Mannheim/Rhein-Neckar, 13. Januar 2018. (red/pro) Zwischen zwei Jahren und neun Monaten und acht Jahren und sechs Monaten Haft forderte die Staatsanwaltschaft am Mittwoch als Strafen gegen sechs heranwachsende Schläger, die in unterschiedlichen Konstellationen an einer gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit Raub in einer Straßenbahn und an einer gefährlichen Körperverletzung in einer OEG-Bahn beteiligt waren. Die Verteidiger plädierten fast überwiegend für Jugendstrafen auf Bewährung.
Von Redaktion
Die Polizeipräsenz zeigt Wirkung. Am 12. Verhandlungstag gibt es keine Tumulte, das Verfahren läuft ruhig. Nach und nach füllen sich die Zuschauerränge. In den Pausen postieren sich Polizeibeamte vor Familienangehörigen und Freunden der Angeklagten. Die Botschaft ist eindeutig – der Gerichtssaal gehört nicht den sich zuvor teils sehr aggressiv auftretenden Zuschauer.
Zwei Tatkomplexe
Der Vorsitzende Richter Dr. Joachim Bock erklärte die Beweisaufnahme für abgeschlossen. Oberstaatsanwalt Frank Höhn, stellvertretender Leiter der Staatsanwaltschaft Mannheim und zuständig für die Jugendabteilung, referiert nochmals die Tatkomplexe:
Im Februar 2017 kam es in einer S-Bahn zu einer gefährlichen Körperverletzung mit Raub. Hier gebe es dank einer Videoaufzeichnung ein klares Bild vom Tatgeschehen, Geständnisse seitens der Angeklagten Furkan D., Jermaine L., Özcan K. und Eyyüpcan P. liegen vor. Letzter war zur Tatzeit 17 Jahre alt, die anderen 18 Jahre alt.
Im März 2017 kam es einer gemeinschaftliche gegangenen Körperverletzung durch Furkan D., Jermaine L., Taufik M., Filmon N. und Eyyüpcan P. zum Nachteil des Mehmet E.. Zusätzlich sei Jermaine L. ein versuchter Totschlag vorzuwerfen, da der Angeklagte durchaus wusste, dass Tritte gegen den Kopf eines Menschen tödlich sein können. Zum Tathergang gibt es keine Videoaufzeichnungen, da die Anlage defekt war. Bei der Analyse und Beurteilung war man gänzlich auf die Angaben des Geschädigten und der Zeugen angewiesen. Deren Schilderungen waren teilweise widersprüchlich, was aber wohl der Dynamik des Geschehens geschuldet war, sowie der im Anschluss daran erfolgten Kommunikation über sozialen Medien. Abweichungen in der Wahrnehmung und Erinnerung seien daher nicht ungewöhnlich.
Es gab während der Plädoyers keine Zwischenrufe oder Kommentare seitens der Angeklagten oder des Publikums. Lediglich Taufik M. bat nach Abschluss des Plädoyers des Oberstaatsanwaltes darum, etwas erwidern zu dürfen. Der Vorsitzende Richter erklärte ihm ausgesprochen höflich, dass er Gelegenheit haben werde sich zu äußern, allerdings müsse eine bestimmte Reihenfolge eingehalten werden. Seine Bitte werde notiert und er werde auf jeden Fall eine Erklärung abgeben können. Taufik M. gab sich damit zufrieden.
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Zu bemängeln seien, so der Oberstaatsanwalt, die „Gedächtnisstörungen“ einiger Zeugen, die bei ihrem jeweiligen Auftritt äußerst nervöse Blicke zu Publikum und Angeklagten geworfen hätten. Angeblich fühlten sie sich bei den Vernehmungen von der Polizei unter Druck gesetzt, weswegen auch die Verteidigung im Verhandlungsverlauf versucht hatte, die polizeilichen Vernehmungen in Frage zu stellen. Es gebe nach Ansicht der Staatsanwaltschaft jedoch keinerlei Anhaltspunkte für etwaige Versuche von Beeinflussung der vernommenen Zeugen. Im Gegenteil hätten die Zeugen durchaus bestätigt, dass ihre bei der Polizei gemachten Angaben korrekt waren. Die Erinnerungslücken in der Verhandlung seien möglicherweise einem zeitlichen Abstand geschuldet.
Der Beginn des Geschehens in der OEG (Linie 5 der RNV) stellt sich aus Sicht der Staatsanwaltschaft klar dar: Der Geschädigte Mehmet E. stand alleine gegen eine ganze Gruppe. Dass er in dieser Situation auf eine körperliche Auseinandersetzung aus war, sei äußerst unwahrscheinlich. Dass es im Verlauf des Geschehens Sprünge in Richtung des Kopfes des Geschädigten gegeben habe, hält die Staatsanwaltschaft für wahrscheinlich, dies sei auch von einem der Angeklagten bestätigt worden. Allerdings könne, abweichend von der Anklageschrift, nicht mehr davon ausgegangen werden, dass Taufik M. gesprungen sei. Ob Jermaine L. beabsichtigt habe auf den Kopf des Geschädigten zu springen, sei ebenfalls unklar.
Der Staatsanwalt schildert nochmals den Ablauf, soweit er sich rekonstruieren ließ. Alle Angeklagten waren zum Tatzeitpunkt alkoholisiert, aber weit von einer Schuldunfähigkeit entfernt, auch waren alle am Geschehen beteiligt. Der Geschädigte erlitt massive Verletzungen. Eine Nasen-Operation stehe noch aus, zudem leidet er unter Angstzuständen und wird therapeutisch betreut.
Hohe Haftstrafen ohne Bewährung gefordert
Oberstaatsanwalt Höhn plädierte auf folgende Haftstrafen:
– Furkan D.: 4 Jahre, 6 Monate (Jugendstrafrecht ist anwendbar)
– Jermaine L.: 6 Jahre Jugendstrafe unter Einbezug des Urteils aus Bensheim (gilt als Hauptaggressor, hat ein Geständnis abgelegt)
– Özcan K.: 2 Jahre, 9 Monate (führende Rolle bei S-Bahn)
– Taufik M.: 8 Jahre, 6 Monate unter Einbezug der noch zu verbüßenden Strafe von vorher (nicht bei S-Bahn beteiligt, war zum Tatzeitpunkt in der OEG jedoch gerade mal seit zwei Monaten auf Bewährung wieder frei gewesen. Er hat im Gegensatz zu allen anderen Angeklagten keinerlei Angaben zum Tatvorwurf gemacht. Der Staatsanwalt äußerte sein besonderes Bedauern bei Taufik M., da dieser viele Talente habe)
– Filmon N.: 3 Jahre, 9 Monate Jugendstrafe unter Einbezug eines vorherigen Urteils von 1 Jahr, 6 Monaten (war zum Tatzeitpunkt noch jugendlich, auch nicht bei S-Bahn beteiligt, allerdings gerade auf Bewährung frei wegen einer Körperverletzung im November 2016 ebenfalls in einer OEG-Bahn.)
– Eyyüpcan P.: 4 Jahre, 6 Monate Jugendstrafe (war zum Tatzeitpunkt noch jugendlich, hat beide Geschehen bestätigt und sich bei einem Täter-Opfer-Gespräch entschuldigt, allerdings war er überall hauptverantwortlich beteiligt)
Kritik des Nebenklägers
Auf Wunsch eines der Angeklagten gibt es nach Abschluss des Plädoyers durch den Oberstaatsanwalt eine 15-minütige Pause. In dieser Zeit unterhielten sich drei jugendliche Zuhörer über die geforderten Sanktionen. Der Oberstaatsanwalt hatte bei allen Angeklagten stets auf den erforderlichen „Erziehungsbedarf“ während des Vollzugs hingewiesen. Nach Meinung dieser drei Zuschauer sind die Angeklagten aber „doch schon fertig mit der Erziehung“, „zu alt“ um noch erzogen zu werden. Die Angeklagten selbst wirken eher unbeeindruckt von den geforderten Strafmaßen.
Der Vertreter der Nebenklage, Anwalt von Mehmet E, betonte nochmals die Folgen der Verletzungen des Geschädigten und hebt hervor, dass dieser nur deshalb nicht tödlich verletzt wurde, weil es ihm gelungen sei, sich selbst zu schützen und nicht etwa, weil die Angeklagten von ihm abgelassen hatten. Er zeigt sich von den Geschehnissen während der Verhandlung enttäuscht, erwähnt das höhnische Verhalten der Zuschauer und die fehlende Reue der Angeklagten. Nur Filmon N. hätte sich schriftlich entschuldigt, die Mutter von Taufik M. hätte den Geschädigten sogar noch außerhalb des Gerichtssaals bedroht. Er bemängelt, dass der Geschädigte teils so dargestellt worden sei, als trage er sogar selbst Schuld, er hätte sich ja nicht einmischen müssen. Er kritisiert weiterhin, dass versucht worden sei die Rolle von Taufik M. abzuschwächen. Eigene konkrete Strafanträge stellt er keine.
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Die Plädoyers der Verteidigung
Rechtsanwalt Bülent Döger (Furkan D.)
Er glaubt, dass die Staatsanwaltschaft der Öffentlichkeit das Sicherheitsgefühl zurückgeben will. Seiner Ansicht nach ist das Publikum schuld daran, dass die Stimmung während der Verhandlung kippte. Er weist darauf hin, dass nur die Aussagen seines und eines weiteren Angeklagten letztlich zur Klärung beigetragen hätten. Außerdem seien die Verletzungen des Geschädigten heilbar. Er fordert für Furkan D. 2 Jahre Jugendstrafe auf Bewährung und weist darauf hin, dass sich sein Mandat bereits seit 10 Monaten in U-Haft befindet.
Rechtsanwältin Susanne Bauknecht (Jermaine L.)
Sie glaubt, dass die Medien am Kippen der Stimmung schuld seien und geht noch einmal ausführlich auf das Leben ihres Mandanten ein. Sie betrachtet ihn auch heute noch als ein Kind. Jermaine L. kenne keine Führung durch eine Familie, hatte nie Halt, erlebte Gewalt bereits in der Kindheit und erfuhr Anerkennung nur durch seine Freunde. Die Folge: Kein Schulabschluss, Alkohol, Drogenprobleme. Während der Verhandlung habe er alles zugegeben, nichts ausgelassen. Sie weist darauf hin, dass man den Tatkomplex S-Bahn teilen müsse. Bei der Körperverletzung im Zug sei er beteiligt gewesen, mit dem Ablauf in der Toilette (Raub) hatte er aber nichts zu tun. Beim Tatkomplex in der OEG habe sich ihr Mandant von der Zivilcourage des Geschädigten provoziert gefühlt. Durch die Gruppendynamik sei es letztlich zu der gefährlichen Körperverletzung gekommen, aber Jermaine L. habe den Geschädigten zu keinem Zeitpunkt tödlich verletzen wollen, weswegen sie den Vorwurf des versuchten Totschlags zurückweist. Auf eigene Initiative habe er zwischenzeitlich ein Antiaggressionstraining absolviert. Auch sie sieht den Erziehungsbedarf, fordert 4 Jahre mit Freigang, um eine Ausbildung absolvieren zu können.
Rechtsanwalt Ekkart Hinney (Özcan K.)
Er macht darauf aufmerksam, dass Jugendstrafrecht als Erziehungsstrafrecht, das Begleichen einer Schuld also nicht vorrangig zu betrachten sei. Das Wiederherstellen des Sicherheitsgefühls der Allgemeinheit, das er den Argumenten des Oberstaatsanwalts entnommen habe, hält er als Ziel für bedenklich. Sein Mandant Özcan K. war beim Geschehen in der S-Bahn inklusive dem Raub in der Zugtoilette beteiligt und sei sich der Tat heute auch bewusst. Allerdings müsse man seine Rolle genauer betrachten. Er sei zunächst ein beobachtender Unbeteiligter gewesen und habe dann einen gezielten Schlag ausgeführt, bevor er sich wieder zurückzog. Dies mache deutlich, dass er zur Gruppe gehören wollte. Den Jugendstrafvollzug als Maßnahme halte er für ungeeignet und kritisiert die Zustände in den Jugenstrafanstalten. Eine Strafe auf Bewährung sei wünschenswert. Er habe im Verlauf der Hauptverhandlung festgestellt, dass ein „Nachreifungsprozess“ bei seinem Mandanten begonnen habe. Ziel solle daher nicht der Vollzug sein, sondern ein Sozialtraining in Kombination mit einer längerfristigen BTM-Behandlung inklusive regelmäßiger Drogenscreenings, Unterstützung bei seinem Wunsch den Schulabschluss nachzubessern (Carlo-Schmid-Schule) und Bewährungshilfe. Er fordert eine Strafe von 2 Jahren zur Bewährung auszusetzen, falls dies nicht möglich sein sollte, zunächst ein halbes Jahr Vorbewährung, um zu zeigen, dass sein Mandant bewährungswürdig ist.
Rechtsanwältin Kathrin Biereder-Groschup (Filmon N.)
Sie schließt sich den Ausführungen von Herrn Hinney an. Auch bei ihrem Mandanten Filmon N. sei eine Entwicklung angestoßen worden. Er habe ein Geständnis abgelegt, sich per Brief entschuldigt. Gerne hätte er sich auch persönlich beim Geschädigten entschuldigt, was aber nach den Tumulten nicht mehr möglich war. Im Gegensatz zur Darstellung des Oberstaatsanwalts interpretiert sie die Aussage der Bewährungshelferin dahingehend, dass er seine Auflagen „eigentlich zufriedenstellend“ erfüllt habe. Zwar seien die Arbeitsstunden noch nicht erbracht, doch dazu hätte er noch Zeit, dies müsse nicht negativ ausgelegt werden. Bei der Hauptverhandlung habe er sich klar geäußert, seine Aussage bei der Polizei somit bestätigt und damit auch in Kauf genommen, dass er sich gegen die Mitangeklagten gestellt hatte. Er nehme keine Drogen mehr, der Nachweis hierfür sei erbracht. Sie fordert eine gesonderte Jugendstrafe (also ohne Einbeziehung des vorherigen Urteils) auf Bewährung.
Rechtsanwalt Stefan Allgeier (Eyyüpcan P.)
Er macht nochmals die Motive des S-Bahn-Geschehens deutlich. Die Angeklagten dachten eigentlich, dass der dort Geschädigte im Besitz von BTM war (alle hatten Drogenprobleme). Als sie feststellten, dass dies nicht der Fall war, entwendeten sie ihm stattdessen das Handy. Sein Mandant Eyyüpcan P. habe die Toilette noch vor dem Raub wieder verlassen. Zwar habe er den Raub zugelassen, sei aber nicht aktiv beteiligt gewesen. Entgegen der Auffassung des Oberstaatsanwalts sei er beim OEG-Geschehen keiner der führenden Köpfe gewesen. Er sei hinzugekommen als der Tumult bereits im Gange war, sei hingefallen und habe dann um sich geschlagen, aber nicht getreten. Sein Verhalten entspreche dem eines Mitläufers. Auch Herr Allgeier geht noch einmal auf das Sicherheitsbedürfnis der Öffentlichkeit und die Rolle der Medien ein. Seiner Ansicht nach erhielt das Geschehen erst durch die wiederholte Berichterstattung eine besondere mediale Bedeutung mit der Auswirkung, dass das Sicherheitsgefühl der Allgemeinheit leide. Ohne diese Berichterstattung würde die Bevölkerung sonst nicht so empfinden. Als Pluspunkte für seinen Mandanten benennt er dessen Geständnis, das erfolgte Schlichtungsgespräch, den Umstand, dass er als einziger nicht vorbestraft ist und noch nie vor einem Gericht gestanden hat (Anm. d. Red.: Tatsächlich gibt es ein weiteres Verfahren wegen einer Körperverletzung und Raub in einer Straßenbahn aus dem September 2017 – dies dürfe nach Meinung des Anwalts aber nicht in das jetzige Urteil einfließen). Seine Tatbeteiligung sei der Enthemmung durch den Alkohol geschuldet. Seine bisherige U-Haft habe er sinnvoll genutzt. In Ravensburg habe Eyyüpcan P. eine Ausbildung begonnen, außerdem habe er aus eigenem Antrieb ein Antiaggressionstraining absolviert. Die Haftbedingungen seien schwierig für ihn, da er in Ravensburg keinen Besuch erhalten durfte und ihm seine Familie wichtig sei. Herr Allgeier beschreibt noch einmal das Leben seines Mandanten. Er habe eine schwere Kindheit gehabt, mit früher Gewalterfahrung durch den Vater, Heimaufenthalte, also habe er nie „eine richtige Familie“ erlebt (Anm. d. Red.: Das steht im Widerspruch zu Einschätzung der hohen Bedeutung der Familie für den Angeklagten). Akzeptanz habe er erstmalig in der Gruppe erfahren, er habe mitgemacht, um nicht wieder ausgeschlossen zu werden. Letztlich schuld sei die Gruppendynamik. Er fordert eine Jugendstrafe von 2 Jahren, beantragt allerdings keine Bewährung wegen des noch schwebenden anderen Verfahrens.
Am Mittwoch, 17. Januar um 9.00 Uhr wird die Verhandlung fortgesetzt mit dem letzten Plädoyer (Taufik M.) durch Rechtsanwalt Thorsten Schulte-Günne. Danach könnte es zum Urteilsspruch kommen.
Lesen Sie zum Thema unseren Kommentar: Wie realitätsfern dürfen Strafverteidiger sein?
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