müssen auf unsere Arbeit vertrauen. Eine Alternative gibt es nicht“ Jürgen Peter, Bundeskriminalamt